Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
POLITIK

32 FOCUS 9/2020

25

23

12

40

weiß nicht/
k. A.

keiner von
beiden

Annalena
Baerbock

%

keiner von beiden
nach Parteienpräferenz

Linke

82%

60%
CDU/CSU
SPD26%
Grüne 5%

FDP 67%

43%

AfD

Robert
Habeck

W


enn Zeit im poli-
tischen Geschäft
eine Währung ist,
dann stehen Robert
Habeck, 50, und
Annalena Baerbock,
39, gerade ziemlich
hoch im Kurs. Gan-
ze drei Stunden nahm sich Frankreichs
Staatspräsident Emmanuel Macron am
Rande der Münchner Sicherheitskonfe-
renz, um das Führungsduo der Grünen
näher kennenzulernen. Es sei ein langes,
zugewandtes Gespräch gewesen, hieß
es später übereinstimmend. Macron lud
anschließend die beiden Grünen-Politiker
nach Paris ein.
Offenbar plant der Staatspräsident be-
reits für die Zeit nach Merkel und setzt
dabei auf die Grünen als Teil einer künf-
tigen Bundesregierung. Macron hätte sich
auch mit Verteidigungsministerin und
Noch-CDU-Chefin Annegret Kramp-Kar-
renbauer treffen können, aber die ist für den
Franzosen offenbar schon Vergangenheit.
Den Grünen gelingt gerade alles. Die
Berliner Republik versinkt in Ratlosigkeit,
alte Gewissheiten gelten nicht mehr, und
die traditionellen Parteien stecken in der
Krise. Die SPD schrumpft und schrumpft,
und die CDU, einst für ihre Geschlos-
senheit als Kanzlerwahlverein verspottet,
zerreißt es gerade. Ein riesiges Durch-
einander aus Kursänderungen, Personal-
wechseln, Richtungsstreits ist entstanden.
Und am Ende von Tagen wie diesen ste-
hen immer die Grünen. Und haben wie-
der dazugewonnen.
Zum Beispiel Mitglieder – über 90 000
sind es inzwischen. Die Partei der Um-
weltbewegten, Feministen und Pazifisten
nimmt nun Kurs auf das Kanzleramt. Sie
haben angekündigt, die Republik zu ver-
ändern. Jetzt machen sie Ernst.
Ein Riese ist da im Aufmerksamkeits-
schatten herangewachsen. Bei der Bun-
destagswahl 2017 hatten sie nur 8,9 Pro-
zent. Wenn jetzt gewählt würde, wären
sie zweitstärkste Kraft hinter der CDU.
Der schmelzende Abstand sorgt für
Unruhe bei der Union. Mittwochabend
vergangene Woche im italienischen Res-

taurant „Simon“ in Berlin-Mitte: Rund
25 Politiker von Union und Grünen haben
sich dort getroffen, um über gemeinsa-
me Projekte zu sprechen. Die Runde wird
von der CDU-Vizechefin Silvia Breher und
dem Grünen-Abgeordneten Omid Nouri-
pour organisiert. Die meisten sind hier
per Du und verstehen sich gut. Eigent-
lich sollte es um Finanzpolitik gehen, die
Grünen wollten aber lieber über die Lage
in der Union und in Thüringen sprechen.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-
Eckardt verlangte, die CDU müsse sich
glaubhaft von der AfD abgrenzen. Es

lich regiert? Wie stellt sich die Öko-Partei
den Umbau einer Hochgeschwindigkeits-
gesellschaft vor? Steigt der CO 2 -Preis?
Wie halten sie es mit technologischem
und wirtschaftlichem Wachstum? Wollen
sie den Mindestlohn erhöhen? Immobi-
liengesellschaften enteignen?
Die Grünen streben in die Mitte, wo
die Wählermassen vermutet werden.
Und doch bleiben sie 40 Jahre nach ihrer
Gründung eine linke Partei. Vor einein-
viertel Jahren stellte Habeck seine Pläne
für eine „Garantie-Sicherung“ vor, um
Hartz IV zu ersetzen. Die Grünen wollen
Sanktionen vollständig abschaffen und
die Regelsätze ordentlich erhöhen. Damit
überbietet Habeck sogar das Sozialstaats-
konzept der SPD. Der smarte Parteichef
will die Sozialdemokraten links überho-
len und ihnen ihr Kernthema, die soziale
Gerechtigkeit, streitig machen.
In der Finanz- und Wirtschaftspolitik
schlagen die Grünen eine Reform der
Schuldenbremse vor. Sie plädieren für
einen Investitionsfonds, aus dem bei-
spielsweise Infrastruktur finanziert wer-
den soll. Sie bedienen damit eine Kern-
forderung der Linken, wieder mehr
Schulden machen zu können. Allerdings
sollen weiterhin die Maastrichter Ver-
schuldungsgrenzen gelten, womit sie
bei der Union auf Zustimmung stoßen.
In vielen Politikfeldern vertritt die Par-
tei linke Positionen. Dennoch finden die
Grünen auch im bürgerlichen Lager gro-
ße Zustimmung. Volker Kronenberg von
der Universität Bonn erklärt das vor allem
mit dem Zustand der großen Koalition.
„Die Grünen werden von einer Euphorie
getragen, die sich aus den Fehlern der
anderen speist“, sagt Kronenberg. „CDU
und SPD darben vor sich hin, und die
Grünen profitieren.“

Die Streber der Berliner Republik
Die Partei ordnet jetzt alles dem großen
Ziel unter. Sie ist sogar bereit, einen Teil
ihres Markenkerns zu opfern: Sie ver-
zichtet auf den leidenschaftlichen Streit.
Die Grünen waren mal ein wilder Hau-
fen, eine Chaosfraktion. Sie führten sich
auf wie die Lümmel von der letzten Bank.
Jetzt sind sie die Streber der Berliner
Republik. Und nehmen fleißig mit, was
die anderen liegen lassen.
Vergleichbare Momente gab es bereits
in der Vergangenheit. Nach der Reaktor-
katastrophe im japanischen Fukushima
lagen die Grünen im Jahr 2011 zeitweilig
in den Umfragen deutlich über 20 Prozent,

„CDU und SPD darben vor sich hin, und die Grünen


profitieren“ Volker Kronenberg, Politikwissenschaftler, Universität Bonn


Mann statt Frau Die Deutschen präferieren
Habeck und nicht Baerbock fürs Kanzleramt

sprach ein Grüner nach dem anderen, bis
Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus die
Kritik nicht mehr ertragen konnte. „Ihr
stellt uns hier die ganze Zeit an den mora-
lischen Pranger“, sagte Brinkhaus aufge-
bracht, bevor er zu einer minutenlangen
Wutrede ausholte. „Er hat sich nicht mehr
eingekriegt“, sagt einer, der dabei war.
Brinkhaus und andere in der CDU wer-
den sich damit abfinden müssen, dass die
Grünen auftrumpfen. Und Forderungen
stellen. Sie können sich das jetzt leisten.
Doch so präsent die Grünen auch sind
und so wohlwollend sie von vielen Medien
begleitet werden: Die Partei bleibt eine
Green Box. Was geschieht, wenn sie wirk-

Quelle: Kantar

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