Die Zeit - 27.02.2020

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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10 31


Seit dieser Woche haben die Europäer die neue Epidemie direkt vor Augen

Immer näher


Nach den Ausbrüchen in Südkorea, im Iran und in Italien scheint es unausweichlich, dass sich das Coronavirus
weltweit verbreitet. Wie gut sind Medizin und Politik in Deutschland vorbereitet? VON HARRO ALBRECHT

W


as zwei Monate lang als
hypothetisches Risiko er-
schien, wurde vergangene
Woche zum sehr wahr-
scheinlichen Szenario:
eine Corona-Pandemie.
Zuerst zeigte ein massiver
Ausbruch von Erkrankungen in Südkorea mit in-
zwischen fast 1000 Fällen, dass auch demokratische
Länder das Virus Sars-CoV-2 nicht effizient unter
Kontrolle bringen können. Danach erwies die un-
bemerkte Ausbreitung des Erregers in Italien, dass er
längst auch Europa erreicht hat. »Der Damm ist
gebrochen, ohne dass es jemand gemerkt hat«, sagt
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Viro-
logie am Campus Charité Mitte.
Am Dienstagabend wurden dann neue Einzel-
fälle aus Deutschland bekannt. Ein 25-jähriger
Mann aus Göppingen in Baden-Württemberg
habe sich nach einer Reise nach Mailand mit
grippeähnlichen Beschwerden beim örtlichen Ge-
sundheitsamt gemeldet, hieß es aus dem Sozial-
ministerium in Stuttgart. Es sei die »erste bestätigte
In fek tion im Land«. Schon aus Österreich, der
Schweiz und Kroatien waren am selben Tag erste
Fälle bestätigt worden. Und kurz vor Redaktions-
schluss kam schließlich aus Nordrhein-Westfalen
die Nachricht, ein 47-jähriger Mann aus dem
Kreis Heinsberg sei positiv getestet worden. Am
Aschermittwoch sollten daher sämtliche Schulen
und Kitas im Landkreis geschlossen bleiben.
Es ist die Woche der Entscheidung. Werden wir
in einer Welt leben, in der wir bei schweren, fieber-
haften Atemwegserkrankungen regelmäßig fragen:
Corona oder Influenza? Werden sich die Ausbrei-
tungswellen der Viren, die Arztbesuche, die not-
wendigen Medikamente, Klinikplätze, Beatmungs-

betten, werden sich die Todesfälle künftig addieren?
Diese Fragen zeigen, warum Ärzte und Behörden sich
nicht geschlagen geben. Warum Hotels in Innsbruck
und auf Teneriffa unter Quarantäne gestellt, warum
Opernhäuser und Kindergärten in Italien geschlossen
und Fußballspiele der Serie A vor leeren Rängen aus-
getragen werden.
Denn die Ausbreitung von Sars-CoV-2 steigert
sich rasant. Im Iran, mitten in einer politisch hoch-
brisanten Region mit zahlreichen
bewaffneten Konflikten, droht
ein unkontrollierbarer Ausbruch
der Krankheit. Mit Sorge blicken
die Experten auf die oftmals
mangelhaften Gesundheitssyste-
me vieler Schwellenländer. Das
neue Coronavirus, das Ende ver-
gangenen Jahres erstmals in Chi-
na auftrat, ist offenbar nicht
mehr zu stoppen.
Diese Einsicht verschiebt die
Perspektive der Seuchenwächter.
Die Devise lautet nicht mehr: die
Weltreise des Erregers verhindern.
Jetzt heißt es, seine Verbreitung
mit allen Mitteln zu entschleuni-
gen. Die Mediziner müssen Zeit
gewinnen. Zeit, um Medikamen-
te zu testen und Impfstoffe zu
produzieren. Zeit, um die Ge-
sundheitssysteme hochzurüs-
ten. Zeit, um Kräfte zu bündeln.
In den ersten Wochen des Ausbruchs ging es in
Deutschland darum, die wenigen Fälle hierzulande
frühzeitig zu erkennen und zu isolieren. Weil das ge-
lang, lautete die beruhigende Erst dia gno se: Deutsch-
land ist gegen das neue Coronavirus gewappnet

(ZEIT Nr. 6/20). Jetzt stellt sich die Systemfrage
noch einmal neu: Was geschieht, wenn eine Corona-
Welle das Land überspült? Wie gut verkraftet das
Gesundheitssystem solch eine Last? Wie lässt sich
diese Wucht abfangen?
Einige vergleichen die von Sars-CoV-2 ausgelös-
te Krankheit, Covid-19 genannt, mit der Grippe.
Das ist nicht verharmlosend gemeint. Wir wissen,
wie viele Menschenleben eine schlichte Influenza
kosten kann. In der besonders
schlimmen Grippesaison 2017/18
gab es 25.000 Todesfälle. Die
Krankenhäuser mussten nach
Berechnungen des Robert-Koch-
Instituts in jenem Winter 45.000
zusätzliche Einweisungen bewälti-
gen. In die Praxen der niedergelas-
senen Ärzte strömten neun Millio-
nen Influenzakranke, zwei Millio-
nen mehr als in den Jahren davor.
Die extrem hohe Zahl von Er-
krankten war eine harte Probe für
ein Gesundheitssystem, das seit
Jahren Klinikbetten abbaut und
unter chronischem Personalmangel
leidet – aber sie wurde bestanden.
Wer die Sars-CoV-2-Verbrei-
tung vorausberechnen will, muss
zunächst wissen, welche Personen
sich wie schnell mit dem neuen
Virus infizieren. Manche sind
durch genetische Besonderheiten
geschützt, andere durch eine vorherige Infektion
mit ähnlichen Coronaviren immun. Bis zu 60 Pro-
zent der Bevölkerung eines Landes könnten durch
Sars-CoV-2 befallen werden, hat jüngst Gabriel
Leung von der University of Hong Kong berech-

net. Zwar beruht seine Kalkulation auf noch sehr
unsicheren Daten, aber die Zahl von fast 50 Mil-
lionen potenziell infizierten Deutschen klingt zu-
nächst einmal alarmierend.
Wichtiger als die potenzielle Gesamtzahl der
Infizierten aber ist die Geschwindigkeit, mit der
sich ein Virus ausbreitet. Wenn sich sechs von
zehn Einwohnern im Laufe von drei Monaten an-
stecken würden, wäre das eine Katastrophe; zieht
sich die Verbreitung des Virus dagegen über Jahre
hin, ist die Herausforderung gut zu bewältigen.
Die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus
nennen Experten die »sekundäre Befallsrate«:
Welchen Anteil seiner Kontaktpersonen steckt ein
Erkrankter an? Bei dieser Frage ist Christian
Drosten vorsichtig optimistisch: »Ich denke, wir
werden eine sekundäre Befallsrate von 10 bis 20
Prozent haben.« Konkret bedeutet dies, dass sich
Sars-CoV-2 »eher schleichend« ausbreitet, keines-
falls aber so rasend schnell wie die Hongkong-
Grippe 1968, die damals an vielen Orten der west-
lichen Welt das öffentliche Leben stillstehen ließ.
Der Preis der Langsamkeit ist indes, dass das
Virus in mehreren Wellen über Europa ziehen
wird. Nach dem ersten Auftreten in diesem Win-
ter wird es mit zunehmender Wärme, Trockenheit
und der stärker werdenden UV-Strahlung der Son-
ne gebremst. Der Frühling macht Hoffnung – aber
im nächsten Winter kommt die nächste Welle.
Der zweite Faktor, um die Belastungen für das
Gesundheitssystem abschätzen zu können, ist der
Anteil der schwer Erkrankten. Zu Beginn des Aus-
bruchs hieß es noch, vor allem Ältere und Menschen
mit Vorerkrankungen seien von Sars-CoV-2 betrof-
fen. Tatsächlich starben unter den über 80-Jährigen

Quellen


Die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung informiert auf infektionsschutz.de
die Bürger über das neuartige Virus.

Die Auswirkungen der Grippewelle 2017/18
hat das Robert-Koch-Institut in einem
»Bericht zur Epidemiologie« analysiert.

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden sich bei ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2020-10

Fortsetzung auf S. 32

Menschenmengen meiden
Sobald es einen Ausbruch einzudämmen
gilt, sollte jeder wissen: Das neuartige
Coronavirus wird durch Tröpfcheninfek-
tion übertragen. Auch Infizierte, die sich
noch gesund fühlen, sind bereits anste-
ckend. Deshalb gilt: Abstand halten zu
anderen Menschen. Etwas mehr als ein
Meter genügt; kein Händeschütteln, keine
Umarmungen zur Begrüßung; große Men-
schenansammlungen möglichst meiden.

Finger weg
Auch wer Oberflächen berührt, an denen
der Erreger haftet, und sich dann ins
Gesicht fasst, der kann sich anstecken.
Darum ist es klug, etwa Fahrstuhlknöpfe
oder Türöffner mit dem Knöchel oder
dem Ellenbogen zu drücken statt mit
den Fingern – zentral ist, sich häufiger
und gründlicher die Hände zu waschen.

Skepsis bei Masken
Modelle aus Papier sind bereits nach
kurzem Tragen feucht und halten eine
Virusattacke nicht mehr ab. Chirurgische
OP-Masken, die Nase und Mund bede-
cken, schützen weniger den Träger, son-
dern vor allem seine Umgebung. Zertifi-
zierte Atemschutzmasken gibt es in drei
Sicherheitskategorien. Sie bieten Schutz,
allerdings ist ihr Einsatz für den Träger so
unangenehm, dass sie für den Alltag
wenig praktikabel sind. Niemand wird
diese Masken lange tragen wollen.

Andere schützen
Wer womöglich selbst ansteckend ist, kann
die Allgemeinheit schützen, indem er
benutzte Papiertaschentücher sofort und
sicher entsorgt. Wer husten oder niesen
muss, sollte sich nicht die Hand vors
Gesicht halten, sondern die Armbeuge.
Einfach in die Gegend zu prusten ist tabu.

Impfen
Im Falle eines Coronavirus-Ausbruchs ist
es entscheidend, andere vermeidbare
Infektionskrankheiten auch wirklich zu
vermeiden. Das gilt insbesondere für die
saisonale Grippe. Zum Eigennutz und
um das Gesundheitssystem nicht unnötig
zu belasten, sollten sich vor allem ältere
Menschen impfen lassen. Ihnen wird
zusätzlich zu einer Pneumokokken-Imp-
fung geraten.

Vorräte
Für ein paar Tage vorzusorgen ist immer
sinnvoll. Mit haltbaren Lebensmitteln,
wichtigen Medikamenten und allem,
was kleine Kinder benötigen. (Das Bun-
desamt für Bevölkerungsschutz bietet
online eine »persönliche Checkliste« an.)
Hamsterkäufe sind nicht notwendig.

Daheim bleiben
Wer sich schlecht fühlt, sollte zu Hause
bleiben. Um seiner selbst willen und um
andere zu schützen. Das gilt nicht nur für
den Arbeitsplatz: Wer glaubt, er habe sich
mit Corona infiziert, sollte erst in der
Arztpraxis oder beim Gesundheitsamt an-
rufen, statt sich einfach ins volle Warte-
zimmer zu zwängen. ULRICH BAHNSEN

Auf


Abstand


Wer sich an diese Regeln
hält, schützt sich selbst –
und bremst das Virus

Die Suche nach einem
Impfstoff läuft weltweit,
auch in Hamburg S. 32

WIRTSCHAFT:
Konjunktur gegen
Corona S. 21

Warum das Virus Italiens
Politik spaltet und wie
Dax-Konzerne darauf
reagieren S. 22

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Thema


Illustrationen: Luca D’Urbino für DIE ZEIT

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