Die Zeit - 27.02.2020

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62 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


»Ein starker innerer Druck


lässt sie die Fantasie entwickeln,


schnell ans Ziel zu müssen,


auch wenn gar nicht klar ist,


was das Ziel ist«


s heißt oft, die jungen Menschen litten
heute unter Luxusproblemen. Sie wüssten
nicht mehr, was echter Leidensdruck sei.
Da muss ich als Erstes fragen: Was ist
echtes Leiden? Und was nicht? Wer legt
das fest?
Solche Klagen erinnern mich an das
eingespielte Ritual, bei dem sich Ältere
über Jüngere beschweren. Es kehrt bei
jedem Generationenwechsel wieder.
Aber manchmal erschrecke auch ich
darüber, mit welch unerbittlicher Strenge
jüngere Patientinnen auf sich und ihr
junges Leben blicken, wie sie sich selbst
fertigmachen, manchmal regelrecht be-
schimpfen, was ja nichts anderes ist als
gegen sich selbst gerichtete Aggression.
Manche Lebensentwürfe sind wie auf
dem Reißbrett entworfen. Listen werden
abgearbeitet: Das habe ich, das fehlt noch.
Da ist der starke Wunsch, beruflich wirk-
lich gut voranzukommen, einen guten
Partner zu finden, eine fantastische Mutter
zu werden. Für all diese Dinge gibt es den
vermeintlich richtigen Zeitpunkt, es gilt
ihn bloß perfekt abzupassen. Und wenn es
nur der richtige Zeitpunkt ist, Eizellen
oder Samenzellen einfrieren zu lassen. Am
liebsten noch die Verbeamtung, um damit
ganz auf der sicheren Seite zu sein.
Diesen Kontrollwahn beobachte ich der-
zeit bei jungen Frauen um die 30 besonders.
Diese Frauen machen einen Plan, und der

wird durchgezogen. Da herrscht ein ganz
starker normativer Druck. Auch wenn der
Job einen unglücklich macht. Der Partner
doch nicht der richtige ist. Ich würde diese
Art der Lebensführung fast schon eine
verinnerlichte Normopathie nennen.
Aber was ist, wenn die Dinge nicht
immer so laufen, wie man sie plant? Das
Bewusstsein für eine gewisse Unwägbar-
keit scheint den Menschen immer mehr
abzugehen. Gibt es noch Schicksalsschlä-
ge? Ein Unglück? Oder nur schlechte
Haftpflichtversicherungen?
Wir haben uns früher als Peergroup
mit einem sehr überschaubaren Klassen-
verband verglichen. Heute umfasst die
Vergleichsgruppe den ganzen Globus.
Eine unendliche Fülle an Informationen
steht übers Internet bereit. Eine Flut von
Selbstoptimierungsratgebern vermittelt den
Eindruck: Wenn du nicht bekommst, was
du willst, hast du persönlich versagt. Grö-
ßenfantasien – die eigentlich dazu die-
nen, in einer bestimmten Lebensphase
das Selbst(wert)erleben zu stabilisieren,
bevor sie sich dann mit der Realität ver-
söhnen – bleiben für nicht wenige länger
wirksam und werden zur Qual. Fehler,
falsche Entscheidungen bekommen so
eine ungeheuer aufgeladene Bedeutung.
Die Sehnsucht danach, auf nichts im
Leben verzichten zu müssen, nach Gren-
zenlosigkeit hält auch Einzug ins Liebes-

leben. Stichwort Polyamorie. Es wird viel
experimentiert mit Dreierbeziehungen,
mit offenen Beziehungen.
Das tragende Gefühl ist das der Lebens-
gier. Auch hier scheinen die Frauen experi-
mentierfreudiger. Sie möchten die ganze
Welt umarmen, alles möglichst ekstatisch
erleben. Am allerliebsten wäre es ihnen, sie
lebten gemeinsam mit Ehemann und Lieb-
haber und Kindern fröhlich unter einem
Dach. Auch der Mann dürfte Liebhabe-
rinnen haben, und auch die dürften ein-
ziehen. Jeder darf mitmachen. Aber dann
überkommt sie ein Gefühl der Verwunde-
rung, dass die Kräfte dafür nicht ausrei-
chen. Dass sie ausgebrannt sind und sich
verloren fühlen. Und das unbestimmte
Gefühl haben, sie liefen vor etwas weg.
Wenn ich nachfrage, wie es sich eigent-
lich mit den womöglich hin und wieder auf-
kommenden Schattenseiten einer solchen
Ménage-à-trois (oder mehr) verhält, also
dem Gefühl der Eifersucht, mit stechenden
Selbstwertzweifeln, Vergleichen, Kränkung,
Verlassenheitsängsten, also all den klassi-
schen Gefühlen romantischer Liebe, die ich
bisher für doch recht langlebig gehalten
habe, sagen sie mir ganz überzeugt: Solche
Gefühle kenne ich nicht. Und weiter: Man
darf doch niemanden besitzen wollen. Frage
ich, was denn beispielsweise er dazu sagt,
wenn sie den Tag bei ihrem Liebhaber ver-
bringt, sagt sie: Der fragt nicht nach.

Befreit euch!

VON PETRA HOLLER

Illustration: Stefan Mosebach für DIE ZEIT

Diese Abgeklärtheit der jungen Frauen
in Sachen Polyamorie irritiert mich. Ich
frage mich: Stimmt die? Verspüren diese
Frauen und Männer tatsächlich die ur-
menschlichsten Aggressionen nicht mehr?
Was steckt dahinter? Eine Neuauflage ei-
ner alten Ideologie, nur dass heute die
Frauen eher die Oberhand haben und
sich nicht mehr so schlecht behandeln
lassen wie zu 68er-Zeiten?
Ich muss bei diesen Patientinnen an das
Buch der Schriftstellerin Lola Randl den-
ken, Der große Garten. Sie beschreibt darin
ihre offene Beziehung und das Leben vor
den Toren Berlins. Es ist stellenweise lustig.
Aber eigentlich ging es mir sehr auf die
Nerven. So sind wir Menschen nicht.
Gewaltfreie Kommunikation und Bezie-
hungsexperimente schön und gut, aber dass
diese große, ewig währende Harmonie
möglich ist, halte ich für Kitsch.
Dass wir Menschen es miteinander
aushalten, liegt schlicht und ergreifend
daran, dass wir unsere aggressiven, de-
struktiven und selbstsüchtigen Impulse
einigermaßen im Griff haben. Sie zu ver-
neinen, zu leugnen, dass man jemanden
auch mal weghaben will, dass man an
erster Stelle stehen will, dass man mal auf
den Tisch hauen will, halte ich für fahr-
lässig. Ich habe den Eindruck: Da werden
Grenzen verleugnet, die ihren Sinn ha-
ben, unattraktive Empfindungen einfach
unter den Teppich gekehrt.
Oder stimmt etwas mit mir nicht mehr?
Sind meine Theorien überholt? Ich weiß
nur: Ich halte Eifersucht, Enttäuschungen,
Trennungsschmerz für existenziell wichtige
Erfahrungen, die einen reifer machen.
Ruhiger. Es kann entlastend sein, sich ein-
zugestehen: Es geht eben nicht alles. Am
Ende kommt sowieso niemand an der Er-
fahrung der Begrenztheit vorbei. Spätestens
wenn man das erste Mal körperlich schwer
krank wird oder jemand Wichtiges stirbt,
muss man sich damit auseinandersetzen,
dass eben doch nicht alles möglich ist.
Aber wir leben in einer zunehmend ent-
grenzten Welt. Nicht nur moralisch, son-
dern auch politisch, geografisch und tech-
nologisch. Wer nicht verloren gehen will,
muss selbst Grenzen setzen. Das ist schwer
und bedeutet einen enormen Kraftauf-
wand. Viele scheitern schon daran, die Zeit,
die sie mit ihrem Handy verbringen, so zu
begrenzen, dass es ihnen damit gut geht.
Das ist das andere große Thema mei-
nes Praxisalltags mit jungen Menschen:
Ich nenne es die permanente Verkabelung.
Sie werden keinen älteren Patienten im
Wartebereich sitzen sehen, der auf seinem
Smartphone herumtippt oder mit riesi-
gen Micky-Maus-Ohren auf dem Kopf
kommt. Manche jüngere Patienten er-
scheinen verstöpselt und gehen verstöpselt
wieder in die Welt hinaus. Ich frage mich
dann, ob und wie das Besprochene nach-
wirkt, wenn man gleich im Anschluss die
elektronische Nabelschnur wieder rein-
steckt. Denken sie nach über das, was wir
besprochen haben? Mit welchen Gefüh-
len, Fantasien, Assoziationen kommen sie?
Und mit welchen gehen sie? Was passiert
in der Zeit zwischen den Sitzungen? Wel-
che Beziehungsfantasie einer therapeuti-
schen Begegnung kommt hier zum Tra-
gen? Psychotherapie als Konsum?
Ich beobachte bei diesen jungen Pa-
tienten auch zunehmend, dass ihnen das
Konzept des Tagträumens ganz fremd ist.
Ich frage sie: Stellen Sie sich vor, Sie sit-
zen im Zug und die Landschaft zieht an
Ihnen vorbei. Was steigt denn da an
Wünschen, Sehnsüchten und Bildern in
Ihnen auf? Doch viele wissen gar nicht,
was ich damit meine. Weil sie diese Mo-
mente der Stille nicht mehr kennen.
Manchmal frage ich mich deshalb:
Können auch psychische Zustände aus-
sterben? Weil das Gehirn nicht mehr ent-
sprechend gefordert wird? Tagträumen.

Langeweile. Sehnsucht. Hin-Warten auf
etwas. Wie verändert sich unser Denken?
Auf einer Konferenz von Psychoanalyti-
kern vor einigen Monaten meinte ein
erfahrener und sehr geschätzter Kollege,
ob wir nicht das freie Assoziieren als
Weltkulturerbe eintragen lassen sollten.
Meine jungen Patienten kommen mit
existenziellen Fragen und Konflikten. Sie
leiden oft an sich selbst am allermeisten
und sind wie gefangen. Ein starker inne-
rer Druck lässt sie die Fantasie entwickeln,
schnell ans Ziel zu müssen, auch wenn gar
nicht klar ist, was das Ziel ist. Sie haben
große Angst, sich falsch zu entscheiden.
Dass Entscheidung immer Verzicht be-
deutet, ist für sie kaum auszuhalten.
Sie möchten gesagt bekommen, was
sie tun sollen. Sie möchten die Verant-
wortung abgeben und dadurch ihre
Ängste binden. Doch dahinter steht nur
der Wunsch, diesen Druck loszuwerden.
Würde es reichen, einfach nur Vor-
schläge oder Ratschläge von Dritten zu
erfragen und umzusetzen, bräuchte es
keine Psychotherapie. Dann müsste man
nur aus der Flut an pädagogischen Hand-
reichungen und Selbsthilfe-Apps aus-
wählen. Aber ganz offenkundig reicht das
in manchen Fällen nicht aus.
Sonst kämen die Patienten nicht. Und
sie würden auch nicht bleiben. Ganz of-
fenkundig suchen sie noch etwas anderes.
Meine Aufgabe als Mensch mit etwas
mehr Lebenserfahrung ist es, gemeinsam
mit ihnen zu verstehen, was sie innerlich
gefangen hält. Welche Ängste sie hem-
men. Ich kann Hypothesen in den Raum
stellen, nachfragen, konfrontieren. Ihnen
einen Spiegel vorhalten.
Ob meine Kommentare von Patien-
ten als etwas gesehen werden, worüber sie
nachdenken möchten, was sie neugierig
auf sich selbst machen könnte, ob sie sich
also selbst für sich interessieren möchten,
muss ich ihnen überlassen.
Manchmal mute ich ihnen mein in-
teressiertes Schweigen zu, beispielsweise
wenn ich gefragt werde:
»Sagen Sie mir doch, was ich tun soll!«
Oder: »Ja, und jetzt?«
Ich: »Ja, das weiß ich auch nicht. Was
taucht denn in Ihnen auf?«
Das Liegen auf der Couch kann sehr
helfen, sich ohne Ablenkung mehr auf
sich zu konzentrieren. Es konfrontiert die
Patienten mit sich selbst. Patienten kön-
nen nicht schauen, wie die Therapeutin
reagiert, ob sie die Stirn runzelt, wie sie
guckt. Aber genau darum geht es, um
diese Verunsicherung und den Wunsch,
sich sofort am Gegenüber auszurichten
und sich anzupassen, erst einmal auszu-
halten und dadurch mehr Vertrauen in
die eigenen Gedanken und Gefühle zu
gewinnen. Aushalten, dass man nicht
alles im Leben kontrollieren kann.
Es gibt ein wunderbares Buch, es heißt
Anarchie der Stille, von dem Philosophen
Hans Saner, einem Schüler Karl Jaspers’.
Wenn ich mich in die Stille begebe, droht
dann etwas Anarchisches, Chaotisches, der
Kontrollverlust? Was passiert dann? Das
kann Ihnen niemand beantworten, das
können Sie nur erfahren, wenn Sie es aus-
probieren. Eigene Gedanken hochsteigen
lassen, sie ertragen. Vieles lässt sich nun
einmal nicht lösen. Die große Harmonie
ist eine Utopie. Es gab sie in der ganzen
Menschheitsgeschichte noch nicht.

Petra Holler, Jahrgang 1965, arbeitet seit
mehr als 20 Jahren als Psychotherapeutin.
Sie leitete die Psychosoziale Beratungsstelle
am Studentenwerk München. In ihre
Praxis in Passau kommen nach wie vor
viele junge Menschen

Aufgezeichnet von Mercedes Lauenstein

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