Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Die Scheinkin-Straße in Tel Aviv, Israel

Fotos: David Havrony; Ralf Timm/Auto Bild (r.)

Israels Spiegel


Manchmal genügt es, eine einzige Straße entlangzuschlendern, um ein ganzes Land zu erklären. Die »Scheinkin« in Tel Aviv war einst ein
blühendes Zentrum von Linken und Intellektuellen, Dichtern und Künstlern. Das ist jetzt ganz anders VON TUVIA TENENBOM

D


as Meatos in Tel Aviv ist ein
koscheres Restaurant, was
bedeutet, dass es Fleisch-
oder Milchprodukte anbie-
ten kann, aber nicht im
selben Essbereich. Wie der
Name impliziert, serviert das
Meatos nur Fleischprodukte. Hühnerschnitzel bei-
spielsweise, ein Gericht, das die Juden der Legende
nach vor dem Anschluss in Österreich erfunden
haben. Man kann hier auch Malabi als Nachspeise
bekommen, einer anderen Legende zufolge die
Süßspeise, die die Juden in Ägypten erfanden, als
sie noch Sklaven ihrer afrikanischen Herren waren.
Das Meatos ist ein ausgezeichneter Ort, um den
Stamm dieses Landes zu beobachten. Wenn Sie hier
sitzen, werden Sie feststellen, über wie viele Clans
der Stamm verfügt. Einige sind religiös, einige säku-
lar, einige unentschieden, einige halb und halb, und

dann gibt es noch die, die sich zwischen den Clans
bewegen, je nach Wochentag. Natürlich hat jeder
Clan Untergruppen. Die religiösen Untergruppen
bestehen aus den sehr Religiösen, als Ultraorthodoxe
Bekannten, den Religiösen und den modern Re-
ligiösen. Die säkularen Untergruppen sind zum
überwiegenden Teil Sozialisten; Linke, die die Paläs-
tinenser unterstützen; Zentristen, die auf jeder
Hochzeit oder gar keiner tanzen; und Rechte, also
Leute, die den Kapitalismus befürworten und sich
nicht groß um die Palästinenser scheren.
Das war’s mehr oder weniger, wenn auch
nicht alle Juden dem zustimmen würden. Juden
stimmen ein an der im Allgemeinen nicht zu, oft
nicht einmal sich selbst. Wenn Sie nicht dazuge-
hören, werden Sie das nie verstehen. Ich hin-
gegen wurde in diesem Land geboren und bin
daher mit diesem Prinzip vertraut. Es ist viele
Jahre her, dass ich hier gelebt habe, aber jetzt

steht mir alles wieder vor Augen, einschließlich
meiner Jugendzeit.
Ich wuchs in einer religiösen Nachbarstadt des
überwiegend säkularen Tel Aviv auf. Tel Aviv war für
mich die Hauptstadt des Vergnügens und der Intel-
ligenz, das Zentrum der Schönheit und der Sünde
und schlichtweg die größte menschliche Errungen-
schaft. Im Stadtzentrum von Tel Aviv gab es eine
sagenumwobene Straße, die Scheinkin-Straße.
Zwischen der Allenby-Straße und dem Roth-
schild-Boulevard liegend, ist die Scheinkin-Straße
noch nicht einmal einen Kilometer lang, für mich
aber war sie endlos und führte von einem Ende der
Welt zum anderen. In jenen Tagen war die
»Scheinkin« der Ort, an dem man glühenden Lin-
ken, engagierten Sozialisten, eingefleischten Säku-
laren, brillanten Intellektuellen, Künstlern und
Dichtern begegnen konnte. Sie saßen in Cafés wie
dem legendären Tamar, tranken Kaffee und Tee,

rauchten alles Mögliche, verspeisten Apfelstrudel
und Eis, und zwischen den Bissen, Schlucken und
Schlecks redeten sie darüber, wie man das Los der
armen Arbeiterklasse verbessern könnte, um an-
schließend Gedichte zu Ehren der schönsten aller
Lebewesen zu verfassen, der Araber also. Sie waren
Juden, die Araber liebten, aber nur so lange, wie
die Araber sie hassten.
Ergibt in Ihren Augen keinen Sinn? Tja, das ist
eine der Eigenheiten des Stammes, vor allem derer,
deren Familien in Auschwitz umkamen. Der
Selbsthass vermittelte ihnen ein Gefühl der Frei-
heit, der Entlastung. Für mich als Enkel von Gas-
kammerjuden ergaben die Scheinkiner sehr viel
Sinn, und ich bewunderte sie.
Gibt es sie immer noch?, frage ich mich, wäh-
rend ich das süßeste aller Malabis genieße.

Ein alter Herr mit Schiebermütze hat die ak-
tuelle Lage in einem Supermarkt in Genua auf
den Punkt gebracht. »Die Nudelregale sind
leer!«, ruft er da aufgebracht in die TV-Mikro-
fone, während eine Frau aus den Tiefen der
Wand ein letztes Päckchen Spaghetti hervor-
zieht, und er bebt: »Was ist denn hier los?«
Nun, die Lebensmittellieferungen in die nord-
italienische Stadt hielten mit den Hamster-
käufen der Bevölkerung nicht mit. Der Chef
des Zivilschutzes betonte unterdessen, man
habe alles bestens im Griff.
Zivilschutz, das ist so ein fast vergessenes
Nachkriegswort wie Weckglaskompott oder
Einkochring, aus einer Zeit, in der Nachkrieg
auch als Vorkrieg empfunden wurde und jeder
wusste, dass man Vorsorge treffen muss, für
den Notfall. »Lebens-
mittelvorräte sind von
der öffentlichen Hand
anzulegen und strah-
lensicher zu lagern.
Lebensmittellagerung
durch die Bevölkerung
ist außerdem nach-
drücklich zu befür-
worten«, empfiehlt am


  1. März 1962 Carl
    Friedrich von Weizsä-
    cker, das deutsche Atomphysiker-Ass, unter
    dem Titel »Hat jeder eine Chance?« in der
    ZEIT, und 1965 spricht deshalb die gleichna-
    mige Aufklärungsbroschüre von Wolf Schnei-
    der, dritte Auflage, 400.000 Exemplare, wegen
    der »vertrackten Luftschutzpsychologie des
    Bundesbürgers« klar aus, »am Anfang des Be-
    völkerungsschutzes« müsse »eine nüchterne
    und schonungslose Aufklärung« stehen.
    Und jetzt? Wer sorgt für Aufklärung? Wer
    für die Nudeln? Zwar empfehlen die zuständi-
    gen Behörden der Länder und des Bundes
    heute wie immer schon, jeder solle einen Not-
    vorrat anlegen, der für zehn Tage reicht, mit
    Checkliste: pro Kopf 20 Liter Wasser, 3,5 Kilo
    Getreideprodukte, 4,0 Kilo Hülsenfrüchte und
    so fort. Liebenswürdigerweise erinnern heute
    die Behörden die Alles-immer-sofort-verfüg-
    bar-Gesellschaft auch daran, dass Lebensmittel
    schnell verderben, wenn der Kühlschrank aus
    ist, Tiefkühlprodukte etwa, wie ja bei Strom-
    ausfall aus der Leitung auch kein Wasser fließt
    und sich Supermarkttüren nicht mehr wie von
    Zauberhand öffnen. Doch nur acht Prozent
    der Bevölkerung wissen um diese Informatio-
    nen, und kaum ein Viertel der Haushalte hat
    solche Vorräte angelegt. Passt schon. Ein sorg-
    loses Völkchen, wenn’s um die Nudel geht.
    Deshalb hat sich jetzt eine anbetungswür-
    dige Allianz des funktionierenden Gemein-
    wesens diese Abhilfe ausgedacht: virales Mar-
    keting! Die Feuerwehr Bonn, der THW-Orts-
    verband Beuel, der Malteser Hilfsdienst und
    andere geben ein Kochbuch für stromlose
    Zeiten heraus, und um die Einreichung von
    Bürger-Rezepten zum Wettbewerb wird nun
    gebeten. Gekocht wird auf der Höhe der Zeit:
    ohne elektrische Küchengeräte, ohne Leitungs-
    wasser. Nudel roh reicht nicht. Zur weiteren
    Aufklärung bei Gefahr hat das Bundesamt für
    Zivilschutz eine App eingerichtet, namens
    NINA. ELISABETH VON THADDEN


Wer sorgt für


die Nudeln?


Für alle Fälle: Jetzt sind
Kochideen für Notlagen gefragt

Kann man auch kalt
essen: Büchsengut,
auf Vorrat

FEUILLETON 49



  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


Fortsetzung auf S. 50

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