Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
DEUTSCHLAND

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FOCUS 9/2020 33

2016 lagen sie bei etwa 15 Prozent. Bei
der Bundestagswahl danach blieb die
Öko-Partei aber unter der 10-Prozent-
Marke. „Je näher die Wahl rückt, desto
bohrender werden die Fragen“, sagt Kro-
nenberg, „ob die Partei ihre Versprechen
überhaupt umsetzen kann.“
Die Geschichte von Schwarz und Grün,
von der Versöhnung des bürgerlichen
Lagers, sie ist lang. Galten die Ökos lan-
ge als aufsässige und politisch verlorene
Kinder der CDU-Wähler, so begann 1995
mit dem Gesprächskreis der „Pizza-Con-
nection“ im Bonner Restaurant „Sassella“
eine persönliche wie politische
Annäherung. Misstrauisch be-
äugt vom damaligen Kanzler
Helmut Kohl, bauten junge
Unions- und Grünen-Abge-
ordnete inhaltliche Hürden
ebenso ab wie lange gepflegte
Feindbilder. Die grüne Akade-
mikerpartei und der schwar-
ze Kanzlerwahlverein gingen
aufeinander zu. Merkels spä-
terer Modernisierungskurs
beförderte die Annäherung
weiter, ohne dass es jedoch
zur oft beschworenen Koali-
tion auf Bundesebene kam.
Dafür gelang in Baden-Würt-
temberg der Umschwung. Seit
knapp neun Jahren regiert
Winfried Kretschmann das
Land der Autobauer und Mit-
telständler – zunächst mit der
SPD, seit 2016 mit der CDU. Im schwarz-
grün regierten Hessen haben sich die
Grünen in Umfragen bis auf einen Punkt
an die CDU herangerobbt. Nun müssen
die Grünen beweisen, dass sie auch im
Bund die klare Nummer zwei sind oder
vielleicht sogar an der Union vorbeizie-
hen können.
Anders als früher haben die Realos
und Fundis eine Art Nichtangriffspakt
geschlossen. Der hält so lange, wie Habeck
und Baerbock hinter ihrer Realo-Attitüde
genügend linke Positionen vertreten. „Wir
wollen die nächste Regierung mit unseren
Themen prägen“, sagt der Grünen-Ab-
geordnete Sven-Christian Kindler. Der
Niedersachse gehört zum linken Flügel
der Partei. Er fordert einen sozialökologi-
schen Umbau des Landes. Das wäre mit
der Union zwar schwierig. Es gibt aber
auch bei SPD und Linke viele, die diesen
Weg nicht gehen wollen.
Spätestens nächstes Jahr steht bei den
Grünen eine Personaldebatte an. Sie

haben die SPD als zweite Kraft vorerst
hinter sich gelassen. Und für gewöhn-
lich bewerben sich die beiden stärksten
Parteien ums Kanzleramt. Nur sieht das
Grundgesetz die von den Grünen gelieb-
te Doppelspitze für eine Regierungsspitze
nicht vor. „Wenn absehbar sein sollte,
dass wir in den Umfragen nah an der
Union sind und die SPD auf Distanz hal-
ten“, sagt einer aus der Partei, „werden
wir eine Kanzlerkandidatin oder einen
Kanzlerkandidaten aufstellen.“ Nur wen?
Habeck war in Schleswig-Holstein
bereits sechs Jahre Landwirtschafts-

ten die Grünen auf den Zulauf von frü-
heren Merkel-Wählern setzen, die mit
Merz nicht einverstanden sind. Laut einer
Forsa-Umfrage würde die CDU ohne
Merkel rund 2,4 Millionen Wähler ver-
lieren. Ein erheblicher Teil davon würde
zu den Grünen wechseln. „Merz wird
rechts Stimmen holen und sie links verlie-
ren“, sagt Politikwissenschaftler Jürgen
Falter von der Uni Mainz. „Er polarisiert
und mobilisiert – die eigenen Anhän-
ger, aber eben auch immer die Gegner.“
Das macht Merz zum Lieblingsgegner
der Grünen. Allerdings könnte sich eine
Regierungszusammenarbeit
mit ihm wesentlich schwieri-
ger gestalten als mit Armin
Laschet oder Norbert Röttgen.
Im Gegensatz zu Merz sind
Laschet und Röttgen als Grün-
dungsmitglieder der Bonner
„Pizza-Connection“ schon
früh für eine schwarz-grüne
Zusammenarbeit eingetreten.
Beide CDU-Politiker galten
über Jahre hinweg als Stüt-
zen schwarz-grüner Koalitio-
nen. Mit ihnen würden sich
viele führende Grüne in einer
Regierungsgemeinschaft gut
zurechtfinden. Cem Özdemir
beispielsweise ist seit Lan-
gem sowohl mit Laschet als
auch mit Röttgen persönlich
befreundet, auch Fraktions-
chefin Göring-Eckardt pflegt
einen engen Draht zu beiden.
Zwar regiert Laschet in NRW in einer
Koalition mit der FDP, aber das funktio-
niert trotz nur einer Stimme Mehrheit fast
geräuschlos. Zugleich trauen ihm viele in
der Union zu, auf Bundesebene mit den
Grünen zurechtzukommen.
Allerdings könnte auch alles anders
kommen, wenn Grüne, SPD und Linke
eine Mehrheit bei der nächsten Wahl
bekämen. In Umfragen scheint das mög-
lich. Politikwissenschaftler Volker Kro-
nenberg hielte eine solche Koalition für
ein Himmelfahrtskommando. „Die Linke
ist auf Bundesebene in sicherheitspoliti-
scher Hinsicht ein unkalkulierbares Ri-
siko.“ NATO auflösen? Die Europäische
Union als latentes Feindbild? Keine Aus-
landseinsätze mehr? Das finden selbst die
Grünen aberwitzig.
Dann doch lieber mit der Union. n

MARC ETZOLD / DANIEL GOFFART /
ANDREAS GROSSE HALBUER

Alte Rivalen Norbert Röttgen und Armin Laschet sympathisieren
mit Schwarz-Grün – beide streben nach dem CDU-Vorsitz

und Umweltminister. Der Grünen-Chef
genießt zudem hohe Sympathiewerte.
23 Prozent der Deutschen trauen ihm die
Kanzlerschaft zu, Baerbock dagegen nur
zwölf Prozent (siehe Umfrage). Regiert
hat sie auch noch nie. Allerdings hat sie
in der Partei das bessere Standing. Das
zeigte sich auf dem letzten Parteitag der
Grünen, bei dem Baerbock über 97 Pro-
zent und Habeck 90 Prozent holte. Intern
wird längst überlegt, ob die Grünen nicht
eine Frau aufstellen sollten, vor allem
wenn Union und SPD mit Männern in
den Wahlkampf ziehen.
Ein Problem hätten sowohl Baerbock
als auch Habeck. Nur 36 Prozent der
Deutschen glauben laut „Politbarome-
ter“, dass die Grünen mit einem Kanzler
die Bundesregierung anführen könnten.
Eine klare Mehrheit von 61 Prozent hin-
gegen traut ihnen das nicht zu.
Entscheidend ist, wer der Gegner eines
grünen Kanzlerkandidaten wäre. Würde
sich Friedrich Merz durchsetzen, könn-
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