Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Am Montag, den 3. Februar, um 13.25 Uhr, be-
kommt der deutsche Medizinprofessor Christian
Kr ettek eine E-Mail aus Montenegro. Eine An-
frage des Zentralklinikums der Hauptstadt Pod-
gorica. Man wolle ihm einen Patienten über-
weisen: Igor K., montenegrinischer Staatsbürger,
Jahrgang 1985, etl iche Schusswunden. Die le-
bensgefährlichen Verl etzungen im Rumpfbereich
seien operiert worden. Die Einschüsse an den
Extremitäten jedoch bedürften einer weiteren
Be handlung. Man bitte um zügige Verlegung.
Beigefügt sind die Röntgenbilder: ein zer-
splitterter Unterarmknochen. Ein durchs iebter
Oberschenkel. Ein zertrümmertes Knie. Wa-
rum auf Igor K. geschossen wurde, steht nicht
in der E-Mail.
Noch deutet nichts darauf hin, dass dieser
Patient eine deutschlandweite Debatte auslösen
wird, die die Polizei, die Landesregierung und
nicht zuletzt Christian Krettek beschädigen wird.
Kr ettek, 66 Jahre alt, ein sportlicher Typ mit
grau meliertem Haar, leitet die Klinik für Unfall-
chirurgie der Medizinischen Hochschule Hanno-
ver (MHH), eine der renommiertesten der Welt.
Ig or K., 35 Jahre alt, ist ein mutmaßliches
Clan-Mitg lied, »Mafia-Pate« nennt ihn die Bi ld-
Zeitung. 27 Schüsse wurden laut montenegri-
nischen Medien aus einem fahrenden Auto auf
Ig or K. abgefeuert, aus einer Kalaschnikow.
Das alles weiß der Chirurg Chris tian Krettek
zu diesem Zeitpunkt nicht. Er weiß nur, was die
Röntgenbilder nahelegen: dass der Patient, sollte
er nicht innerhalb weniger Tage von einem Spe-
zialisten behandelt werden, mit großer Wahr-
scheinlichkeit Arme und Beine verlieren wird.
Krettek antwortet der Klinik noch am selben
Nachmittag. Er schreibt, was er regelmäßig
schreibt, wenn ausländische Kollegen um Hilfe
bitten und er genug freie Betten hat: Der Patient
sei in Hannover »jederzeit willkommen« – unter
zwei Bedingungen: Er müsse transportfähig sein.
Und die Kosten der Behandlung selbst tragen.
Kr ettek ahnt nicht, was er mit seiner E-Mail
he raufbeschwört.
In den folgenden Wochen werden auf dem
Gelände der Medizinischen Hochschule mehr
als 2400 Polizisten auflaufen. Ein vermummtes
Sondereinsatzkommando wird über die Kranken-
hausflure patrouillieren, mit blauen Plas tiküber-
ziehern über den Stiefeln und grünen OP-Leib-
ch en über der Kampfmontur. Wegen Igor K. wird
eine Sprengstoffwarnung ausgerufen werden. Die
niedersächsische Landesregierung wird in eine
Krise stürzen, Krette ks Vorgesetzter, der stellver-
tr etende Chef der Medizinischen Hochschule
Hannover, seinen Job verl ieren.
Und wegen Igor K. werden Christian Krettek
und seine Kollegen scharf kritisiert, von der Presse,
dem Bund der Steuerzahler, der Gewerkschaft der
Polizei. Einige werden die MHH der Beihilfe zur
Geldwäsche bezichtigen. Und Krettek vorwerfen,
das Leben seiner Mitarbeiter leichtfer tig aufs Spiel
gesetzt zu haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
etwas davon stimmt. Gut möglich aber auch, dass
Kr ettek keinen Fehler gemacht hat, sondern ein-
fach nur sei nen Job.

Am vergangenen Samstag empfängt Christian
Krettek in sei nem Büro, einem einfachen Zimmer
nahe der Notaufnahme. Auf dem Schreibtisch
st ehen Weinflaschen und Grußkarten seiner
Patienten. Krettek holt ein durchsichtiges Plas tik-
tütchen hervor. Es enthält silbrig glänzende
Splitter, sie sehen aus wie die metallenen Krümel,
die beim Bleigießen übrig bleiben: Geschoss-
splitter aus Igor K.s Körper. »Das sind ja keine
Pr ojektile wie bei John Wayne. Das sind Hoch-
geschwindigkeitsgeschosse, die fliegen gerade
rein, dann treffen sie auf den Knochen und rei-
ßen riesige Löcher.«
In Zeitungsartikeln wurde insinuiert, Igor K.
hätte genauso gut an einem anderen Krankenhaus
behandelt werden können – und Krettek habe ihn
womöglich aus purem Profitinteresse behandelt.
Kr ettek sieht das anders.
Am Abend des 7. Februar, vier Tage nach der
E-Mail aus Podgorica, landet auf dem Flughafen
Hannover-Langenhagen ein zum Krankentrans-
porter umfunktionierter Learjet. An Bord Igor
K., in Verbände gewickelt, die Gliedmaßen mit
einem Gestell aus Metallstangen fixiert. An seiner
Seite hat er einen Begleitarzt und seine 32-jährige
Ehefrau. Sie passieren die Grenzkontrolle und
fahren mit einem Rettungswagen in die Notauf-
nahme der Medizinisc hen Hochschule Hannover.
Dort warten Krettek und seine Kollegen auf
ihn. Sie nehmen den Patienten in Augenschein,
so erzählt es Krettek. Igor K. hat den Chirurgen
von der Schweigepflicht entbunden. Krettek zeigt
an diesem Samstagnachmittag die E-Mails, die
er aus Montenegro bekam, die Fotos, Röntgen-
au fnahmen und 3-D-CT-Bilder. »Hier, alles
kaputt«, sagt er und deutet auf ein Bild von Igor
K.s behaartem Oberschenkel, ein riesiges blutiges
Loch. Er zeigt ein F oto des linken Arms. Vom
Ellenbogen bis zum Fingeransatz klafft eine
Wunde, der Mittelhandknochen fehlt, lose
Se hnenenden ragen aus dem Muskelgewebe. An
manchen Stellen ist die Wunde bereits schwarz.
Igor K., sagt Krettek, sei eine »totale Chal-
lenge« gewesen.
Als Unfallchirurg versucht Chris tian Krettek
Amputationen zu vermeiden. Wo andere zur Säge
greifen, greift er zum Skalpell. »Das ist unser
Profil. Und das ist auch international bekannt.«
So kommt es, dass auf Kretteks OP-Tisch
nicht nur Sportverletzungen von nahegelegenen
Fußballplätzen landen oder Unfallopfer von der
A 2 und der A 7, sondern auch Kriegsversehrte
aus Libyen und Syrien, Opfer von Schießereien,
vor allem aus Saudi-Arabien und den Balkan-
staaten. Etwa zweimal im Monat, sagt Krettek,
li ege ein Schussopfer bei ihm auf dem Tisch. Igor
K., der Patient aus Montenegro, habe vor diesem
Hintergrund nicht wie ein Verdächtiger gewirkt,
sondern wie ein Routinefall.
Krettek sagt, er habe sich für Igor K.s Verlet-
zungen interessiert, nicht für Igor K.s Geld.
Tatsächlich nehmen hochspezialisierte Uni-
Kliniken regelmäßig schwerreiche Priv atpatienten
aus dem Ausland auf. Arabische Scheichs, chine-
sische Geschäftsleute, russische Oligarchen und
libysche Milizionäre. Insgesamt kommen die

de utschen Kliniken im Jahr auf mehr als 200. 000
ausländische Patienten, mit denen sie über eine
Milliarde Euro einnehmen.
Für viele verschuldete Uni-Kliniken ist das ein
willkommenes Geschäft. Igor K. hat für seine Be-
handlung rund 91.000 Euro überwiesen. Insge-
samt kamen laut der Medizinischen Hochschule
Hannover im vergangenen Jahr allerdings nur
0,5 Prozent ihrer stationären Einnahmen von
Priv atpatienten aus dem Ausland.
Christian Krettek zeigt nach draußen, auf die
Be tonfassaden des Klinikums, ein Siebzigerjahre-
Bau. »Das hat hier den Charme von Tschernobyl,
Re aktorblock 2!«, sagt er. »Hier gibt’s kein Maha-
goni. Was es hier gibt, das sind Skills.«
Als Igor K. in der Klinik angekommen ist,
leiten Krettek und seine Kollegen sofort eine
erste Untersuchung ein, prüfen Kreislauf und
Atemwege. Sie binden Igor K. ein weißes Bänd-
chen mit seinem Namen und einem Barcode ums
Handgelenk. Alles läuft nach Plan. Bis der Be-
gleitarzt ein Detail erwähnt, das Krettek stutzig
werden lässt: In Montenegro, erzählt der Arzt, sei
der Krankentransporter von einem Großaufgebot
an Polizisten geschützt worden.
Kr ettek beteuert, er habe umgehend die Poli-
zei informieren lassen. Tatsächlich geht am selben
Abend im Polizeikommissariat Südstadt über den
Notruf 110 ein Anruf aus Kretteks Klinik ein.
Krettek ist dazu nicht verpflichtet. Als Arzt darf
er schweigen, und es liegt in seinem Ermessen, ob
er dieses Schweigen bric ht – zum Beispiel, wenn
er fürchtet, dass von einem Patie nten Gefahr aus-
geht. Die Polizei bittet, den Patienten zu anonymi-
sieren. Kretteks Kolle gen tauschen das Bändchen
an Igor K.s Handgelenk gegen ein neues aus –
ei nes mit fiktivem Namen. Zur Bewachung
schickt die Polizei zunächst zwei Beamte.
Die Polizei Hannover schützt von nun an
einen Mann, über den sie zunächst kaum et-
was weiß. Zeitungsartikel aus Montenegro be-
richten von dem Atte ntat, dem Igor K. zum
Opfer fiel. Es ist die Rede von einer Mafia-
Fehde, Igor K. soll Verbindungen zur organi-
sierten Kriminalität unterhalten. Die Poliz isten
in Hannover bitten Experten um Hilfe: vom
Landes- und Bundeskriminalamt und von In-
te rpol. Man geht nun davon aus, dass die
Sc hützen, die Igor K. in Montenegro töten

wollten, auch in Deutschland zuschlagen
könnten. Mit schweren Handfeuerwaffen,
vielleicht sogar mit Sprengstoff. Die Polizei
sc hickt weitere Einsatzkräfte.
Die erste Operation, sagt Krettek, habe zwölf
Stunden gedauert, von zehn Uhr morgens bis
zehn Uhr abends. Während er versucht, die Glied-
maßen seines Patienten zu retten, verbreiten sich
auf den Klinikfluren erste Gerüchte über Igor K.
Wenig später berichtet die Bild-Zeitung: »Mafia-
Boss mit 27 Einschüssen in MHH eingeliefer t«.
Die Zeitung schreibt auch, auf welcher Station
der ominöse Patient aus Montenegro liegt.
Von nun an ist in den Augen der Polizei nicht
mehr nur Igor K. gefährdet, sondern die gesamte
Klinik: Besucher, Mitarbeiter, Patienten. Die
Polizei rüstet auf. Sie schickt eine Hundertschaft.
»P lötzlich standen mir zehn bis an die Zähne
be waffnete Polizisten gegenüber«, erinnert sich
ein Oberarzt. »Ich dachte, es sei eine Übung.« Ein
Pfleger erzählt, sie hätten hier in Hannover schon
Emire, Prinzen und einen RAF-Terroristen
behandelt und sogar die Kanzlerin zu Besuch
ge habt. Aber: »So etwas habe ich in 31 Jahren
ni cht erlebt.«
Der Pfleger sagt: »Wir hatten Angst.«
Aus Igor. K. wird ein Politikum. »Wie kann
man so jemanden als Patienten aufnehmen?«, will
der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion
im Niedersächsischen Landtag wissen. Das Kli-
ni kum profitiere vom Geld der Clans. Das sei
Geldwäsche! Der Bund der Steuerzahler fordert,
dass Igor K. die Kosten für seine Bewachung per-
sönlich übernimmt.
Das Justizministerium prüft die Verlegung
in ein Gefängniskrankenhaus. Sogar das US-
Militär, das in Ramstein ein großes Kranken-
haus unterhält, bitten die Niedersachsen um
Hilfe. Doch irgendwann bremst das Ministeri-
um, warum, ist nicht ganz klar.
Am Montag dieser Woche wird im Nieder-
sächsischen Landtag auf Druck der Opposition
eine außerplanmäßige Sitzung der Ausschüsse für
Wissenschaft, Inneres und Justiz einberufen. Es
gibt viele Fragen: Hätte die Medizinische Hoch-
schule Hannover die Regierung früher informieren
müssen? Ist Igor K. tatsächlich ein Mafia-Boss –
oder könnte es sich, was einige Presseberic hte
nahelegen, um eine Verwechslung handeln? War
der Polizeieinsatz übertrieben? Und hätte der Un-
fallchirurg Krettek den Patienten ablehnen soll en?
Die Sitzung dauert fast zwei Stunden. Klare
Antworten liefert sie nicht, aber dafür ein paar
Zahlen: Der Polizeieinsatz an der Medizinischen
Hochschule Hannover hat die deutschen Steuer-
zahler fast eine Million Euro gekostet. 2456 Poli-
zis ten waren wegen Igor K. im Einsatz, zusammen
haben sie 16.058 Personalstunden angehäuft.
Und noch etwas präsentiert die Landesregie-
rung in der Ausschusssitzung: einen Schuldigen,
die Medizinische Hochschule Hannover. Deren
stellvertretender Chef wird an diesem Morgen mit
sofortiger Wirkung von allen Ämtern entbun-
den. Der niedersächsische Wissenschaftsminister
Björn ümler bescheinigt der Klinik ein »er-
hebliches Informations- und Kommunikations-

versagen«. Krettek hatte den Vizepräsidenten erst
drei Tage nach Igor K.s Ankunft informiert.
In der Runde derer, die an diesem Morgen die
Fragen der Opposition beantworten, sitz en Mi-
nister, Staatssekretäre, Polizisten. Ein Vertreter
der Klinik sitzt dort nicht. Die Ärzte waren nicht
eingeladen. Hätte man in der Ausschusssitzung
auch Christian Krettek zu Wort kommen lassen,
hätte er vielleicht von seinen Bedenken erzählt.
Er sagt, er sei sich bis heute nicht sic her, ob wirk-
li ch der Angehörige eines Mafia-Clans auf seinem
OP-Tisch lag. Das Ehepaar sei unbedarft gewesen,
»total irritiert. Sie haben uns mehrmals gesagt,
dass sie keinen Poliz eischutz wollen. Sie haben uns
sogar ein polizeiliches Führungszeugnis vorgele gt.«
Es gebe da, sagt Krettek, noch so viele offene
Fragen. Warum habe die Polizei erst ganz am
Ende von Igor K.s Aufenthalt dessen Finger-
abdrücke geprüft? Und warum habe sich sein
Patient erst nach einer Woche einen Anwalt ge-
nommen? »Das stelle ich mir bei einem Mafia-
Boss anders vor«, sagt Krettek.
Kr ettek sagt, er habe die Poliz ei sogar ge-
fragt, ob gegen Igor K. etwas vorliege. Die Ant-
wort: nichts. Kein Haftbefehl. Kein laufendes
Verfahren. »Das LKA, das BKA und Interpol,
sie alle haben nichts gegen ihn in der Hand.
Aber von uns Medizinern wird erwartet, dass
wir das erkennen?«
Fingerabdrücke wurden bei Igor K. auch des-
halb genommen, damit er nicht noch einmal
nach Deutschland einreisen kann. Am vergange-
nen Mittwochabend, zwölf Tage nach seiner
Ankunft in Hannover, stellte die Ausländerbehör-
de Hannover dem Patienten aus Montenegro und
seiner Ehefrau eine Ausreiseverfügung aus – in
enger Abstimmung mit dem Innenministerium.
Aufgrund seiner »Verbindung zu einem Clan«,
steht darin, sei zu befürchten, dass sich weitere
Gewaltdelikte »auch im Bundesgebiet jederzeit
ereignen können«. Er stelle eine »Gefahr für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung dar«. Wäre
Igor K. der unbescholtene Geschäftsmann, als
den seine Frau ihn ausgegeben hat, hätte er gute
Chancen gehabt, die Verfügung rückgängig zu
machen. Er legte keinen Widerspruch ein.
Am Freitag vergangener Woche, zwei Wochen
nach seiner Einlieferung, wird Igor K. aus
Deutschland ausgeflogen. Auf dem Hubschrau-
berlandeplatz des Klinikums, einem rie sigen
Deck aus Beton, wartet ein Helikopter der Bun-
despolizei, am Heck prangt die Deutschland-
flagge. Polizisten patrouillieren über das Gelände.
Igor K. wird aus der Tür der Notaufnahme
geschoben, in einem großen Krankenbett,
zwei vermummte Einsatzkräfte eil en hinterher.
Wind fegt über das Landedeck, der Hub-
sc hrauber strauchelt kurz, dann hebt er ab. Da
fliegt er fort, Igor K., der Mafia-Boss. Oder
Igor K., der Mann, der für einen Mafia-Boss
gehalten wurde.
Christian Krettek hat für ihn nach einer Kli-
nik gesucht, die seine Wunden gut versorgen
kann. In Istanbul hat er eine gefunden. Laut Igor
K. s. Anwalt steht vor dem Zimmer ein privater
Sicherheitsdienst, kein Polizist.

2 7. FEBR U A R 2 0 2 0 DIE ZEIT No 1 0 63


Ein mutmaßlicher Mafia-Pate aus


Montenegro wird in Hannover operiert.


VON CATERINA LOBENSTEIN UND CLAAS TATJE


245 6 Polizisten sind im Einsatz


ENTDECKEN


Der Patient Igor K. kurz vor seiner Ausweisung aus Deutschland

Foto: S

andra

Beckefe

ldt

/BILD

HINTE R D E R G E S CHICHTE
Die Recherche: Die Autoren
sprachen mit Ärzten, Pflegern und
Patienten der Medizinischen Hochschule
Hannover, mit Po liz isten und Igor K.s
Anwälten. Dessen Führungszeugnis
und sein Ausweisungsbescheid liegen
de r ZEIT vor.
Free download pdf