Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

Überbleibsel der elterlichen Erfahrungen fühlen, die etwas
aktiv erlebt haben – oder wie in meinem Fall aktiv erlitten.
Hatten Sie Gewissensbisse, als Sie in Ihrem ersten Roman,
»Lektionen des Verborgenen«, das selbst gewählte Schweigen
Ihrer Eltern brachen, um über sie schreiben zu können?
Nein. Auch ich habe ein Recht zu sprechen, eine Stimme, die
zählt. Aber es war mir schon wichtig, dass Mutter mit dem
Buch umgehen konnte. Und das konnte sie. Sie hat sogar
ein paar ihrer Freundinnen abgefertigt, die sagten, was für
eine undankbare Tochter sie doch habe, die sie nun schlecht
dastehen lasse. Mutter hat sich gefreut, dass ihre Tochter es
zu was gebracht hat. Und sie hat es gewürdigt, dass man sich
ihrer verschollenen Vergangenheit annimmt. Mutter konnte
brutal sein, aber sie war auch ein ehrlicher Mensch.
Sie sind aufgewachsen mit dem Mantra, man dürfe keine
Fehler machen, weil Fehler tödlich sein können. Erlauben
Sie sich selbst welche?
Ja. Ich bin überhaupt nicht perfektionistisch. Meine Dis zi­
plin beschränkt sich ausschließlich aufs Schreiben.
Wie sind Sie selbst als Mutter? Genauso oder anders?
Ganz anders. Ich habe immer versucht, eher das Gegen­
teil zu machen: wenig Druck, wenig Kontrolle, wenig
Angst – zumindest habe ich versucht, meine Angst nicht
zu übertragen.
Und, ist es gut gegangen?
Sagen wir so: Größere Katastrophen sind bisher nicht ein­
getroffen.
Hegen Sie Groll Ihrer Mutter gegenüber?
Nein. Nicht mehr.
In »Lektionen des Verborgenen« schreiben Sie sehr ehrlich
über Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern. Der Roman erinnert
ein bisschen an Art Spiegelmans Comic »Maus«, in dem er
seine Eltern zu Figuren machte.
Lustigerweise sind wir wohl entfernt verwandt mit den
Spiegelmans. Deren Geschichte spielt ja in Sosnowiec, auch
das Ghetto von Zawiercie, das ganz in der Nähe lag und in
dem Mutter war, wird in Maus erwähnt. Der große Bruder
meines Vaters hat mit seiner Frau in Sosnowiec gelebt, deren
Familie war wohl verwandt mit der Spiegelmans. Ich habe
jetzt übrigens Hunger, Sie auch? Soll ich uns was kochen?


Janeczek geht vor in die Küche. Sie wirft mit Radicchio ge­
füllte Ravioli in siedendes Wasser und brät Salbei in Butter
an. Sie erzählt, dass ihre Mutter zwar das Polnische versteck­
te, aber sehr gern polnisch kochte. Buchweizengrütze, Bigos
und alle möglichen Suppen. Die mit Sauerampfer mochte
Janeczek am liebsten.


Ihre ersten Gedichte, die bei Suhrkamp erschienen sind,
haben Sie auf Deutsch geschrieben, Ihre Romane dann
auf Italienisch. Wie ist das, wenn man als Schriftstellerin
plötzlich die Sprache wechselt?
Der erste Roman kam fast von selbst. Ich fing an, ein paar
Notizen auf Italienisch zu schreiben, auch um sie Bekann­
ten und Freundinnen vorlesen zu können. Dann erst habe


ich gemerkt, das könnte ein Buch werden. Es war schön
und befreiend, trotz der Thematik. Die Tatsache, dass ich
auf Italienisch schrieb, hat geholfen. Das schuf Distanz.
Ihr neuestes Buch, »Das Mädchen mit der Leica«, das nun
auch auf Deutsch herauskommt, beschreibt die Welt der
fast vergessenen Kriegsfotografin Gerda Taro. Wie sind Sie
auf sie gestoßen?
Ich habe sie entdeckt, als ich in Mailand eine Fotoausstellung
besuchte, von Robert Capa, dem großen Kriegsfotografen
des 20. Jahrhunderts, dessen Agentin und Partnerin sie war.
Und plötzlich hingen da auch sehr viele Fotos von ihr, sehr
gute, sehr eigene Fotos. Mich hat Gerda Taro sofort gepackt.
Eine Jüdin aus Stuttgart, die 1933, mit Anfang zwanzig, von
den Nazis verhaftet worden war, weil sie antifaschistische
Plakate geklebt hatte. Sie kam frei, floh nach Paris und zog
später, zusammen mit Capa, in den Spanischen Bürgerkrieg,
um ihn fotografisch zu dokumentieren.
Sie beschreiben Gerda Taro durch die Erinnerung ihrer
Freunde, zweier Männer und einer Frau. Alle drei lässt die
Erinnerung an Taro nicht los.
Ich wollte wissen, was von einem Menschen bleibt, der
einem einmal sehr nah war. In diesem Fall: sehr viel. Als
ich an dem Buch arbeitete, war gerade meine Mutter
gestorben. Über Gerda als Figur nachzudenken war ein
guter Weg, meine Trauer zu verarbeiten und mit ihr gleich­
zeitig etwas Schönes rüberzubringen. Erst beim Schreiben
habe ich begriffen, dass Robert Capa und Gerda Taro mei­
nen Eltern sehr ähnlich waren. Das hat mich fasziniert.
Wie war Gerda Taro?
Sie passte in überhaupt keine Schablone! Ihre Biografin
Irme Schaber hat das schon vor mir sehr genau rekon­
struiert. Einerseits war sie Frau, Jüdin und Kommunistin


  • trug also für damalige Zeiten eine dreifache Bürde. Dann
    war sie aber auch ein typisches Mädchen der Dreißiger­
    jahre. Eine, die in europäischen Großstädten sehr eman­
    zipiert lebte. Sie war lebenslustig, mutig und etwas kokett.
    Deshalb hat man sie sicher auch oft unterschätzt. Und sie
    hatte wohl auch Seiten, die nicht so sympathisch waren: Sie
    konnte sich nicht so gut auf andere einlassen, war wenig
    rücksichtsvoll oder empathisch. Was ja auch interessant ist.
    Dass eine Frau es mal nicht ist.
    Sie starb 1937, da war sie 27 Jahre alt, sie wurde in Spanien
    bei einem Unfall von einem Panzer überrollt. An ihrem Be-
    gräbnis in Paris nahmen 100.000 Menschen teil, darunter
    der Fotograf Henri Cartier-Bresson, der Reporter Egon
    Erwin Kisch und der Dichter Pablo Neruda. Dann geriet
    Gerda Taro in Vergessenheit. Warum?
    Ihre jüdische Familie kam im Krieg um, sie hatte keine
    Erben, die sich um ihren Nachlass kümmern konnten. Und
    außerdem ist Robert Capa dann so wahnsinnig berühmt
    geworden. Für sie war da kein Platz. Dazu muss man sagen,
    dass Copyright in der Fotografie vor dem Krieg noch kein
    Thema war. Manchmal ließ Taro auch bewusst ihr Foto
    unter seinem Namen veröffentlichen, weil es dann besser
    platziert oder bezahlt wurde.


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