Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Weiß jemand, wer das Deutsche eigentlich erfunden hat? Kann
man das irgendwie eingrenzen? Hat sich jemand damit hervorge-
tan? Ich erfrage das für meine Tochter Juli. Sie setzt sich seit einigen
Monaten intensiv mit dieser Sprache aus ein an der. Vor allem, weil
sie nun in die Schule geht. Und dort heißt eines der wichtigsten
Fächer: Deutsch. Juli war sich zunächst einmal nicht ganz sicher,
ob dieses Unterrichtsangebot für sie überhaupt verpflichtend sei:
»Ich kann doch schon Deutsch, dann muss ich da ja eigentlich gar
nicht mehr hin!« Ich sagte, es komme darauf an, Deutsch nicht nur
sprechen, sondern auch schreiben zu können. Das ließ sie nicht
gelten, denn schreiben könne sie doch auch, ihren Namen nämlich.
Und »Mama«. Für meine Tochter sind das die beiden Wörter, auf
die es im Wesentlichen ankommt.
Die Information, dass sie sich auf etliche Jahre Deutsch-Unterricht
würde einstellen müssen, nahm sie einigermaßen gelassen hin. In
Deutsch, so wurde es Juli bald klar, geht es nicht nur um Lesen
und Schreiben, es geht auch um das Wohnen. Buchstaben wohnen
nämlich. Das Haus der Buchstaben besteht aus dem Wohnzimmer,
dem Oberstübchen und dem Keller. Diese drei Wohnräume sind
durch drei Linien in ihrem Schreibheft umgrenzt. Ein kleines a,
aber auch ein e, i oder auch das m wohnen nur im Wohnzimmer.
Ein großes A hingegen wohnt im Wohnzimmer und im Ober-
stübchen. Ein in Schreibschrift geschriebenes großes G wiederum
nimmt das Wohnzimmer, das Oberstübchen und den Keller in An-
spruch. Wenn Juli sich Mühe gibt, dann sind alle Buchstabenteile
fein säuberlich auf ihre Wohnbereiche aufgeteilt. Wenn sich unsere
Tochter jedoch keine Mühe gibt (und das kommt durchaus vor),
dann sehen die Buchstaben so aus, als seien sie im Obergeschoss
ausgerutscht, die Treppe heruntergefallen und mit einigen Bles-
suren im Keller gelandet. Juli findet allerdings, dass dagegen die
Buchstaben ihrer Eltern allesamt so aus sehen, als hätten sie gar kein
Zuhause und müssten im Freien schlafen.
Was Juli aufregt: wie kompliziert es ist, einen Stift zu halten. Mit
drei Fingern nämlich. In der Schule hat man ihr das so erklärt: Papa
(Zeigefinger) und Mama (Mittelfinger) halten den Stift, die Oma
(Daumen) hilft mit, den Stift über das Papier zu schieben, die Kin-
der (Ringfinger, kleiner Finger) müssen nichts machen – außer das
Kind Juli. »Und wem wird dann beim vielen Schreiben die Hand
steif? Mir!«, schimpft sie. Dabei schreibt Juli durchaus schon für
den Eigenbedarf. Neulich hat sie ihrer Mutter den ersten Brief ge-
schrieben. »WER MEIN ZMR AUFREUM WIL, MUS DRAUSN
BLEIM!« Sie mag es eben nicht besonders, wenn man ihr helfen
will, ihr Zimmer aufzuräumen. Alle haben den Brief verstanden,
also muss er auch richtig geschrieben sein, oder? Jedenfalls richtiger
als die Wörter, die Juli so lesen muss. Beim Lesen fallen ihr nämlich
lauter Merkwürdigkeiten auf: Da ist immer wieder ein Buchstabe
ß zu sehen, der aussieht wie ein B mit Bauchschmerzen, aber »ssss«
gesprochen wird. Und warum hört sich das »ch« bei »Licht« ganz
anders an als bei »Loch« und noch mal anders bei »Lachs«? Und
warum hören sich »ai«, »ey« und »ei« genau gleich an? Hätte man
das vielleicht mal auf Schlüssigkeit überprüfen können, bevor man
es Kindern vorsetzt? Ich kann darauf schwer eine Antwort geben, so
wenig wie auf ihre Frage »Wer hat eigentlich Deutsch erfunden?«.
Den würde Juli nämlich gerne mal treffen: »Der kriegt Kloppe!«

Prüfers Töchter MEINE 6-JÄHRIGE

Juli ist 6 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier
im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 2 0, 14 und 12 Jahren

»Wer hat Deutsch


erfunden?«


Illustration Aline Zalko

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