Als wir auf der anderen Elbseite an-
gekommen sind, wendet Ingo Schul-
ze sich ab. Da vorn ist der Buchladen,
der es zu einer gewissen Bekannt-
heit gebracht hat, seit seine Besitze-
rin Verständnis für rechte Aufwieg-
ler ausdrückte. Schulze schlägt sei-
nen Mantelkragen hoch, was auch
am Wind liegt, der durch den Dresd-
ner Stadtteil Loschwitz weht. Er will
vor allem nicht bemerkt werden von
der Buchhändlerin, falls diese jetzt
gerade auf die Straße treten sollte.
Man kennt sich, und früher schätzte
man einander wohl auch. Früher,
bevor das Gift auch in die Welt der
Literatur eingesickert ist.
Ingo Schulze hat einen Roman
über einen Buchmenschen geschrie-
ben, der im Leben so oft verletzt und
abgedrängt wurde, dass er am Ende
ganz am Rand steht. „Die recht-
schaffenen Mörder“ heißt er und
spielt in Dresden. Er habe aber rein
gar nichts mit dieser Händlerin
zu tun, der Roman, sagt Schulze.
Oder wie es vorn in Büchern oft
steht: Die Ähnlichkeit mit lebenden
Personen ist rein zufällig. Endlich
gehen wir weiter, raus aus dem Wind,
weg von diesem Platz.
Die Hauptfigur des Buchs ist der
Antiquar Norbert Paulini, ein Kauz,
der seine Bücher hortet wie einen
Schatz. Dieser Antiquar aber, so
drückt es Schulze selbst aus, „verrät
die Bücher und Schlimmeres“. In
einer Zeit, in der viele Bürgerliche
offenbar die politische Orientie-
rung verloren haben, scheinen „Die
rechtschaffenen Mörder“ der Ro-
man der Stunde zu sein.
Wir haben verabredet, einen Spa-
ziergang zu den Handlungsorten
zu machen, durch die Stadtteile Bla-
sewitz und Loschwitz, verbunden
durch das „Blaue Wunder“, eines der
Wahrzeichen der Stadt. Es ist ein
Spaziergang durch Villenstraßen, ab
und zu begleitet von Gespenstern.
Wir nähern uns Blasewitz entlang
der Straßenbahngleise der Linie 6.
Als Schüler ist Schulze, Jahrgang
1962, immer mit der 6 gefahren, eine
Stunde lang aus dem Norden der
Stadt bis zur Kreuzschule, wo er
Latein und Altgriechisch lernte und
mit dem Schulchor „Ein Deutsches
Requiem“ von Brahms sang. „Das
hier ist zutiefst meine Welt“, sagt
er, als wir in die Brucknerstraße
biegen. Hier ist auch die Welt der
Figur Paulini, hier bei den Ahorn-
bäumen liegt im Buch sein Antiqua-
riat, so vollgestapelt mit kostbaren
Werken, dass es unentschieden
bleibt, ob die Bücher bei ihm woh-
nen oder er bei den Büchern.
Tatsächlich gab es in der Bruckner-
straße früher einen Laden für alte
Bücher. Schulze selbst aber kaufte
in der Schreibwarenhandlung Pilz, in
direkter Nachbarschaft zur Kreuz-
schule: „In der Pause borgten wir uns
das Geld zusammen, um die Stefan-
Zweig-Novellen zu kaufen, die plötz-
lich im Schaufenster auftauchten.“
Heute findet sich dort eine Steuer-
beratung. Es sind an diesem Tag
Mitte Februar Ferien in Dresden, die
Schule liegt ruhig und verlassen.
Schulze drückt sich an den schmie-
deeisernen Zaun, er summt eines der
alten Chorlieder, führt uns auf den
Schulhof. Das ist seine Heimat, das
spürt man. Die will er nicht den an-
deren überlassen. Auch nicht seinem
Schriftstellerkollegen Uwe Tellkamp,
der 2008 im Roman „Der Turm“ das
Bildungsbürgertum der DDR auf-
erstehen ließ. 2018 hatte Tellkamp
geäußert, dass 95 Prozent der Flücht-
linge nicht vor Krieg und Verfolgung
ausgerissen seien, sondern „um in
die Sozialsysteme einzuwandern.“
Schulze sagt dazu: „Seine Haltung
ist letztlich feige, weil sie die eigent-
lichen Probleme vernebelt und
die Schwächsten zu Sündenböcken
stempelt.“
„Die rechtschaffenen Mörder“
lesen sich auch wie ein Versuch, eine
Erklärung zu finden, warum ein
Mann der Worte seine Worte plötz-
lich gegen schwächere Menschen
richtet. Paulini, der Antiquar im
Arbeitskittel, spricht von einer Mil-
lion junger Männer, die auf unsere
Kosten „fleißig Kinder zeugen und
zwischendurch ihre Stirn auf dem
Moscheeteppich wetzen“. Das ist
auch ein Teil des Sounds von Dres-
den, der Stadt der Schönheit, der
Kunst, aber eben auch der Stadt von
Pegida. „Da es 2004 schon fast zehn
Prozent NPD im Sächsischen Land-
tag gab, muss man feststellen, dass
Pegida nicht vom Himmel gefallen
ist“, sagt Schulze. „Es gibt hier offen-
bar eine selbstbezogene konserva-
tive Minderheit mit einer Aversion
gegen links. Und wenn diese Kon-
servativen enttäuscht werden, ge-
hen sie weiter nach rechts und wet-
tern gegen Merkel, die sie selbst mal
gewählt haben.“ Wie erklärt er sich
diese Hinwendung? „Es hat mit Ab-
stiegsängsten zu tun, aber auch mit
Vereinzelung, mit geistiger wie see-
lischer Leere.“ Schulze hat selbst
Etliches über die Jahre geschrieben,
in denen das Leben vieler Ostdeut-
scher komplett umgekrempelt wur-
de. Sein bestverkauftes Buch, „Simp-
le Storys“, erzählt von den Brüchen
nach der Wendezeit – etwa von einer
Ausbildung, die nichts mehr wert
war, einer Liebe, die nur innerhalb
von Provinzgrenzen funktionierte,
einer Direktorenstellung, die futsch
war. „Jetzt haben viele Angst, so
etwas noch mal erleben zu müssen.
Da heißt es: Uns wird erneut etwas
weggenommen.“ Und sei es nur Auf-
merksamkeit.
An dieser Stelle trete die AfD auf.
„Die Rechten kommen mit einem
A
Liebliche
Landschaften:
Von der Brücke
aus geht der
Blick Richtung
Sächsische
Schweiz
... aber
42 5.3.2020