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er Mauerfall- und Wende-
roman ist ein gut einge-
führtes Genre der deut-
schen Gegenwartsliteratur.
Man denke nur an Thomas
Brussig, an Ingo Schulze
oder Uwe Tellkamp. Doch
Lutz Seiler macht in seinem neuen Roman Stern
111 alles anders. Und plötzlich erscheint ein
historisches Geschehen, das wir auswendig zu
kennen meinten, wieder wie neu – als wäre es ein
unverbrauchter Stoff.
Wie macht Seiler das? Er hat die Kamera für
seinen Roman einfach an einen anderen Ort ge-
stellt, nicht dorthin, wo der Mantel der Geschich-
te weht, die Menschen im Freudentaumel auf der
Mauer tanzen und Lenny Bernstein Beethovens
Neunte Sinfonie dirigiert, weil jetzt zusammen-
wächst, was zusammengehört, sondern an einen
Ort, an dem der historische Epochenbruch als eine
unwahrscheinliche Gelegenheit gedeutet wird, sich
aus allen Systemzwängen zu befreien: Die Bonzen
der DDR ist man losgeworden, nun gilt es, sich
nicht von den Bonzen des Kapitalismus kassieren
zu lassen. Ein kurzer Winter der Anarchie gewis-
sermaßen (auch wenn Seilers Roman die Jahre 1989
bis 1994 umspannt), in dem die alte Ordnung zu-
sammengebrochen ist, aber die neue noch nicht
greift im Dickicht der Großstadt.
Lutz Seiler, Jahrgang 1963, ist Lyriker und
Romancier. Mit seinem Roman Kruso, der auf
Hiddensee in den Spätjahren der DDR spielte,
gewann Seiler den Deutschen Buchpreis. Kruso
endete mit dem Fall der Mauer, Stern 111 setzt da-
mit ein. Beide Romane erzählen von einem Son-
dermilieu, einer Gegenkultur. Vielleicht ist Seilers
neuer Roman im Zugriff auf den Stoff und die
Erzählweise sogar noch zwingender als Kruso.
Die DDR geht unter, und es entsteht für einen
kurzen Moment ein Machtvakuum, das sich wie
eine konkrete Utopie anfühlt. In den Ruinen der
Hauptstadt der DDR versammelt sich eine Gesell-
schaft, von der man nicht genau sagen kann: Ist sie
jetzt Bo heme oder Stadtguerilla? Ist das
Punk oder anarchistische Romantik?
Revolte oder Kommune? Jedenfalls wit-
tert dieses Milieu (das es schon zu DDR-
Zeiten gab) Morgenluft und besetzt sys-
tematisch zwischen der Oranienburger
Straße in Berlin-Mitte und der Ryke-
straße in Prenzlauer Berg Häuser und
rüstet sich für den Abwehrkampf, bevor
die Alteigentümer ihre Besitzansprüche
anmelden. »Die ganze Welt wird neu
verteilt in diesen Tagen.«
In dieses Milieu aus Künstlern, Anar-
chisten, neu eingetroffenen Nutten aus
Ost euro pa und Rotarmisten, die frustriert
auf ihren Abzug warten, purzelt Carl Bi-
schoff, ein junger Mann aus Thüringen.
Während es sonst die Kinder sind, die in
die Welt ziehen, ist es hier andersherum:
Carls Eltern haben ihrem Sohn mitgeteilt,
sie hätten einen großen Plan, über dessen
Einzelheiten sie ihn erst später ins Bild setzen könn-
ten, jedenfalls müssten sie sich jetzt, da die Grenze
offen ist, auf den Weg gen Westen machen. Er, Carl,
möge in Gera die Stellung halten und, wie sein
Vater sich ausdrückt, »das Hinterland sichern«.
Doch Carl, ein weicher, suchender, unsicherer
Mensch, der davon träumt, Dichter zu werden, aber
nicht die geringste Vorstellung davon hat, was er
konkret mit seinem Leben anfangen soll, schnappt
sich stattdessen den Shiguli seines Vaters und fährt
nach Berlin. Er kennt dort niemanden, es ist bitter-
kalt, er schläft in seinem Wagen, ein bisschen Geld
verdient er sich als Schwarztaxifahrer, denn die
ersten Touristen, die in den unbekannten Osten
eindringen, finden es lässig, mit einer echten Rus-
senkutsche wie dem Shiguli herumchauffiert zu
werden, einer authentischen Geschichtstrophäe,
vergleichbar einem Stück Berliner Mauer.
Carl gerät an eine Gruppe von Leuten, die er
»das Rudel« nennt, halb Sekte, halb Spaßguerilla,
jedenfalls: ostdeutsche Hausbesetzerszene mit an-
geschlossenem Gastronomiebetrieb. Nachts klauen
sie von den Westberliner Baustellen Werkzeug, das
sie weiterverkaufen, und für die dummen Touristen
betreiben sie einen schwunghaften Handel mit
Mauerstücken. Hoffi ist der inoffizielle Anführer
des Rudels und ein Musterbeispiel für charismati-
sche Führung. Schon allein eine solche Figur
geschaffen zu haben, dafür gebührt Lutz Seiler
unsterblicher Ruhm.
Hoffi wird auch der Hirte genannt, denn er hält
seine Schäfchen zusammen. Dieser Nom de Guerre
ziert ihn aber auch, weil eine Ziege, genannt Dodo,
sein ständiger Begleiter ist, eine Großstadtziege, die
sich im Winter vom Stroh der alten Matratzen (die
von vor Erfindung der Federkernmatratze) ernährt
und die um ihren Hals eine Schweißerbrille trägt
- betrachten wir dies als ein Symbol für die höhere
Allianz zwischen der unbändigen Freiheit der Natur
und der Arbeiterklasse.
Mit seinem Poncho und dem zu einem Zopf
geflochtenen Bart hat der Hirte etwas von einem
alttestamentarischen Propheten, aber zugleich
füllt er jeden Kommandostand aus, denn als
politischer Untergrundkämpfer muss er seine
Truppe zu führen wissen im Kampf gegen die
Kolonisatoren vor den Toren der Stadt.
Hoffi hat einen guten Blick für Menschen.
Sofort sieht er, dass Carl, der eine Maurerlehre
hinter sich hat, gut in die Gemeinschaft passt:
Verkörpert er nicht perfekt die Versöhnung von
Hand- und Kopfarbeit, dieses ewige Ideal des
Kommunismus? »Als Arbeiter, als fahrender Ar-
beiter, hast du all unsere Solidarität verdient,
Shigulimann.«
Außerdem gilt es, im Souterrain eines besetzten
Hauses in der Oranienburger Straße eine Kneipe,
die Assel, zu bauen, da sind Carls Maurerfertig-
keiten gefragt, der seinerseits froh ist, als Dichter
mit Selbstzweifeln nicht den ganzen Tag auf ein
leeres weißes Blatt Papier starren zu müssen, son-
dern sich nützlich machen zu können –
denn er ist einer, wie sein Vater zu sagen
pflegte, der »Arbeit sieht«.
Rasch hat man Carl in einer leer
stehenden Wohnung in der Rykestraße
einquartiert. Bei einer Vernissage trifft
er auf Effi, eine Freundin aus Schulzei-
ten. Und er merkt: Er ist noch immer
in sie verliebt. Aber als skrupulöser
Zaungast des Lebens, der wie im Wach-
traum durch seine Tage taumelt, fehlt
ihm der rechte Schwung zur guten
Laune, um Effi wirklich von einem ge-
meinsamen Leben zwischen Assel und
Rykestraße zu überzeugen.
In diesem Roman wimmelt es nur so
von Spitznamen. Das ist kein Zufall. Der
Spitzname ist ein zweiter Taufakt. Und
auch jede politische Utopie träumt davon,
alles neu zu benennen, um der Prosa der
Verhältnisse zu entkommen. Die Größe
von Seilers Roman besteht genau darin: Er zeigt
anschaulich und gewitzt, wie das Politische und das
Poetische zusammenfallen. Carl träumt von einem
»poetischen Dasein«, und auch der Hirte achtet in
seinen missionarischen Reden darauf, durch eine
eigene Sprache seinen politischen Gemeinschafts-
körper zu formen.
»Hoffi hasste das übliche Vokabular, er hasste
die Worte ›Infoladen‹ und ›soziokulturell‹ und
hatte es bislang verstanden, ihren Gebrauch zu
unterbinden, jedenfalls im Kreis des eigenen Ru-
dels; ›nicht diesen Rübensirup‹, hatte der Hirte
gesagt, was auch immer damit gemeint war.«
Irgendwie ist das Rudel auch ein fernes Echo des
George-Kreises, zwar von eher proletarischen als
aristokratischen Idealen inspiriert, aber klar von
einem Elitebewusstsein durchdrungen. Wie der
Hirte will auch Carl auf keinen Fall die verbrauch-
»Die Häuser
denen, die
drin wohnen«
Lutz Seilers neuer Roman »Stern 111« erzählt
von 1989 – aber in Wahrheit von Glanz und Elend
der politischen Romantik VON IJOMA MANGOLD
LITERATUR
te Sprache des Allgemeinen sprechen: »Niemand
konnte abstreiten, dass ›Lyrik‹ ein abstoßendes Wort
war, ein Wort, das Ekel erregte. ›Lyrik‹ war ein Würgen
im Hals, spätestens beim ›-ik‹ war alles erstickt. Ein
Lyriker und seine Lyrik – wozu, wenn es Dichter gab
und ihre Gedichte?«
Stern 111 ist ein politischer Roman, aber nicht,
weil er von einer zentralen politischen Umbruchs-
epoche erzählt, sondern weil er den Glutkern alles
Politischen, dessen Doppelnatur freilegt: die Ein-
heit von poetischer Schwärmerei und Revolutions-
mystik. Es ist ein Roman über die bohemistische
Seite der politischen Romantik. Dichterische und
politische Einbildungskraft leben vom selben Glau-
ben an die Fantasie: dass die Welt neu benannt, ver-
ändert und also romantisiert werden kann.
Lutz Seiler kann das Lächerliche, Überhitzte und
auch Gewissenlose jeder politischen Romantik be-
schreiben, ohne den ursprünglichen Impuls denun-
zieren zu müssen. Darin ist Stern 111 große Literatur.
»Schon eure zahl ist frevel«, heißt es bei Stefan
George. Die Zeile könnte den Mitgliedern des Rudels
auch über die Lippen gehen. Von den Rufen »Wir sind
ein Volk« jedenfalls dringt nicht einmal ein Echo in
die Assel. Im Gegenteil, der Fall der Mauer, den man
in dieser Szene nur den »sogenannten Fall der Mauer«
nennt, ist Ansporn, eine imaginäre Mauer zu errichten,
um den eigenen Kiez vor der Banalität des Westens zu
bewahren: ein antikonsumistischer Schutzwall. Des-
halb betreiben sie auch so einen Kult um Handarbeit
und Proletarierstolz: um sich von der erniedrigenden
westlichen Massenkultur abzusetzen, zu deren Märk-
ten sie durch die Wäh rungs union (und das Begrü-
ßungsgeld) Zugang erhalten haben.
Als Carl das erste Mal löslichen Kaffee zubereitet,
schaut er sich die Kaffeedose genauer an. »Carl las das
Etikett: Nestlé Deutschland. Auch Carl kam jetzt aus
Deutschland – er versuchte, es zu fühlen.« Will man
wirklich zu »Nestlé Deutschland« gehören?
Auch wenn Seiler den Geist der untergegangenen
DDR zwischen Mangelwirtschaft und Gehirnwäsche
nachzeichnet, spielt Sprache die zentrale Rolle. Carls
Mutter kommt aus bäuerlichen Verhältnissen, arbei-
tete dann aber im Backwarenkombinat Gera, und zwar
in einer Abteilung, deren Aufgabe es war, »kostbare
Rohstoffe einzusparen und dafür einen ›Ersatz‹ zu
kalkulieren: Statt Mandeln zum Beispiel Apfelkerne.
Und grüne Tomaten statt Zitronat.« Natürlich geht es
dabei nicht ohne Sprachregelungen: »Im vergangenen
Jahr hatte man auch den Begriff ›Ersatz‹ ersetzt, jetzt
hieß es ›Austausch‹.« Das alles ist unendlich subtil ge-
arbeitet und unausdeutbar anspielungsreich. Warum
ostdeutsch sozialisierte Intellektuelle empfindlich auf
die wohlgemeinten Sprachrituale der politischen
Korrektheit reagieren, wird in einem solchen kleinen
erzählerischen Detail unmittelbar fassbar.
Der Westen, um den Carl schon aus elitärem
Dichterbewustsein einen großen Bogen macht, den
erschließen sich seine Eltern auf mutige Weise.
Mehr sei zu dieser Wendung der Geschichte nicht
verraten. In der Wirklichkeit wird die Assel, die es
tatsächlich gab, übrigens ein erfolgreiches Ge-
schäftsmodell, denn nichts konnte sich der neue
Erlebniskapitalismus besser zu eigen machen als die
dort zelebrierte Form kultureller Dissidenz. Stern
111 ist ein Wenderoman, der von Leuten erzählt,
die unter dem Hauptstrom der Geschichte durch-
zutauchen hofften, um im Namen der Poesie und
des Straßenkampfes ein romantischeres Leben füh-
ren zu können, als es der Kapitalismus verheißt.
A http://www.zeit.deeaudio
1990: Besetztes Haus in der Berliner Kastanienallee
Foto: Detlev Konnerth/imago
Lutz Seiler:
Ster n 111.
Roman;
Suhrkamp,
Berlin 2020;
528 S., 24,– €,
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It’s tough, kid,
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©LÊMRICH
rowohlt.de