Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

 Nur Tage nach der Einigung zwischen den USA und den Tali-
ban schießen beide Seiten wieder aufeinander. Wer sich sofor -
tigen Frieden erhoffte, hatte das Kleingedruckte nicht gelesen:
Von einem umfassenden Waffenstillstand war nicht die Rede.
Darauf hatten die US-Unterhändler sich eingelassen. Wie auch
darauf, dass die – an den Verhandlungen nicht beteiligte – afgha-
nische Regierung im Abschlussdokument nicht einmal explizit
erwähnt wird. Washington ist offenbar fast alles recht, um nach
gut 18 Jahren endlich seine Truppen abziehen zu können. So -


lange die Taliban nur auf Terror gegen die USA und deren Ver-
bündete sowie Kooperation mit al-Qaida verzichten. Zu Letz -
terem waren zumindest Teile ihrer Führung auch schon 2001 vor
der Invasion bereit.
Frauenrechtlerinnen und Journalisten warnen davor, dass
die Taliban die Errungenschaften der westlichen Intervention
wieder abschaffen wollen. Womit sie vermutlich recht haben.
Und doch kann man dieses Abkommen nicht einfach als Verrat
und Fehler abtun. Die Kritiker können eine Frage nicht beant-
worten: Was sonst? Afghanistan in seiner heutigen Form ist ein
Kunststaat, militärisch und finanziell am Leben erhalten vom
Westen. Die Schuld dafür liegt teilweise bei den USA, die weni-
ger »nation building« betreiben, sondern vor allem siegen
wollten. Die Schuld liegt aber auch bei den afghanischen Eliten,
die den Staat bis heute eher als Beute denn als Verpflichtung
betrachten. Die Wahl vom September verzeichnete die niedrigs-
te Wahlbeteiligung seit 2001, es gibt keinen akzeptierten
Wahl gewinner. Der Zweitplatzierte will eine Gegenregierung
ausrufen. Christoph Reuter

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Ausland


DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020

ESTEBAN FELIX / AP

In Santiago de Chile schützt sich eine Demonstrantinvor Gummigeschossen und Tränengas der Sicherheitskräfte. Seit


Oktober kommt es in Chile immer wieder zu Protesten. Mindestens 31 Menschen kamen dabei bereits ums Leben,


über 400 Demonstranten haben teils schwere Augenverletzungen erlitten. Auslöser der Unruhen war eine Erhöhung


des Metro-Fahrpreises um etwa vier Cent. Sie ließ den Ärger über die Ungleichheit im Land explodieren.


Ein Kunststaat, der


nicht lebensfähig ist


AnalyseDie USA wollen raus aus Afghanistan, die


Taliban wieder an die Macht. Was ist die Alternative?

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