Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1

LEBEN


108 FOCUS 9/2020


Der Medienwissenschaftler


Bernhard Pörksen über


Gesprächskultur in


Zeiten hitziger Debatten


und die Kunst des


gelungenen Dialogs


Die große


Gereiztheit


Herr Pörksen, lassen Sie uns positiv
beginnen: Beschreiben Sie doch bitte mal
kurz Schönheit eines gelungenen Dialogs.
Der Dialog ist ein Flirt im Geiste –
ein Tanz des Denkens, voller Neugier,
Leichtigkeit und Begeisterung, dies in
dem Bewusstsein, dass man den ande-
ren braucht, um die Welt besser zu ver-
stehen. Und dass man die Ruhebank der
eigenen Gewissheiten verlassen muss,
um dies zu tun.
Es gibt in Ihrem gemeinsam mit dem
Kommunikationspsychologen Friede-
mann Schulz von Thun verfassten Buch
den tollen Satz: „Die Wahrheit beginnt
zu zweit.“ Was aber, wenn es heute gar
nicht um Wahrheit geht, sondern mehr
um eine persönliche Einstellung, die
durch Emotionen beeinflusst wird?
Dann wird der Dialog vielleicht schei-
tern. Und man streitet, was ja auch in Ord-
nung ist. Aber bevor man den Streit oder
den Kommunikationsabbruch wählt, lohnt
sich das Miteinanderreden in jedem Fall.
Wie will man sonst weiterkommen, wie
überhaupt entscheiden, wer der andere
ist? „Rede, damit ich dich sehe“, soll schon
Sokrates gesagt haben. Eine kluge Ein-
sicht. Denn wir erkennen uns erst – auch
in unserer Unterschiedlichkeit und viel-
leicht auch Fremdheit – im Gespräch, in
der Kommunikation.
Im Netz geht es drunter und drüber,
minderjährige Frauen werden beschimpft,
weil sie vom Klimawandel berichten,
der US-Präsident lügt, Familien sprechen
nicht mehr miteinander, weil Papa jetzt
AfD wählt. Sie nennen das die große
Gereiztheit. Steht die Menschheit vor
einem kommunikativen Abgrund?
Nein. Und die so populären Narrative
des Niedergangs sind längst in der Gefahr,


sich in eine sich selbst erfüllende Prophe-
zeiung zu verwandeln. Die Epoche der
Aufklärung ist zu Ende, so heißt es in den
Feuilletons der Republik; die Öffentlich-
keit liegt in Trümmern; der Diskurs stirbt
in einem postfaktischen Spektakel, so wird
behauptet. Das ist dystopischer Quatsch,
der nur eine ohnehin beobachtbare Stim-
mung der Resignation befördert. Aber
eines stimmt: Wir erleben eine laufende
Kommunikationsrevolution mit offenem
Ausgang. Eben deshalb ist es so wichtig,
dass sich die Liebhaber des Arguments
nicht aus der Öffentlichkeit zurückziehen.
Wie würden Sie die aktuellen Kommu-
nikationsverhältnisse beschreiben?
Wir leben, kommunikationsanalytisch
betrachtet, in drei Welten. Zum einen
gibt es eine Verpöbelung von Debatten,
entsetzliche Formen der Beleidigung
und Erniedrigung. Zum anderen regiert
in manchen, oft akademisch gebildeten

Milieus eine Betulichkeit und moralisie-
rende Hypersensibilität, die noch jeden
Ausrutscher mit maximalem Furor ver-
folgt. Und schließlich gibt es in Schulen,
Universitäten und Unternehmen auch eine
Welt des Respekts, der Wertschätzung
und des gelingenden Miteinanderredens.
Kurzum: Es ist ein folgenreicher Denkfeh-
ler, das hässliche Extrem für das Ganze zu
nehmen, weil man so eine kleine, verbal
gewalttätige Minderheit viel mächtiger
erscheinen lässt, als sie ist.
Gibt es Analysen dazu, wem das Mit-
einanderreden besonders schwerfällt?
Ich würde jetzt behaupten, weißen
Männern um die 50. Aber das ist ver-
mutlich auch wieder so ein Vorurteil, das
die Erregungsspirale nach oben treibt.
Könnte sein. Sage ich jetzt mal als
weißer Mann um die 50. Sie sehen: Das
abwertende Pauschalurteil kränkt und ist
ein absolut sicheres Rezept, um ein echtes

Ohne Worte Susanne Hennig-Wellsow wirft Thüringens Kurzzeit-MP Kemmerich Blumen vor die Füße
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