Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Die Zahl der mit dem Coronavirus
Infizierten steigt (unten),
Aktienkurse und Preise fallen (oben)

Das Coronavirus trifft
die Wirtschaft und
verlangsamt den Seehandel

Zahl der gemeldeten
Corona-Infizierten
weltweit

Zahl der gemeldeten
Corona-Infizierten in
einzelnen Ländern

Virus versus


Weltwirtschaft


betrug der Rückgang der
Autoverkäufe im
Januar 2020 in China
im Vergleich zum
Vor ja h r

–20 %


Z E I T-GRAFIK: Doreen Borsutzki/
Quellen: BBC, Bloomberg, Worldometer
(Zahlen Stand 25. 2. 2020, 21 Uhr)




    1. 2020
      580 Fälle
      11. 2. 2020
      45.134 Fä lle





    1. 2020
      80.088 Fälle




Italien:
323 Fälle

»Diamond Princess«
(Kreuzfahrtschiff ):
691 Fälle

Deutschland:
17 Fälle

Österreich:
2 Fälle

Frankreich:
14 Fälle

China:
77.666 Fälle

BDI Baltic Dry Index
(bemisst die Verschiffungskosten
wichtiger Rohstoffe und gilt deshalb
als Frühindikator für die
Entwicklung des Welthandels)
in Punkten

–48,16
%

FTSE MIB
(italienischer Leitindex)
in Punkten




    1. 25.224





    1. 23.131





    1. 2020
      25.478




–9,21
%

Ölpreises
Brent, in US-Dollar




    1. 5 7, 7 5
      20. 2. 2020
      59,31

      • 7, 3 7
        %







    1. 54,94





    1. 12.986




Dax
in Punkten




    1. 13.681





    1. 2020
      13.789




–5,82
%




    1. 2 7. 2 6 8




Dow Jones
Industrial Average
in Punkten




    1. 29.232





    1. 2020
      29.348





  • 7, 0 9
    %





    1. 2020
      75.184 Fälle





    1. 2020
      17.391 Fälle





    1. 506





    1. 2020
      976




Die Epidemie hat Europa erreicht. Sie treibt die Politik in ein Dilemma: Je entschlossener


sie die Bürger schützt, desto härter trifft sie die Wirtschaft VON LISA NIENHAUS UND MARK SCHIERITZ


Virus essen


Wirtschaft auf


E


s wirkte gespenstisch, als Giorgio
Armani am vergangenen Sonntag
seine Modenschau auf der Mai­
länder Fashion Week abhielt. Statt
vor Publikum mussten die Models
in einem Saal ohne Zuschauer
laufen. Die Schau vor leeren Stüh­
len wurde per Live stream in die Welt hinaus über­
tragen, weil Armani diese Welt nicht in sein Land
einladen wollte. Ihm schien das zu gefährlich zu
sein, seit das Coronavirus Italien erreicht hat und
sich im Norden des Landes rasant verbreitet. Mehr
als 300 Menschen sind bereits infiziert, bis zum
Redaktionsschluss dieser Ausgabe am Diens tag­
abend gab es elf offiziell bestätigte Todesfälle. Die
Zahl der Erkrankten steigt stetig, zuletzt kamen
erste Fälle in Süditalien und Österreich dazu. Am
Dienstagabend wurden zudem weitere Infektionen
in Deutschland gemeldet.
Die italienische Politik hat unerwartet radikal
auf den Ausbruch reagiert. Die Behörden ließen
kleinere Gemeinden abriegeln, der Karneval in
Venedig wurde abgesagt, in Mailand bleiben Uni­
versitäten, Schulen und Theater geschlossen. Unter
Kontrolle ist das Virus trotzdem nicht.
Noch schneller als das Coronavirus selbst ver­
breitet sich die Panik vor dem Virus. Nicht nur die
Angst vor der Ansteckung, sondern auch die um
die Wirtschaft. Am Montag und Dienstag fielen
wegen des Virus die Börsenkurse auf der ganzen
Welt, auch in Deutschland. In Norditalien war zu
sehen, was man zuletzt aus Finanzkrisenzeiten kann­
te: lange Schlangen wartender Menschen. Diesmal
standen sie allerdings nicht vor Banken, sondern
vor Supermärkten. Die Menschen wollten kein
Bargeld horten, sondern Nudeln und Reis – aus
Sorge, dass es bald keinen Nachschub mehr geben
könnte.
Durch das Virus schwindet die Zuversicht, das
spüren auch große Unternehmen. Etwa der Auto­
bauer Audi. Dessen Tochterfirma Italdesign erfuhr
am Sonntag von einem Erkrankten unter ihren
Mitarbeitern in der Provinz Piemont. »Die Ge­
schäftsleitung von Italdesign hat sofort beschlos­
sen, alle italienischen Standorte bis zur weiteren
Klärung der Situation zu schließen«, erklärte die
Muttergesellschaft Volkswagen der ZEIT.
Wie das weitergehen könnte, lässt sich in Chi­
na beobachten. Dort hat das Coronavirus die loka­
le Wirtschaft zeitweise fast vollständig zum Erlie­
gen gebracht. Fabriken standen still, Geschäftsrei­
sen wurden verboten oder mit so hohen Auflagen
belegt, dass sie keiner mehr antreten mochte. Das
hat auch deutsche Firmen getroffen, die teils eng
mit China zusammenarbeiten.
Eine Umfrage der ZEIT unter den Dax­Unter­
nehmen ergab: Fast alle der 30 Konzerne sind in
irgendeiner Art vom Ausbruch des Coronavirus in
China betroffen (siehe Bericht auf Seite 22). Sei
es, weil Produktionsstätten vorübergehend ge­
schlossen sind, sei es, weil einzelne Mitarbeiter er­
krankt sind oder weil die Firmen einfach weniger
verkaufen. Adidas beispielsweise hat viele Läden in
China geschlossen. Dadurch macht der Konzern
dort seit dem chinesischen Neujahr 85 Prozent
weniger Umsatz als im Vorjahr. Der Autoabsatz in
China brach im Januar um 20 Prozent ein, was
insbesondere Volkswagen treffen dürfte: Der Kon­
zern verkauft 40 Prozent seiner Fahrzeuge dort.
In der ZEIT­Umfrage gaben nur wenige der
Dax­Unternehmen an, keine Coronavirus­Aus­
wirkungen zu spüren. Nur eines davon konnte
sich sogar einen leicht positiven Effekt aufs
eigene Geschäft vorstellen: der Zah­
lungsabwickler Wire card, der
profitiert, wenn sich Trans­
aktionen ins Netz ver­
lagern.


Das Coronavirus trifft die deutsche Wirtschaft


  • und das zum zweiten Mal zu einem ungünstigen
    Zeitpunkt. Das erste Mal war Anfang des Jahres.
    Eigentlich gab es nach einer monatelangen Indus­
    trierezession im Land Anzeichen der Erholung.
    Die Stimmung in den Unternehmen wurde besser,
    die Zahl der Bestellungen nahm zu. Dann geriet
    der Erreger in China außer Kontrolle – jenem
    Land, das so wichtig ist für die deutsche Industrie.
    Nun also das zweite Mal: Gerade mehrten sich die
    Anzeichen, dass die Lage in China wieder besser
    werden könnte. Die Produktion etwa lief vieler­
    orts wieder an. Da kommt das Virus in Europa an.
    Das ist hart für die Unternehmen. Aber ist es
    auch hart für die deutsche Volkswirtschaft? Geht
    es also nur um ein paar Wochen weniger Umsatz
    und Produktion, die später wieder aufgeholt wer­
    den? Oder schadet das Virus der Wirtschaft struk­
    turell und langfristig?
    Bis vor wenigen Tagen schien dieses Rennen
    Virus gegen Wirtschaft mindestens offen. Der In­
    ternationale Währungsfonds (IWF) senkte in der
    vergangenen Woche zwar seine Pro gno sen. Die
    dortigen Forscher erwarten nun, dass die Welt­
    wirtschaft wegen des Coronavirus in diesem Jahr
    um 0,1 Prozentpunkte weniger
    wächst als zuvor pro gnos ti ziert.
    Das wäre nicht der Rede wert.
    Auch die Finanzminister und
    Notenbankchefs der führenden
    Wirtschaftsnationen der Welt
    wirkten bei ihrem Treffen am
    Wochenende in der saudi­arabi­
    schen Hauptstadt Riad nicht sehr
    alarmiert. Man werde die Si tua­
    tion »beobachten« und sei im Fall
    eines Wirtschaftsabschwungs zu
    »weiteren Aktionen« bereit, heißt
    es in der Abschlusserklärung.
    Panik klingt anders.
    Allerdings mehren sich in­
    zwischen die Stimmen derer,
    die Schlimmeres befürchten. In
    Deutschland ist das beispielswei­
    se Gabriel Felbermayr, der Präsi­
    dent des Instituts für Weltwirt­
    schaft in Kiel. Ihn beunruhigt
    insbesondere der Ausbruch in Europa. »Der euro­
    päische Binnenmarkt ist für Deutschland um ein
    Vielfaches wichtiger als der Handel mit China«,
    sagt er der ZEIT. Mindestens so problematisch
    seien die psychologischen Effekte, die allgemeine
    Verunsicherung. »Daher verschlechtern sich die
    ökonomischen Aussichten jetzt noch mal.«
    Axel Weber ist sogar noch pessimistischer. Er
    kennt sich mit Krisen aus, war Präsident der Bun­
    desbank, als die US­Investmentbank Lehman
    Brothers im Jahr 2008 pleiteging, was die Welt­
    finanz kri se einleitete. Heute ist er Präsident des
    Verwaltungsrates der Schweizer Großbank UBS.
    Die Coronavirus­Epidemie werde »massive«
    wirtschaftliche Folgen haben, pro gnos ti­
    ziert Weber.
    Und so sieht man das auch
    beim Bundesverband der
    Deutschen Industrie.
    Dessen Hauptge­
    schäftsführer
    Joachim


Lang nimmt schon die deutsche Politik in die
Pflicht. Die Koa li tion müsse »Impulse für eine
Belebung des Wachstums« auf den Weg bringen,
fordert er.
Das ist ziemlich frech angesichts der Tatsache,
dass noch niemand weiß, wie schlimm es wirklich
kommen wird. Doch selbst wenn man der Wirt­
schaft jetzt schon helfen wollte: Die Sache ist nicht
so einfach. Denn die Politik ist nicht ganz unschul­
dig an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Sie ist
in einem Dilemma gefangen: Je entschlossener ihre
Maßnahmen sind, um die Bevölkerung vor einer
Infektion zu schützen und damit die Verbreitung
des Virus einzudämmen, desto härter trifft sie damit
die Wirtschaft. Denn wenn Städte abgeriegelt wer­
den, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhin­
dern, dann können Waren nicht mehr geliefert
werden, in den Fabriken steht die Produktion still.
Schon kleine Infektionsherde mit einer geringen
Zahl an menschlichen Opfern könnten deshalb
»dramatische Folgen für die wirtschaftliche Aktivität
haben«, sagt Olivier Blanchard, Wirtschaftsprofes­
sor am Massachusetts In sti tute of Technology
(MIT) und ehemaliger IWF­Chefvolkswirt. Anders
gesagt: Nicht das Virus selbst, sondern der Kampf
dagegen bremst das Wachstum.
Daher haben auf einmal die
Gesundheits­ oder die Innenpoli­
tik die stärksten Auswirkungen
auf den Wohlstand. Die klassi­
sche Wirtschafts­ und Finanzpoli­
tik hingegen hilft in so einer Lage
nur beschränkt dabei, der ökono­
mischen Krise zu begegnen.
Ein Beispiel. Droht die Wirt­
schaft in eine Rezession zu verfal­
len, haben Ökonomen ein klassi­
sches Rezept, um Arbeitslosigkeit
und Elend zu vermeiden: Der
Staat gleicht die private Nachfrage
aus, die wegfällt. Wenn Unterneh­
men also plötzlich weniger ver­
kaufen, dann senkt die Regierung
beispielsweise die Steuern für die
Bürger. Dadurch können die
Haushalte wieder mehr Geld aus­
geben, die Unternehmen können
mehr verkaufen und ihre Produktion wieder hoch­
fahren. Wenn aber Fabriken stillgelegt werden, weil
die Beschäftigten ihre Wohnungen nicht verlassen
dürfen, dann funktioniert das nicht. Schließlich
verkaufen die Unternehmen nicht des­
wegen weniger, weil den Menschen
das Geld fehlt. Die Produktion
stockt aus anderen Grün­
den. Auch deshalb
will man im
Bundesfi­
nanz­

ministerium
von finanzpoli­
tischen Antikrisen­
maßnahmen offiziell noch
nichts wissen, während Gesund­
heitsminister Jens Spahn als Retter
durch Europa reist.
Im Hintergrund wird in Berlin aber längst
an Notfallplänen gearbeitet. Dazu hat die Bundes­
regierung einen sogenannten Ressortkreis einge­
richtet, in dem sich Vertreter der beteiligten Mi­
nisterien – Finanzen, Wirtschaft und Gesundheit


  • absprechen. Wenn sich die Lage verschärfen
    sollte, dann würden in diesem Gremium unter der
    Federführung von Finanzminister Olaf Scholz
    (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier
    (CDU) Rettungsmaßnahmen abgestimmt.
    Denn auch wenn eine Gesundheitskrise schwie­
    riger zu bekämpfen ist als eine Finanzkrise: Zum
    Nichtstun verurteilt ist die Regierung im Ernstfall
    nicht. Sie kann zum Beispiel dafür sorgen, dass von
    der Krise besonders betroffene Unternehmen nicht
    gleich Konkurs anmelden müssen, indem sie ihnen
    vorübergehend mit Krediten oder Bürgschaften aus­
    hilft. Wenn es zu einer schweren Wirtschaftskrise
    käme, in deren Verlauf das Wachstum einbräche,
    dann würde auch über klassische Konjunktur­
    programme diskutiert werden, einschließlich bei­
    spielsweise neuer Anleihenkäufe der Europäischen
    Zentralbank. Die italienische Regierung lässt gerade
    prüfen, ob die Brüsseler Haushaltsregeln gelockert
    werden können, weil die Krise den Etat belastet.
    Es gibt aber zuvor noch einen Weg, der weni­
    ger kostet und mehr bringt: wenn man die Ab­
    schottung etwa durch Grenzkontrollen oder gar
    Grenzschließungen innerhalb der EU möglichst
    lange verhindert. Denn der freie Warenaustausch
    hilft der Wirtschaft. Oder, wie es der italieni­
    sche Ministerpräsident Giuseppe Conte
    formulierte: »Wir können nicht ganz
    Italien zum Lazarett erklären.«


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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT N WIRTSCHAFT
    o 10


TITELTHEMA: CORONAVIRUS


Warum das Virus Italiens
Politik spaltet und wie
Dax­Konzerne auf das
Virus reagieren S. 22

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Worauf deutsche
Gesundheitsexperten
sich einstellen und wie
eine Hamburger Ärztin
an einem Impfstoff
arbeitet S. 31/32

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