Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

D


ie Gemeinde Lindenau in der
Oberlausitz hat rund 760 Ein-
wohner, zwei große Teiche und
einen Fußballverein. Was sie
nicht hat, ist Mobilfunkempfang – jeden-
falls nicht flächendeckend. Lindenau ist ei-
ner der vielen »weißen Flecken« im Land.
Dabei hatte die Deutsche Telekom be-
reits einen Mast neuester Bauart verspro-
chen, sogar ausbaufähig auf den super-
schnellen 5G-Standard. Und noch im
vergangenen April war Kersten Sickert,
Amtsdirektor der Gemeinde, zuversicht-
lich, dass Lindenau bald Anschluss an die
Gigabit-Gesellschaft finden würde. Kom-
me die Sendestation, freute er sich, bedeu-
te das »Lebensqualität«.
Doch seit eine »Initiative Funkmast«
fast hundert Unterschriften gegen das Pro-
jekt gesammelt hat, ist Sickerts Optimis-
mus in Ratlosigkeit umgeschlagen. »Bis-
lang gibt es nicht mal einen Bauvorantrag«,
klagt er. Und so steht Lindenau vorerst
nicht für schnelles Internet und störungs-
freien Mobilfunk, sondern für den Rück-
stand beim Ausbau der Infrastruktur.
Allein in Brandenburg kam eine On-
linemeldeaktion der CDU-Landtagsfrak-
tion auf fast 24 000 Versorgungslücken.
Die Erweiterung des Glasfasernetzes in
Deutschland stockt, weil von den bewil-
ligten 5,6 Milliarden Euro bis Ende ver-
gangenen Jahres gerade einmal 434 Mil-
lionen Euro abgeflossen sind. Gegen die
Errichtung des 5G-Netzes haben mehr als
70 000 Bundesbürger eine Onlinepetition
unterschrieben – aus Angst vor gesund-
heitlichen Risiken.
Deutschland steckt im Investitionsstau,
nicht nur beim Mobilfunk. Ob Stromnetze
oder Windparks, ob Wohnungen, Schnell-
straßen oder Schienenstrecken: Nirgend-
wo geht es so recht voran.
Die Ursachen sind fast überall dieselben.
Die durchschnittliche Dauer von Geneh-
migungsverfahren hat sich nach Angaben
des Bundesverbands der Deutschen Indus-
trie in den vergangenen zehn Jahren fast
verdoppelt. Für jedes Vorhaben fordern
die Behörden eine Flut von Gutachten an,
um sich gegen mögliche Klagen abzusi-
chern. Und geklagt wird mittlerweile ge-
gen so gut wie jedes Projekt, von betroffe-
nen Bürgern oder Umweltverbänden.
Die Proteste hätten eine neue Qualität
gewonnen, sagt der Berliner Historiker


Paul Nolte. Von einer »übermäßigen In -
anspruchnahme einer gut ausgebauten
Verwaltungsgerichtsbarkeit« spricht der
Wissenschaftler. Sinnvolle juristische In-
strumente würden missbraucht und »not-
wendige Veränderungen gebremst«.
Auf dem Spiel steht mehr als ein Wind-
park hier, eine Autobahn dort. Die Gründ-
lichkeit, mit der jedes Infrastruktur -
vorhaben verzögert oder verhindert wird,
bedroht Wachstum und Wohlstand. Weil
der Breitbandausbau stockt, fällt Deutsch-
land bei der Digitalisierung zurück. Der
Genehmigungsstau bei Windparks und
Stromtrassen gefährdet den Umbau der
Energieversorgung. Der jahrelange Streit
um wichtige Eisenbahnprojekte torpediert
den Plan der Regierung, den Verkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Deutschland lähmt sich selbst.
Vor fast 30 Jahren wurde der Bau der
Küstenautobahn A 20 beschlossen, doch
gegen wichtige Teilabschnitte wird bis heu-
te prozessiert. Während auf der dänischen
Seite der Bau der geplanten Verkehrsver-
bindung unter dem Fehmarnbelt bereits
vorbereitet wird, hat in Deutschland noch
nicht einmal das Verfahren vor dem Bun-
desverwaltungsgericht begonnen. Den ge-
planten Schienentunnel durch den Bren-
ner wollen Italien und Österreich im Jahr
2028 eröffnen. In Deutschland dagegen ist
noch nicht einmal geklärt, wo die wichti-
gen Anschlussstrecken durch das Inntal
verlaufen sollen. Nur eins steht fest: Vor
2030 werden sie nicht fertig sein.
Die Industrie sieht eine ernste Gefahr
für die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Wirtschaft. Beispiel 5G: Der neue
Mobilfunkstandard sei »eine hochrelevan-
te Technologie« für die Mobilität der Zu-
kunft, sagt Lutz Meschke, Vizechef von
Porsche. 5G brauche es für die »smarte
Produktion, die Vernetzung der Fahrzeuge
und autonome Fahrfunktionen«.
Inzwischen hat sich auch in der Politik
die Erkenntnis durchgesetzt, dass etwas
passieren muss. Aus Bürgerbeteiligung,
Naturschutzstandards und Technikprüfun-
gen sei ein »nicht durchdachtes Geflecht
mit zahlreichen, sich wechselseitig verstär-
kenden Verzögerungen« entstanden, kri-
tisiert Bundesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD). »Auf diese Weise«, so der Vizekanz-
ler, »können wir die großen Aufgaben, die
vor uns stehen, nicht bewältigen.«

Eine einzelne Klage mache oft »zeitauf-
wendige Planänderungen« erforderlich,
die dann »aufs Neue beklagt« würden und
»alles in die Länge ziehen«, sagt Schles-
wig-Holsteins Ministerpräsident Daniel
Günther (CDU).
Am kommenden Donnerstag will sich
Angela Merkel deshalb mit den Minister-
präsidenten der Bundesländer treffen, um
über Maßnahmen gegen den Missstand zu
beraten. Bund und Länder seien sich einig,
heißt es in den internen Vorbereitungs -
papieren, dass »eine Beschleunigung der
Planungs- und Genehmigungsverfahren
dringend notwendig ist«. Was zunächst
für den Ausbau erneuerbarer Energien ge-
dacht ist, soll später auf andere Infrastruk-
turvorhaben übertragen werden.
Die Frage ist nur: Kann das Treffen die
Wende bringen? Die einen fürchten, dass
die Spitzenrunde zwar schöne Worte pro-
duzieren werde, aber keine Taten. Andere
dagegen sind überzeugt, dass der Druck
übermächtig sei. Selbst die Grünen stellen
inzwischen die Verfahrensregeln für Um-
welt- und Naturschutz infrage. »Wenn wir
die Energiewende durchsetzen wollen«,
sagt Fraktionsvize Oliver Krischer, »müs-
sen wir zu einfacheren und schnelleren
Prozessen« kommen. Sonst sei eines »der
zentralen Klimaschutzvorhaben in Gefahr«.

Wende ohne Plan
Wer einen Windpark errichten will,
braucht Geduld – und stabile Aktenschrän-
ke. Rund 30 Ordner mit etwa 18 000 Blatt
Papier benötigte ein großer Energieversor-
ger jüngst für einen Bauantrag samt Ge-
nehmigungsverfahren. Weil die Dokumen-
te von rund 200 Menschen geprüft werden
müssen, die von Amts wegen mit dem Pro-
jekt beschäftigt sind, dauert das Genehmi-
gungsverfahren für derartige Vorhaben im
Schnitt fast zwei Jahre, vorgesehen waren
mal bis zu sieben Monate.
Noch nicht eingerechnet sind anschlie-
ßende Klagen von Umweltverbänden oder
Anwohnern. Gestritten wird oft um Fle-
dermäuse oder verlassene Horste seltener
Vögel. Mitunter mischt sich auch der Denk-
malschutz ein, wie bei einem Windpark
im Saarland. Dort behinderte ein Anlagen-
turm die Sicht auf ein Missionshaus.
Laut einer Befragung der »Fachagentur
Windenergie an Land« waren Mitte 2019
Klagen gegen 325 Windturbinen mit mehr

Wirtschaft

Die blockierte Republik


StandortWindparks, Sendemasten, Schienenstrecken: Die notwendige Modernisierung
des Landes kommt kaum voran, weil Bauprojekte zu lange geplant werden
und zu oft vor Gericht landen. Nun will die Bundesregierung für Reformen sorgen.

58 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020

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