Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

Backyard« (»nicht in meinem Hinterhof«).
Das Wort beschreibt den Typus des Fort-
schrittsverweigerers, dessen Widerstand
sich gegen alles richtet, was in seiner Nä -
he geplant wird: Windkraftanlagen und
Wohn siedlungen, Mülldeponien und Mo-
bilfunkmasten. Er oder sie fürchtet, dass
die Umgebung verschandelt wird, die Ge-
sundheit leidet oder die eigene Immobilie
an Wert verliert.
Die Politologin Julia Zilles mag den Be-
griff nicht besonders. An der Universität
Göttingen erforscht sie Bürgerproteste.
Das Akronym »Nimby« werde diffamie-
rend gebraucht, sagt Zilles, so, als ob Bür-
ger ausschließlich aus eigennützigen Mo-
tiven protestierten. Dabei rühre der Frust
der Bürger eher daher, dass sie sich poli-
tisch nicht angemessen repräsentiert fühl-
ten. Die Menschen würden oft erst aktiv,
wenn die Politik im Grundsatz längst über
ein Projekt entschieden habe.
Die Protestler betrachteten sich nicht
als Verhinderer, so Zilles. Sie würden sich
eher als besonders verantwortungsvoll se-
hen. Nur: Ähnlich argumentiert der Ge-
meinderat, der auf die Einnahmen aus ei-
nem Windpark verweist. »Alle berufen
sich auf das Gemeinwohl«, sagt Zilles –
und jeder redet am anderen vorbei. So ver-
härten sich die Fronten.


Der Stau beim Bau

Mike Josef ist Frankfurts Dezernent für
Planen und Wohnen. Um seine schwierige
Aufgabe zu beschreiben, reicht eine Zahl.
Rund 120 000 Einwohner wird seine Stadt
in den nächsten zwei Jahrzehnten hinzu-
gewinnen; nur weiß leider niemand, wo
die neuen Bürger wohnen sollen. »Es ste-
hen kaum noch Flächen ohne Restriktio-
nen zur Verfügung«, sagt Josef.
Der Beamte wollte deshalb im Umland
bauen, im Nordwesten der Metropole,
links und rechts der Autobahn. Ein Neu-
baugebiet mit bis zu 12 000 Wohnungen
für 30 000 Menschen sollte entstehen.
Rasch trug der geplante Stadtteil im Volks-
mund seinen Namen: Josefstadt.
Das Problem ist nur, dass sich der Wi-
derstand fast genauso schnell formierte,
Karl-Josef Rühl aus Oberursel führt ihn
an. Seine Familie, erzählt der 63-Jährige,
betreibe seit ungefähr 200 Jahren in der
Gegend Landwirtschaft.
Rühl hat die Initiative »Unser Heimat-
boden Frankfurt« mitgegründet. Er hat
Angst um die Zukunft der Landwirtschaft.
Fast 17 000 Unterschriften hat er gesam-
melt – und verbucht es als Erfolg, dass die
Regionalversammlung Südhessen vor we-
nigen Monaten Kriterien festgelegt hat, die
den Plan des Dezernenten quasi unmög-
lich machen. Aus der Josefstadt, so sieht es
derzeit aus, wird allenfalls ein Josefdorf.
Mehr als eine Million Wohnungen, so
wird geschätzt, fehlen in Deutschland, die


meisten davon in Metropolen wie Mün-
chen oder Hamburg, Berlin oder Düssel-
dorf. Doch wenn die Verwaltungen dieser
Städte neue Flächen ausweisen wollen, sto-
ßen sie meist auf erbitterten Widerstand –
von denen, die schon Wohnraum haben.
Sie fürchten, dass die neuen Nachbarn
ihnen Sicht oder Sonne nehmen, den Cha-
rakter ihres Viertels zerstören oder einfach
nur Baulärm erzeugen. So wächst im Land
der Häuslebauer und Bausparkassen vor
allem eins: die Wohnungsnot.
Doch nicht nur der Bürgerprotest ist
schuld daran. Den Stadtverwaltungen fehlt
es an Personal, um die Bauanträge zu be-
arbeiten, gleichzeitig wächst die Flut an
Vorschriften. Rund 3300 Normen müssen
Eigentümer beachten, es geht um Brand-
und Schallschutz, um Barrierefreiheit und
Abstandsregeln. Der Wildwuchs treibt zu-
dem die Kosten in die Höhe.
Wie Bauen billiger und unkomplizierter
geht, machen die Niederlande vor. Die
Nachbarn kommen mit etwa einem Viertel
weniger Bauvorschriften aus. Die Behör-
den geben Ziele vor, zum Beispiel, wie viel
Energie einzusparen sei. Alle am Bau Be-
teiligten verständigen sich darauf, wie das
Ziel zu erreichen sei: Bauträger, Planungs-
ämter, Umweltvertreter sowie Bauherren
und Nachbarn. Über viele Fragen wird in
den Niederlanden verhandelt, statt wie in
Deutschland nur darauf zu achten, dass
Verordnungen buchstabengetreu befolgt
werden. Dadurch beschleunigen die Nie-
derländer die Abläufe vom Entwurf bis
zur Fertigstellung.

Der Fluss und der Panda
Die neue Heimat des Schierlings-Wasser-
fenchels liegt südlich der Autobahn 1 in ei-
nem ehemaligen Industrieareal. Dort lässt
die Hamburger Hafenbehörde gerade zwei
frühere Becken eines Wasserwerks mit der
Elbe verbinden. Im Mai sollen hier 300
Stecklinge des Schierlings-Wasserfenchels
in den Schlick gepflanzt werden.
Fast zwölf Millionen Euro soll der Bau
des Spezialareals für die seltenen Pflanzen
kosten, Politiker nennen sie die »botani-
schen Pandabären von Hamburg«. Die
Umsiedelung des Krauts soll jene Umwelt-
schützer befrieden, die seit Jahren gegen
die milliardenteure Elbvertiefung klagen.
Seit vergangenem Sommer graben die
ersten Bagger im Flussbett. Dennoch wird
das Leipziger Bundesverwaltungsgericht
im Mai erneut über das vor 17 Jahren be-
schlossene und vor 8 Jahren zugelassene
Projekt verhandeln. Denn die Natur-
schutzverbände sind keineswegs über-
zeugt, dass sich die Pflanzen in ihrer neu-
en Heimat so wohlfühlen, wie die Behör-
den behaupten.
Die Vereine haben gegen die Nachbes-
serung geklagt, und sollten die Richter ih-
nen folgen, müsse die Elbe eben teilweise

wieder zugeschüttet werden, sagt Manfred
Braasch, Landesgeschäftsführer des Ham-
burger Bundes für Umwelt und Natur-
schutz.
Für die Hansestadt, argumentieren die
Befürworter, wäre das eine Katastrophe.
Ohne neue Fahrrinne könnten große,
schwer beladene Schiffe nur noch mit der
Flut die rund hundert Kilometer von
der Nordsee bis zu den Entladekränen der
Hansestadt fahren. Das würde Hamburg
im Wettbewerb der Hafenstädte weniger
attraktiv machen.
Überall in der Republik stockt der Aus-
bau von Verkehrswegen. Nach einer Stu-
die des Instituts der deutschen Wirtschaft
gleichen die Investitionen in die öffentliche
Infrastruktur nicht einmal den Verschleiß
aus, Deutschland lebt also von der Sub-
stanz. Rund 2500 Brücken an Autobahnen
und Fernstraßen müssten dringend erneu-
ert werden. Am Geld mangelt es nicht: Im
Etat von Verkehrsminister Andreas Scheu-
er schlummern Milliarden, die wegen feh-
lender oder mangelnder Planung nicht aus-
gegeben werden können.
Mit großen Pomp feierten Scheuer und
der Vorstand der Deutschen Bahn im Ja-
nuar eine Vereinbarung, nach der in den
nächsten zehn Jahren 86 Milliarden Euro
in Trassen, Brücken und Bahnhöfe ge-
steckt werden sollen, um ein »Jahrzehnt
der Schiene« einzuläuten. Wie das funk-
tionieren soll, ist Experten schleierhaft. Zu-
letzt dauerte es oft zehn Jahre und länger,
um ein neues Projekt fertigzustellen.
Immerhin: Ende Januar verabschiedete
der Bundestag ein Gesetz, das zumindest
den Bau von Brücken deutlich beschleu-
nigen soll. Ersatzbrücken, ist dort festge-
schrieben, brauchen kein aufwendiges Ge-
nehmigungsverfahren wie Neubauten. Sie
können sofort errichtet werden.
Für die Regelung hatte der Lobbyver-
band Pro Mobilität gekämpft. Ihm gehö-
ren Unternehmen und Verbände aus Lo-
gistik und Bau ebenso an wie der ADAC.
Geschäftsführer Christian Funke schätzt,
dass die Neuregelung »drei bis sieben Jah-
re für Papierkram« spart.

Die Baustellen der Politik
Johannes Ludewig hat in seinem politi-
schen Leben schon viele Bauprojekte vo-
rangetrieben. Als Ostbeauftragter war er
für den Aufbau der Infrastruktur in den
neuen Ländern zuständig. Während seiner
Zeit als Bahn-Chef gab er Milliarden für
neue Schienenstrecken aus. Jetzt leitet er
den Nationalen Normenkontrollrat, der
die Bundesregierung beim Bürokratieab-
bau berät.
Wenn es um die Beschleunigung von
Plan- und Genehmigungsverfahren geht,
plädiert Ludewig für radikale Lösungen.
Jeder Bauherr müsse heute damit rechnen,
dass sich sein Projekt um viele Jahre ver-

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 61


Wirtschaft
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