24 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020
Einkaufszentrum an der Stelle eben-
jenes Waldes errichtet wird, der bis
dahin das Lebens- und Jagdgebiet der
Füchse war. Die Tiere drohen zu ver-
hungern, bis Fuchs 8 und sein Freund
Fuchs 7 ihre Nahrungssuche ins Ein-
kaufszentrum ausdehnen – mit fatalen
Folgen für Fuchs 7. Fuchs 8 flüchtet zu
einer anderen Fuchsfamilie und rich-
tet schließlich einen rührenden Appell
an die »Mänschen«, rücksichtsvoller
mit ihresgleichen und anderen Kreatu-
ren umzugehen. Saunders’ Buch ist
mehr als nur eine Tierfabel, auch
wenn die Füchse menschliche Schwä-
chen und Stärken spiegeln. Fuchs 8 ist
vor allem eine Art positiver Gegen-
entwurf zum grausamen Egoismus der
Menschheit und damit ein ziemlich
einsamer Kämpfer gegen das Böse.
Deswegen hat die Geschichte auch
leider kein »Heppi Ent«. Martin Doerry
TIERFABEL
»Ich bin ein Fuks!«
George Saunders:Fuchs 8.
Aus dem amerikanischen Englisch von
Frank Heibert. Mit Illustrationen von Chelsea
Cardinal. Luchterhand; 56 Seiten; 12 Euro.
Seit Jahrhunderten schon haben
Füchse das Image, schlau zu sein.
Auch Goethes »Reineke Fuchs« ist
nicht bloß intelligent – was positiv
wäre –, sondern schlau, also durch-
trieben, ja gemein. Dieses Ansehen
verdankt das Tier wahrscheinlich dem
Umstand, dass es früher gern die
Grenze zwischen Wildnis und Men-
schenwelt überschritt, konkret:
dass es clever genug war, Raubzüge
in Hühnerställen zu veranstalten.
Im Zeitalter der fabrikähnlichen Le-
gebatterien hat man von solchen Vor-
fällen schon lange nichts mehr gehört.
Zeit also für einen Imagewandel. Der
amerikanische Schriftsteller und
Man-Booker-Prize-Träger George
Saunders (»Lincoln im Bardo«) hat
sich nun einen extrem positiven Fuchs
ausgedacht. Fuchs 8, so heißt der
Held und Erzähler seines gleichnami-
gen Buches, ist ein sensibler Träumer,
der mit außergewöhnlichen Gaben
gesegnet ist. Das Tier hat die Men-
schen belauscht und ihre Sprache er-
lernt – die Sprache, nicht die Schrift,
was Saunders (in der hervorragenden
deutschen Übersetzung von Frank
Heibert) dadurch dokumentiert, dass
er seine Geschichte etwa in jener
Form zu Papier gebracht hat, wie sie
ein Grundschüler nach ein paar Jah-
ren Unterricht in »Schreiben nach
Gehör« aufgeschrieben hätte. »Zuers
möchte ich sagen«, so beginnt Fuchs 8
seinen Bericht, »Entschuldigung für
alle Wörter di ich falsch schreibe.
Denn ich bin ein Fuks!« Möglicher-
weise hatte man dieses unterhaltsame
Buch in den ersten Wochen nach Er-
scheinen im Oktober vielerorts nur
unter den Kinderbüchern einsortiert.
Es schoss erst dann auf die Bestseller-
listen, als das »Literarische Quartett«
des ZDF im Dezember einstimmig für
Saunders votierte. Ein Kinderbuch ist
»Fuchs 8« keineswegs.
Erzählt wird die Geschichte eines
Fuchses, der zusammen mit seinen
Artgenossen erleben muss, wie ein
SACHBUCH
Ein moderner Maßstab
Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen.
Aus dem Englischen von Stephanie Singh.
btb Verlag; 494 Seiten; 15 Euro.
Die Welt ist nicht gerecht, schon
klar, doch aus weiblicher Sicht be-
trachtet, ist sie noch etwas ungerech-
ter. Weil Frauen über Jahrhunderte
vom öffentlichen Leben weitgehend
ausgeschlossen waren und nur wenige
Berufe ausüben durften, haben die
männliche Perspektive und der männ-
liche Maßstab die Welt geprägt. Die
britische Autorin und Aktivistin Caro-
line Criado-Perez, 36, hat für ihr Buch
»Unsichtbare Frauen« drei Jahre lang
Zahlen und Fakten, Statistiken und
Erfahrungen ausgewertet und belegt
eindrucksvoll, wie oft die Bedürfnisse
von Frauen bis heute übersehen wer-
den. Doch Criado-Perez ist nicht an
einer Abrechnung interessiert; den
Sinn ihrer enormen Fleißarbeit sieht
sie darin, eine sachliche Diskussions-
grundlage für dringend notwendige
Veränderungen zu liefern. Ihr Buch ist
in sechs Kapitel gegliedert – Alltags -
leben, Arbeitsplatz, Design, Arztbe-
such, öffentliches Leben, Kriege und
Katastrophen –, es nimmt Situationen
von Frauen auf der ganzen Welt in
den Blick, doch die Bereiche der
weiblichen Gesundheit und Sicherheit
sind für Criado-Perez die Dringlichs-
ten. Aus einem einfachen Grund: Hier
geht’s um das Überleben von Frauen.
Wobei die Autorin betont, dass sie
keine finsteren Mächte hinter den gro-
ßen Datenlücken vermutet, neben den
historischen Versäumnissen sei oft
Gedankenlosigkeit der Grund. »Un-
sichtbare Frauen« ist ein durchdachter
Aufruf, die weibliche Benachteiligung
in Zukunft zu bekämpfen.Claudia Voigt
Feministin Criado-Perez
ROMAN III
Erfundene Erinnerung
Monika Helfer:Die Bagage.
Hanser; 158 Seiten; 19 Euro.
Als die Erzählerin dieses Romans
eines der Bauerngemälde von Bruegel
dem Älteren sieht, erinnern sie die
Menschen darauf an ihre Familie –
besser gesagt an ihre Vorfahren, die
»Bagage«, an ihre schöne Großmutter
Maria, deren Mann und deren Kinder.
Die Familie lebte zu Beginn des 20.
Jahrhunderts in einem abgelegenen
Haus am Ende eines österreichischen
Tals. Im Mittelpunkt dieses Romans
steht das Leben von Maria, deren Ein-
samkeit sich noch vergrößerte, als ihr
Mann in den Ersten Weltkrieg einbe-
rufen wurde. Die Schriftstellerin
Monika Helfer verwebt eigene Erinne-
rungen an ihre Verwandten mit den
Geschichten, die in der Famile erzählt
wurden, und fügt Erfundenes hinzu;
wissend, dass die Grenzen zwischen
den Formen fließend sind. Maria
erscheint als eine elegante, unruhige
Frau, die ihrer Zeit voraus war. In ihrer
engen Welt blieb es ihr verwehrt, ihre
Sehnsüchte besser kennenzulernen,
doch im Leben ihrer Kinder und Enkel
scheinen sie wieder auf. Claudia Voigt