Die Zeit - 27.02.2020

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Die Sachbuch-Bestenliste für März


Was heißt es, jüdisch zu sein? Und wer bestimmt darüber? Die französische Rabbinerin
Delphine Horvilleur ist eine prominente Stimme des liberalen Judentums. In ihrem
Essay diskutiert sie moderne jüdische Identitätspolitik, beleuchtet die
Verquickungen zwischen Judenhass und Frauenfeindlichkeit und spannt dabei den
Bogen vom Talmud bis zur politischen Gegenwart. Ein weitsichtiges Buch. 50 Punkte

Delphine Horvilleur:
Überlegungen zur Frage
des Antisemitismus
A. d. Franz. v. N. Denis;
Hanser Berlin; 160 S., 18,– €
1 (–)

Wie kann man sprechen, ohne in Klischees zu verfallen? Welche Kategorien gibt es,
die Menschen nicht in Schubladen steckt? Darüber schreibt die Journalistin
Kübra Gümüşay. Sie sucht eine Sprache, die gemeinschaftliches Denken zulässt, ohne
Differenzen zu kaschieren. Ein Pamphlet für eine Gesellschaft, deren Mitglieder trotz
wachsender Unterschiede mit ein an der reden können. 41 Punkte

Kübra Gümüşay:
Sprache und Sein
Hanser Berlin;
208 S., 18,– €

3 (5)


Es ist die intime Fantasie vieler Frauen, den Partner zu betrügen. Doch der Wunsch ist
schambeladen. Ob antike Tragödien, moderne Dramen oder Netflix-Serien –
untreue Frauen gelten als krank oder gefährlich. Warum ist das so? Die Anthropologin
Wednesday Martin erzählt die Geschichte der Untreue und räumt mit allen Klischees
auf. Das Buch ist frech, aufregend und klug. 42 Punkte

Wednesday Martin:
Untrue
A. d. Engl. v. N. Frey;
Berlin Verlag; 432 S., 22,– €
2 (–)

Ernst Kantorowicz war als Historiker eine originelle Figur. In der Weimarer Republik
positionierte er sich als junger Konservativer und Jünger Stefan Georges. Nach der
Machtergreifung Hitlers musste er als Jude in die USA fliehen. Weshalb stand
Kantorowicz erst rechts von Hindenburg, um schließlich Kennedy links zu überholen?
Robert E. Lerner zeigt die Widersprüche eines einzigartigen Geistes. 37 Punkte

Robert E. Lerner:
Ernst Kantorowicz.
Eine Biographie
A. d. Engl. v. T. Gruber;
Klett-Cotta; 554 S., 48,– €
4 (–)

Die CSU sah sich in Bayern jahrzehntelang als konkurrenzlose Staatspartei. Doch
diese Zeiten sind vorbei. Die CSU-Herrlichkeit wankt, und es ist ungewiss, ob sie ihre
Machtposition im Freistaat behaupten kann. Roman Deininger beobachtet die CSU
seit vielen Jahren für die »Süddeutsche Zeitung«. Sein Parteienporträt ist kritisch, fair
und nicht zuletzt ungemein unterhaltsam. 36 Punkte

Roman Deininger:
Die CSU. Bildnis einer
speziellen Partei
C. H. Beck; 352 S., 24,– €
5 (–)

Die Ökonomen Esther Duflo und Abhijit Banerjee haben 2019 für ihre Studien zur
Linderung der Armut den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Nun erscheint ihr neues
Buch, das die größten Herausforderungen der Weltwirtschaft thematisiert: wachsende
Ungleichheit, Globalisierung, Umweltkatastrophen, Populismus. Die beiden plädieren
für eine Politik, die Reiche besteuert und Armen eine Stimme verleiht. 34 Punkte

A. Banerjee/E. Duflo:
Gute Ökonomie für harte
Zeiten
A. d. Engl. v. T. Schmidt et al.;
Penguin; 560 S., 26,– €
6 (2)

Dora Benjamin war die Frau von Walter Benjamin, aber vor allem eine Intellektuelle:
Sie schrieb über Musik und Philosophie und verfasste Romane. Eva Weissweiler hat
die Beziehungsgeschichte zwischen Dora und Walter Benjamin untersucht. Ihre
Biografie wirkt wie Serienstoff: Zuneigung, Affären, das erste Kind, schließlich die
Scheidung – und überall stets der rigorose Eigenbrötler Walter Benjamin. 34 Punkte

Eva Weissweiler:
Das Echo deiner Frage.
Dora und Walter Benjamin
Hoffmann und Campe;
383 S., 24,– €
6 (1)

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani analysiert die Probleme des deutschen
Bildungssystems. Dabei geht es ihm nicht um eine Revolution. Stattdessen zeigt er,
dass der Ruf nach Bildung nur dann fruchtet, wenn die Gesellschaft ihre zentralen
Probleme löst: soziale Ungleichheit, Populismus und fehlende Digitalisierung. Grund-
these: Bildungspolitik ist nur so gut wie das System, in dem sie stattfindet. 25 Punkte

Aladin El-Mafaalani:
Mythos Bildung
Kiepenheuer & Witsch;
320 S., 20,– €
8 (–)

Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknaben-Konvikts
Stift Zwettl in Österreich. Er war religiös, wollte Priester werden, er liebte die Kirche.
Doch diese Liebe endete fatal. In seinem neuen Buch »Mein Fall« erzählt der
österreichische Schriftsteller die verstörende Geschichte seines Missbrauchs im
katholischen Internat. 25 Punkte

Josef Haslinger:
Mein Fall
S. Fischer; 144 S., 20,– €
8 (–)

Asien funktioniert anders als der alte Westen, schreibt Parag Khanna: flexibler,
pragmatischer, besser. Dass Asien das Modell von morgen sei, steht für den Politikwis-
senschaftler außer Frage. Sogar das Kino und die Mode seien besser. Grund zur Sorge
gebe es trotzdem nicht, lautet Khannas Botschaft an unsere westliche Welt. Denn am
Ende profitierten alle von den Entwicklungen auf dem Kontinent. 25 Punkte

Das Attentat auf das World Trade Center in New York war das entscheidende Ereignis
unseres Jahrhunderts. Erst jetzt kann man angemessen von 9/11 erzählen: Mitchell
Zuckoff rekonstruiert jede Minute aus der Perspektive der Opfer. Er folgt den
Passagieren in den Flugzeugen, den Menschen in den Türmen und im Pentagon sowie
den Passanten auf der Straße. Eine Chronik voller Mut und Selbstlosigkeit. 25 Punkte

Parag Khanna:
Unsere asiatische Zukunft
A. d. Engl. v. N. Juraschitz;
Rowohlt Berlin; 496 S., 24,– €

Mitchell Zuckoff: 9/11.
Der Tag, an dem die Welt
stehen blieb
A. d. Engl. v. T. Schnettler;
S. Fischer; 704 S., 28,– €

8


8


(–)

(–)

L


aut Umfragen nehmen antisemiti-
sche Einstellungen zu; immer wie-
der ist in den Nachrichten von
antisemitischen Übergriffen die
Rede. Anlass genug also, sich auch
über den Antisemitismus-Begriff genauere
Gedanken zu machen: etwa darüber, wie sich
Antisemitismus und andere Formen von
Rassismus scharf von ein an der trennen lassen.
Oder – auch wenn es manch einen überraschen
mag – über den Zusammenhang von Antise-
mitismus und Frauenfeindlichkeit.
Genau das tut Delphine Horvilleur in ih-
rem Essay Überlegungen zur Frage des Anti­
semi tis mus. Es ist das erste Buch, das von der
in Frankreich prominenten feministischen
Autorin auf Deutsch erscheint. Horvilleur,
eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs,
wählt dabei einen vielleicht ungewöhnlichen,
nämlich theologischen Zugang: Das Phäno-
men Antisemitismus untersucht die 45-Jährige
anhand von Bibelstellen und Talmud-Texten
und liefert dabei erhellende Einblicke in exege-
tische Diskussionen der rabbinischen Tra di-
tion. Solche Betrachtungen alter religiöser
Schriften bergen erstaunlicherweise großen
Erkenntnisgewinn für die Gegenwart. Zugäng-
lich geschrieben, lässt der Essay zudem auch
diejenigen Leser nicht auf halber Strecke
zurück, die sich bisher mit Antisemitismus und
Judentum nicht tiefergehend aus ein an der ge-
setzt haben.
Horvilleur schaut genauer auf die Bedeu-
tung vermeintlich altbekannter Aspekte des
Judentums; so etwa die Bezeichnung »auser-
wähltes Volk«, über deren Bedeutung Antise-
miten laut Horvilleur besser Bescheid zu wis-
sen meinen als Juden selbst. Aber was für den
Antisemiten von Arroganz zeugt, ist im
Judentum kein unumstrittener Begriff. Es
finden sich, wie Horvilleur zeigt, über das
Auserwähltsein unterschiedliche Hypothesen;
und schon die Übersetzung »auserwähltes
Volk« aus dem Hebräischen sei unzulänglich.
Es sind vermeintliche Privilegien, die beim
Antisemiten Neid erzeugen. Anders als bei an-
deren Formen von Rassismus hasst der Antise-
mit den Juden laut Horvilleur nicht für das,
was der andere weniger, sondern für das, was er
angeblich mehr hat – und was dem Hassenden
zugleich fehlt; sei es Macht oder Geld. Juden
sind in den Augen des Antisemiten gemäß
Horvilleur zugleich diejenigen, die Integrität
und Einheit stören, ob bezogen auf die natio-
nale Einheit oder den Weltfrieden – denken
wir etwa an das heutige, bedrohlich überzeich-
nete Bild von Israel. Die Juden seien dabei
»immer ein bisschen zu ähnlich und immer ein
bisschen zu anders«, schreibt sie.
Religiöse Schriften untersucht Horvilleur
auf antisemitische Archetypen hin und er-
klärt, wie Feinde in der jüdischen Tra di tion
durch die Geschichte hinweg mit der bibli-
schen Figur des Amalek (übersetzt: »derjenige,
der kein Volk hat«), jenes Enkels von Esau, as-
soziiert werden, der die Hebräer nach dem
Auszug aus Ägypten in der Wüste überfällt.
Horvilleur geht genealogischen Nachfolgen in
der Bibel nach, um dem Ursprungshass auf die

Spur zu kommen – im Talmud werden später
die Römer als Nachkommen Esaus vorgestellt.
Dabei macht sie überzeugend deutlich, dass
Antisemiten und Juden stets gemeinsam auf-
treten und kaum von ein an der zu trennen sind.
Sie zeigt, wie sich Juden aus dem Blickwinkel
von Antisemiten betrachten lassen und wie tief
dieser Blick des Hassenden in jüdischen
Schriften verankert ist; der Blick des anderen,
der jüdische Identität mitdefiniert.
Immer wieder bezieht sich Horvilleur dabei
auf Jean-Paul Sartre. Er habe den Juden gewis-
sermaßen als Produkt des antisemitischen
Blicks definiert, schreibt sie – und wider-
spricht: »Ich glaube nicht, dass mein Juden-
tum erschöpfend durch das definiert wird, was
der Antisemitismus aus ihm gemacht hat.« Es
sei jedoch schwierig, das authentische Wesen
des Jüdischseins zu beschreiben: »Und wo-
möglich ist genau dieses Unsagbare die beste
De fi ni tion, die ich zu geben vermag, eine
authentische, unmögliche Umschreibung des
Jude- und Ich-selbst-Seins.« Hier macht
Horvilleur einen Raum auf zum Weiterden-
ken – lässt den Leser aber leider gleichsam im
Leeren stehen.
Es ist nicht nur die exegetisch begründete
Gleichzeitigkeit von Juden und Antisemiten,
die den Essay interessant macht. Vielmehr
wird hier der Antisemitismus auch unter dem
Vorzeichen eines Kampfes der Geschlechter
betrachtet. So springt die Feministin vom Tal-
mud in die Moderne, untersucht das Klischee
des verweiblichten jüdischen Mannes und
macht zwischen Frauenfeindlichkeit und Anti-
semitismus durch die Geschichte hinweg
Parallelen aus. »Die Verweiblichung des Juden
im politischen Diskurs«, schreibt sie, »dient im
Allgemeinen dazu, den verjudeten Mann als
schwach dastehen zu lassen, wenn nicht gar als
Manipulierer, Hysteriker oder Opportunisten


  • alles Entlehnungen aus der traditionellen
    frauenfeindlichen Rhetorik, die das machtaus-
    übende Individuum disqualifizieren.« Als
    Rabbinerin spricht die Autorin dabei natürlich
    aus einer Minderheitenposition.
    Auch wenn Horvilleur in ihrem Essay vor
    allem historisch argumentiert, drängen sich
    aktuelle Verbindungen auf. So geht die Autorin
    etwa auch auf den Zweck ein, den der Antise-
    mitismus im Weltbild radikaler islamischer
    Jugendlicher erfüllen soll. »Der Hass gegen die
    Juden dient gewissermaßen als Lückenfüller«,
    schreibt sie; er fülle die Löcher der eigenen
    Identität. An solchen Stellen hätte sich der
    Leser mitunter deutlichere Bezüge zu dem
    Frankreich von heute gewünscht, die leider
    ausbleiben. Dennoch lohnt die Lektüre von
    Horvilleurs Buch. Geboren aus der Bewegung
    des liberalen Judentums, gibt ihr Essay erfri-
    schende Einblicke in innerjüdische Debatten
    und ist darüber hinaus gerade angesichts des
    erneut grassierenden Antisemitismus in Eu-
    ropa leider hochaktuell.


Delphine Horvilleur:
Überlegungen zur Frage des Antisemitismus.
A. d. Franz. v. Nicola Denis; Hanser Berlin,
Berlin 2020; 160 S., 18,– €, als E-Book 13,99 €

LITERATUR


Der Blick des


Hassenden


Ein origineller Essay der feministischen Rabbinerin Delphine Horvilleur
über das Verhältnis von Juden und Antisemiten VON LEA DE GREGORIO

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56 FEUILLETON 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


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Dieletzten Tage der


Virginia Woolf


Berrührendund virtuos–der neueRoman


vonnMichael Kumpfmüller über dieg roße


Schriftstel lerinund Essayisti n.


Eiineindr ückliches literarischesPorträt.


Michael Kumpfmüller liest:
Termine unter http://www.ki wi-v erlag.d e/A chVirginia

Foto:

©J

oachim Gern

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otiv:

©R

üdiger

Trebels
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