Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
POLITIK

44 FOCUS 9/2020

Aus dem blassen Minister Gerd Müller ist ein politischer


Missionar geworden, der mehr Hilfe und Respekt für Afrika fordert.


Unterwegs mit dem guten Gewissen der Regierung


Müllers Mission


D


ie Terroristen kamen im Mor-
gengrauen. Als Ladigi hör-
te, wie sich das Grollen ih-
rer Explosionen ihrem Dorf
näherte, packte sie ihre Kin-
der und rannte los. Zu spät:
Am Fluss holten Boko-Ha-
ram-Kämpfer sie ein und töteten ihren
16-jährigen Sohn. Sie selbst und die jün-
geren Kinder nahmen sie gefangen. Sie-
ben Monate lang harrte Ladigi zusam-
men mit anderen Frauen und Kindern in
einem provisorischen Lager aus. Tagtäg-
lich musste sie die Schikanen der „Gottes-
krieger“ dort erdulden. Erst als die Armee
das Camp befreite, endete für die 35-jäh-
rige Muslima das Martyrium.
Gerd Müller, 64, sitzt auf einer Bastmatte
auf dem Boden des UN-Flüchtlingscamps
in der nigerianischen Stadt Maiduguri,
wo Ladigi untergekommen ist. Der Bun-
desentwicklungsminister, der an diesem
Tag trotz offizieller Delegationsreise festes
Schuhwerk und keine Krawatte trägt, hört
aufmerksam zu. Wie lange ihre Gefan-
genschaft her sei, will er wissen „Vier
Jahre“, antwortet Ladigi, die ein weißes
Kopftuch trägt und ihr jüngstes Baby im
Arm hält. Und was sie sich wünsche? Bei
dieser Frage wird Ladigis Gesicht traurig.
„Nach Hause zu gehen“, sagt sie leise.
„Es ist nicht schön, hier im Lager zu sit-
zen und auf Almosen zu warten.“ Ein-
mal hat sie es versucht, kurze Zeit später
kam sie zurück. „Es ist zu gefährlich“, sagt
sie: „Boko Haram ist immer noch in der
Gegend. Sie könnten uns dort jederzeit
wieder überfallen.“
Weite Teile der Provinz Borno im Norden
Nigerias werden von der islamistischen
Terrorgruppe Boko Haram beherrscht –
und die Stadt Maiduguri, in die zwei Milli-
onen Menschen vor dem Terror geflüchtet
sind, liegt wie eine Insel inmitten dieses
Gebiets. Das Bundeskriminalamt (BKA),
das Müller im Ausland beschützt, hat-
te Bedenken gegen die Reisepläne. Der
CSU-Politiker bastelte mithilfe der UN
sein eigenes Sicherheitskonzept und ließ
seine vier BKA-Bodyguards in der Haupt-
stadt Abuja zurück.
Gerd Müller ist ein CSU-Urgestein und
hat eine klassische Parteikarriere durch-
laufen: Mit 22 Jahren war er Zweiter Bür-
germeister in seiner Heimatstadt Krum-
bach. Er ging ins Wirtschaftsministerium
nach München. Später wechselte er ins
Europaparlament, danach in den Bun-
destag. 2005 wurde er Staatssekretär im
Landwirtschaftsministerium. Seit 2013 ist

er Minister für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung.
Müller galt zunächst als Notbesetzung,
wurde im Ausland mit dem gleichnami-
gen Fußballidol verwechselt. Im Kabinett
von Angela Merkel (CDU) fiel er nicht
besonders auf. Der 18. April 2015 mar-
kiert einen entscheidenden Wendepunkt.
In Washington sollte Müller beim Global
Citizen Earth Day eine Videobotschaft
der Bundeskanzlerin ankündigen. Sein
Kurzauftritt geriet zu einem Spektakel.
Im grauen T-Shirt mit der Aufschrift „End
poverty“ („Armut beenden“) rief Müller
den begeisterten Zuschauern drei Kern-
sätze zu: „Was für eine Party!“ „Lasst uns
die Welt verändern!“ „Ich liebe euch!“
Aus dem blassen Minister wurde über
Nacht ein Polit-Popstar mit einer Mission.

Seitdem ist Müller das gute Gewissen
der Bundesregierung. Dabei klingt er gar
nicht mehr wie der CSU-Politiker, der
früher mal die Todesstrafe für Drogen-
dealer gefordert hatte, sondern eher wie
ein Linker. „Der Wohlstand in Deutsch-
land und Europa darf nicht länger auf der
Ausbeutung von Mensch und Natur in
Entwicklungsländern beruhen“, findet er.
Es sei falsch, dass Europa sich abschotte
und andere Länder durch unfaire Han-
delsbedingungen ausnutze. Das verstärke
den Migrationsdruck. Als Linker sieht sich
Müller aber nicht. Er vertritt „christliche
Werte“, etwa die Pflicht des Stärkeren,
Schwächeren zu helfen. Er sagt: „Ich bin
christlich, liberal und sozial.“
Müllers Interesse an Nigeria hat daher
gute Gründe: Die Sahelzone, ein Band,

Gespräch mit Terroropfern
Entwicklungsminister
Gerd Müller mit Ladigi (r.) im
Flüchtlingslager „Teachers
Village“ im Norden Nigerias

TEXT VON ANDREA C. HOFFMANN
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