Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

Das Spaltvirus


Italien ist zerrissen – und die aktuelle Krise verschärft den Streit der miteinander verfeindeten


Parteien weiter. Sie geben sich gegenseitig die Schuld. Was tut Europa? VON ULRICH LADURNER


E


s ist nicht so, dass die Bedrohung
durch das Coronavirus die Ita­
liener zusammenrücken ließe,
ganz im Gegenteil. Als die Par­
lamentsabgeordneten des sozial­
demokratischen Partito Demo­
cratico (PD) vor wenigen Tagen
forderten, am Eingang des Parlaments Kontrollen
einzuführen, um die Männer und Frauen des
Hohen Hauses vor dem Virus zu schützen, flan­
kierte die Abgeordnete Patrizia Prestipini den Vor­
schlag mit einer Gemeinheit gegen den politischen
Gegner: »Man braucht die Kontrollen vor allem
für die Kollegen aus dem Norden des Landes!«
Das neue Coronavirus hat sich zunächst in
der Lombardei ausgebreitet, im Herzland der
oppositionellen Lega. Prestipini ist Römerin
und Sozialdemokratin. Ihre Bemerkung, zitiert
von der italienischen Tageszeitung Il Foglio,
könnte man als geschmacklose Äußerung gegen
die konservative Opposition und ihren Partei­
chef, den rechten Populisten Matteo Salvini, ab­
tun, doch tatsächlich spiegelt sie nur wider, was
die Italiener seit einiger Zeit Tag für Tag erleben:
heftigen Streit zwischen Regierung und Opposi­
tion in einem zerrissenen Land.
Der Oppositionsführer Salvini reitet täglich
Attacke auf Attacke gegen die Regierung. Er wirft
ihr vor, zu spät auf das Virus reagiert zu haben.
Seit Monaten arbeitet er schon daraufhin, die
Koalitionsregierung von Sozialdemokraten und 5
Sternen unter dem Premierminister Giuseppe
Conte zu stürzen. Im Coronavirus sieht er offen­
bar eine neue Möglichkeit, diesem Ziel näherzu­
kommen. Conte wiederum kritisierte die Reak­
tion der lombardischen Behörden auf die Krise.
Der Fraktionschef der Lega – in der Lombardei
Regierungspartei – fand im Parlament schnell
eine Antwort: »Der Stress lässt Conte Dinge sa­
gen, die man fast faschistisch nennen könnte!«
Bei Redaktionsschluss der ZEIT gab es in Ita­
lien 250 bekannte Fälle von Infizierten und sie­
ben Tote. Doch Einigkeit im Angesicht der
Krise, wie sie Italiens Staatspräsident Sergio
Mattarella gefordert hatte? Fehlanzeige.
Der Ausbruch des Coronavirus trifft mit Ita­
lien ein Land, in dem zwei populistische Parteien
bei den landesweiten Wahlen im Mai 2018 eine
gemeinsame Mehrheit erhalten haben: die 5­Ster­
ne­Bewegung (M5S) und die Lega. Auch wenn
die Regierung, die sie nach ihrem Wahlsieg bilde­
ten, nicht länger als ein Jahr hielt, so hat der Po­
pulismus tief in der Gesellschaft Wurzeln geschla­
gen und zu einer Polarisierung und einer aggressi­
ven Tonalität in der Öffentlichkeit beigetragen.
Die allermeisten Medien Italiens bemühen
sich dieser Tage denn auch nicht um Beruhigung


und sachliche Information, sondern schüren die
Angst der Bürger mit furchteinflößenden Titel­
zeilen: »Italien ist infiziert« (Il Giornale), Vade re-
tro virus! (Libero), »Infektion und Tod, der Virus
ist unter uns« (Il Giorno), »Virus, der Norden in
Angst« (La Repubblica), »Der Virus schreitet vo­
ran, der Norden in Quarantäne« (Il Messagero).
Die Hysterie ist mit Händen zu greifen, und die
Behörden reagieren darauf, indem sie drakonische
Maßnahmen erlassen. Quarantäne für mehr als
50.000 Menschen in der Lombardei, Schulen
und Kindertagesstätten werden geschlossen, der
Karneval in Venedig wird abgesagt, Fußballspiele
finden nicht statt. Bei jeder neuen Maßnahme
positionieren sich die politischen Lager, oft ge­
geneinander. Es ist für die Bürger kaum mehr zu
verstehen, was sinnvolle Maßnahmen sind und
was nicht, welche Einschränkungen ihres Lebens
gerechtfertigt sind und welche nicht.

Ein Reflex funktioniert wie in jeder Krise:
Der Ruf nach laxeren Schuldenregeln

Selbst die Wissenschaft spricht nicht mit einer
Stimme. Unter italienischen Virologen ist sogar
offener Streit über die Gefährdung durch das
Coronavirus ausgebrochen. Maria Rita Gismon­
do, Chefin der Instituts für Mikrobiologie im
Mailänder Krankenhaus Sacco, schreibt auf ih­
rer Facebook­Seite: »Man hat eine Infektion, die
gerade mal so ernst ist wie eine Grippe, mit einer
tödlichen Pandemie verwechselt. Mir scheint
das eine Verrücktheit!« Woraufhin ihr der popu­
läre Virologe Roberto Burioni öffentlich wider­
sprach – er nannte sie dabei auch gleich Signora
und unterschlug ihren Doktortitel. Später ent­
schuldigte er sich für diese Unterlassung, bleibt
aber bei der Behauptung, dass »Frau Doktor et­
was sehr Gefährliches gesagt hat«.
Diese Verunsicherung findet einen Nährbo­
den nicht zuletzt in einer Parteienlandschaft, in
der wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse
ernsthaft unter Rechtfertigungszwang geraten –
und zwar wegen eher esoterischer Überzeugun­
gen. Die Bewegung 5 Sterne etwa haben lange
Zeit Leute geprägt, die Impfungen strikt ableh­
nen und die an die systematische Vergiftung der
Bevölkerung durch Flugzeugabgase (»Chemtrails)
glauben. Als Regierungspartei gibt sich M5S heu­
te deutlich gemäßigter, aber das Misstrauen ge­
genüber etabliertem Wissen und die Bereitschaft,
an Verschwörungen zu glauben, ist tief verankert
in der Anhängerschaft dieser Partei.
Der Ausbruch des Coronavirus und die ihn
begleitenden Polemiken zahlen auf ein Phäno­
men ein, das Soziologen seit Jahren in Italien be­
obachten: Die Italiener verlieren rasant das Ver­

trauen nicht nur in die Institutionen ihres Lan­
des, sondern auch in ihre Mitbürger. Nach einer
umfassenden Studie des Censis, eines der re­
nommiertesten soziologischen Institute des Lan­
des, aus dem Jahr 2019 vertrauen 75 Prozent der
Italiener ihren Mitbürgern nicht. Die Autoren
der Studien sprechen mit Blick auf den Gemüts­
zustand der Italiener und Italienerinnen von ei­
nem »Verschwinden der Zukunft«.
Dieser tristen Erkenntnis stehen die schrillen
Töne von Matteo Salvini gegenüber. Zur Bewäl­
tigung der Krise bietet er den Italienern nationa­
listische Rezepte an. Wie kann man den Scha­
den für die heimische Wirtschaft eindämmen?
»Kauft italienisch!«, ruft Salvini seinen Anhän­
gern zu. Welche Maßnahmen sind nötig, um
eine weitere Ausbreitung des Virus zur verhin­
dern? Natürlich scharfe Grenzkontrollen: »Ich
will wissen, wer in mein Land kommt und wer
es verlässt!« Wobei die Einlasskontrolle gerade
vielleicht nicht die logischste aller Forderungen
ist. Da Italien inzwischen der größte Infektions­
herd in Europa ist, wäre die Forderung nach
Grenzkontrollen von anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union etwas plausibler.
Es geht nun vieles durcheinander in Italien


  • nur ein Reflex funktioniert verlässlich wie stets
    in Krisen, sei es bei Erdbeben, Migration oder
    eben dem Coronavirus: die Forderung an Euro­
    pa, die Regeln für den Staatshaushalt zu lockern.
    Natürlich hat Matteo Salvini sie gleich als Erster
    formuliert: »Die Regierung muss von der EU­
    Kommission verlangen, den Sparkurs zu been­
    den, um der schweren Gesundheitskrise zu be­
    gegnen, mit der wir es zu tun haben.«
    Die EU­Kommission hat auf Salvinis Forde­
    rung nicht reagiert. Anfang der Woche ließ sie
    aber verlauten, dass sie zwei Experten vom Euro­
    päischen Zentrum für Prävention und Kontrolle
    von Krankheiten entsandt habe. Die Schließung
    der Grenzen des Schengenraums sei vorerst kein
    Thema. Die Weltgesundheitsorganisation
    (WHO), so die Gesundheitskommissarin Stella
    Kyriakides, habe keine Reisebeschränkungen in
    Europa verlangt. Sollten sie notwendig werden,
    würden sie »koordiniert« umgesetzt. Zu Ein­
    schränkungen im Reiseverkehr innerhalb des
    Schengenraumes war es zuletzt während der Mi­
    grationskrise im Jahr 2015 gekommen.
    Die EU stellte 232 Millionen Euro für den
    Kampf gegen die Ausbreitung des Virus zur Ver­
    fügung. Das Geld ist allerdings nicht für Italien
    bestimmt – 114 Millionen gehen an die WHO;
    15 Millionen nach Afrika, 100 Millionen flie­
    ßen in die Forschung und 3 Millionen stehen
    für die Rückholung von EU­Bürgern aus dem
    chinesischen Wuhan zur Verfügung.


TITELTHEMA: CORONAVIRUS


Ansteckend


Eine ZEIT­Umfrage zeigt, wie stark die Konzerne im Dax die
Folgen der Epidemie spüren VON INGO MALCHER UND LISA NIENHAUS

Z


um Beispiel Adidas. Weil infolge
der Coronavirus­Epidemie in
China viele Geschäfte geschlossen
bleiben, werden zurzeit weniger
Sneakers, Kapuzenpullover und
Trainingshosen verkauft. Ergeb­
nis: Seit dem chinesischen Neu­
jahrsfest am 25. Januar ist der Umsatz von Adidas
in China im Vergleich zum Vorjahr um 85 Prozent
gesunken, teilte das Unternehmen der ZEIT mit.
Zum Beispiel Covestro. Der Kunststoffherstel­
ler aus Leverkusen musste die Produktion in sei­
nen Werken in der Nähe von Shanghai und im
Süden Chinas drosseln. Die Coronavirus­Epide­
mie senkt die Nachfrage, weil in vielen Fabriken
der Kunden von Covestro nicht gearbeitet wird,
zudem fallen Zulieferer aus, bei denen Mitarbeiter
nicht zur Arbeit erscheinen. Ergebnis: Der Dax­
Konzern wird im ersten Quartal dieses Jahres bis
zu 60 Millionen Euro weniger verdienen, wie ein
Sprecher mitteilt.
Zum Beispiel Fresenius. Wegen der von den
chinesischen Behörden verfügten Quarantäne ist
es für den Medizintechnik­Konzern schwieriger,
seine Produkte an Krankenhäuser in China zu lie­
fern und Mitarbeiter bereitzustellen. Zudem wer­
den in den Krankenhäusern geplante Eingriffe ver­
schoben. Ergebnis: Der Konzern erwartet, dass das
Geschäft der Tochter Fresenius Kabi leidet, es lasse
sich noch nicht sagen, ob das später im Jahr auf­
geholt werden könne.
Drei Unternehmen aus dem deutschen Aktien­
index (Dax), drei Beispiele dafür, wie sich die Epi­
demie auf die hiesige Wirtschaft auswirkt. Die
ZEIT hat alle Dax­ 30 ­Unternehmen dazu befragt,
inwiefern ihr Geschäft unter dem Coronavirus
leidet. Ergebnis: Fast alle Unternehmen spüren die
Folgen, wenngleich in unterschiedlicher Härte.
Das ist kein Wunder. Die Volksrepublik ist der
größte Handelspartner Deutschlands. Im Jahr
2018 exportierten deutsche Unternehmen Waren
im Wert von 93 Milliarden Euro nach China. Aus
China importierte Deutschland Waren im Wert
von 106 Milliarden Euro.
Beide Volkswirtschaften sind eng miteinander
verflochten. So hat der Industriekonzern Siemens
in China 40 Fabriken – eine davon ist derzeit ge­
schlossen – und rund 32.000 Mitarbeiter. Der
Chemiekonzern BASF hat 27 Werke in China,
Hongkong, Taiwan und Macau mit insgesamt
9300 Beschäftigten. Im Jahr 2018 erzielte das Un­
ternehmen mit dortigen Kunden einen Umsatz
von mehr als 7,3 Milliarden Euro. Der Pharma­
hersteller Merck machte in China im Jahr 2018
1,9 Milliarden Euro Umsatz. Der Chiphersteller
Infineon erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2019
einen Umsatzanteil von 27 Prozent in China.

Wie sehr hiesige Unternehmen von China ab­
hängen, lässt sich anhand von Volkswagen zeigen.
Der Automobilbauer liefert rund 40 Prozent sei­
ner Fahrzeuge in China aus. Mit Partner­Unter­
nehmen betreibt der Konzern 33 Werke in der
Volksrepublik. Die Folgen der Epidemie haben zu
Schwierigkeiten in der Produktion geführt. In­
zwischen wird aber an fast allen Standorten wieder
gearbeitet. »Dabei wird die Arbeitsleistung den
Umständen entsprechend angepasst«, heißt es aus
dem Unternehmen. Es sei aber möglich, den
Rückstand in der Produktion aufzuholen.
Der Alltag in den Unternehmen ist infolge der Epi­
demie beschwerlich – nicht nur in China. Praktisch
alle Firmen lassen ihre Mitarbeiter, wenn möglich,
von zu Hause aus arbeiten. Bei der Allianz bleiben
die meisten der 2500 Angestellten in China im
Homeoffice. In den Produktionshallen und Büros
von VW wird das Arbeitsumfeld regelmäßig desinfi­
ziert, Masken werden verteilt und die Körpertem­
peratur der Mitarbeiter gemessen. Außerdem gibt es
Regeln dafür, wie nahe man Kollegen bei Konferen­
zen oder Mahlzeiten kommen darf.
Viele wollen jedes Risiko vermeiden. Die Energie­
konzerne E.on und RWE haben Dienstreisen nach
China verboten, andere raten dringend davon ab.
BASF bittet Reisende mit verdächtigen Symptomen
die »Husten­Etikette« einzuhalten (»Abstand halten,
Husten und Niesen mit Einwegtüchern oder Klei­
dung abdecken, Hände waschen«). Und Siemens
empfiehlt allen China­Rückkehrern 14 Tage lang von
zu Hause aus zu arbeiten.
Bislang scheinen die Maßnahmen zu helfen.
Deutsche Unternehmen melden nur wenige Infi­
zierte. So hat Volkswagen in China 100.000 Mit­
arbeiter und keinen einzigen Fall. Allerdings wur­
de in Italien vergangenen Sonntag der Mitarbeiter
einer Audi­Tochtergesellschaft in der Provinz Pie­
mont offenbar positiv getestet, woraufhin alle
Standorte der Tochter geschlossen wurden.
Noch ist es zu früh, zu sagen, wie teuer das Vi­
rus für die Konzerne wird. Für viele gilt, was der
Chemiekonzern Bayer mitteilt: »Inwieweit sich die
Corona­Epidemie auf die Jahresbilanzen unserer
Landesgesellschaften und des Konzerns auswirken
wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt
noch nicht abschätzen.« Sicher ist aber, dass es ein
paar wenige Unternehmen gibt, die bislang ver­
schont geblieben sind, etwa der Immobilienkon­
zern Vo no via, dem fast 400.000 Wohnungen ge­
hören. Das Unternehmen teilt mit: »Da unser
Kerngeschäft in Deutschland sowie in geringerem
Maße in Österreich und Schweden liegt, ist unser
Geschäftsbetrieb aktuell nicht beeinflusst.«

Mitarbeit: Thomas Fischermann, Claas Tatje,
Jens Tönnesmann

Passanten
in Rom und
Mailand,
fotografiert
am 25. Februar

Fotos: Giammaria & Ciamei für DIE ZEIT (l. o.); Caimi & Piccinni für DIE ZEIT (7)

22 WIRTSCHAFT 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10

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