Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1
nicht vergehen, sie bleibt, denn sie erscheint nun als
eine angemessene Beziehung zur Welt. Sie ist selbst
realistisch. Darin aber liegt auch ihre Kraft und
Würde: Wer der Traurigkeit in der Klimakrise Raum
lässt, gibt unrealistische Hoffnung auf und öffnet den
Sinn für die Wirklichkeit. Für »Klimarealpolitik«,
wie der Philosoph Jens Soent gen es nennt. Aus dieser
Perspektive bestünde die Kunst heute darin, als
informierte Gesellschaft den politischen Druck zu
erhöhen und doch das Unabänderliche hinnehmen

zu lernen – um so einer lähmenden Ohnmacht zu
entkommen, die für die Seele zerstörerisch ist.
Denn bei realistischer Prüfung lässt sich auch
heute kaum behaupten, dass Handeln wirkungslos
sei. Die Hebel der Wirksamkeit sind nur andere, und
die Wirkungen durchaus unvorhersehbar: Ein junger
You Tuber dreht ein klimapolitisches Video, das
16 Millionen Menschen sehen, die mit ihrem Votum
das Ergebnis der Europawahl ändern, der Rezo-
Effekt. Die überparteiliche Initiative Brand New

Bundestag schmiedet, aus der Mitte der Gesellschaft
heraus, ein neues Bündnis zwischen Zivilgesellschaft
und Parteien. Klimaexperten weisen darauf hin, dass
einige wenige Investment-Entscheidungen am Finanz-
markt das Geschäftsmodell der fossilen Energien
kollabieren lassen und gesellschaftliche Kippmecha-
nismen in Gang setzen könnten, welche das geokli-
matische Kippen vielleicht noch aufhalten können.
Und neuartige Klägergruppen setzen auf dem Rechts-
weg die fossilen Energieversorger unter Druck.

Man könnte auch sagen: Es fehlt nicht an
Hebeln, mit denen sich überraschende Wirkungen
erzielen lassen. Die realistische Traurigkeit wäre
dann eine Basis, um aus der einsamen Schwermut
heraus anders unter Menschen zu gehen. Damit
nähme die Geschichte übrigens, wie so oft, Zu-
flucht zu einer schönen List: Sie würde mit der
Klimakrise ein menschliches Selbstverständnis
fördern, das, gerade weil es Schwäche akzeptiert,
die dramatische Situation, in der sich die Mensch-

heit befindet, entschärfen könnte. Denn nichts ist
in der Klimakrise so wichtig, wie mit anderen
gemeinsam tätig zu werden. Im eigenen Dorf, auf
dem eigenen Kontinent, mit einem wachen Sinn
für die Verletzlichkeit der Kreaturen, zu denen die
Menschen gehören. Das aber fällt den heutigen
Illusionslosen womöglich leichter als den stolzen
Modernisten von gestern.

A http://www.zeit.de/audio

Schnee war gestern Fortsetzung von S. 39

Was uns fehlen wird


Auch Wissenschaftler können nicht immer einen kühlen Kopf bewahren. Hier erzählen sie, warum sie um Wiesen, Affen und Korallen trauern


AUFGEZEICHNET VON MARGARETE MOULIN

»Ich schrie ein lautes


›Nein!‹ heraus«


Ich beschäftige mich mit dem Zustand von
Ökosystemen und deren Lebewesen – und
zusehends werde ich zum Augenzeugen und
Chronisten eines unermesslichen Verlusts.
2018 war ich in der kalifornischen Sierra
Nevada und sah dort nach einer historischen
Dürreperiode extrem viele absterbende Bäu-
me. Vor allem jahrhundertealte Kiefern waren
betroffen, aber auch Riesenmammutbäume.
Ich war von dem Anblick so geschockt, dass
ich ein lautes »Nein!« herausschrie.
Ein anderes Beispiel ist der Sehuencas-
Bergregenwald inmitten des Carrasco-
Nationalparks in Bolivien, wo ich vor über
einem Vierteljahrhundert die Artenvielfalt
untersuchte. Neue Pflanzen- und Tierarten
wurden dort gefunden, zwei Orchideen
tragen sogar meinen Namen. Vergangenes
Jahr wollte ich das Sehuencas-Tal erneut
besuchen. Am Eingang des Tals stand früher
eine mächtige, mit Orchideen und Brome-
lien bewachsene Steineibe. Abgesägt. Dort ist
jetzt das Camp einer chinesischen Baufirma.
Die Einfahrt ins Tal wurde mir verwehrt,
denn mitten im Nationalpark wird ein Was-
serkraftwerk gebaut.
Das löst Trauer aus. Es ist mir wichtig,
solche Gefühle zuzulassen und bei aller Wis-
senschaftlichkeit auch Mensch zu bleiben.
Eine professionelle Abstumpfung oder Ver-
drängung kann schnell zu Zynismus führen.
Trauer übersetzt sich bei mir in Empörung,
aber auch in Motivation, noch mehr zu tun:
berichten, mahnen, sich einmischen. Wissen
ist Verantwortung. Aufgeben? Keine Option!

Pierre Ibisch ist Biologe und Professor für
Naturschutz an der Hochschule für
nachhaltige Entwicklung in Eberswalde

»Mir sind die Tränen


gekommen«


Bei mir hat es 2010 auf einem Weltkongress
für Malakologen, also Weichtierforschern, so
richtig »klick« gemacht. Der fand damals in
Thailand statt. Zu Forschungszwecken bin
ich mit anderen Wissenschaftlern vor Phuket
zu einem Riff getaucht. Ich war schockiert:
Es sah aus wie ein Kriegsgebiet unter Wasser


  • die totale Destruktion. Bis auf ein, zwei
    Korallen war das Riff tot. Als wir wieder auf-
    tauchten und im Boot saßen, sah ich, wie
    unsere Tauchführerin zu weinen begann. Da
    wurde mir klar, was dieser Verlust auch für
    die Menschen am Ort bedeutet.
    Ich glaube, ich hatte mich und mein For-
    schungsgebiet vorher von dieser Wahrheit
    abgekapselt – aus Selbstschutz. Aber natür-
    lich geht es uns Wissenschaftlern an die Nie-
    ren, wenn wir sehen, wie die Natur dahin-
    stirbt. Vierzig Prozent der Artenvielfalt im
    Meer hängt von den Korallenriffen ab, das
    ozeanische Plankton produziert 70 Prozent
    des weltweiten Sauerstoffs. Und jetzt stottert
    die marine Kohlenstoffpumpe!
    Als ich in einer Vorlesung den Studieren-
    den erklärte, wie es um die Meere bestellt
    ist, sind mir einmal die Tränen gekommen.
    Ich bin eigentlich ein grundoptimistischer
    Mensch, aber so viel Ehrlichkeit muss sein:
    Wenn die Meere öde und leer werden, sieht
    es nicht gut für uns aus. Ich habe eine mas sive
    Wut auf die Politiker und Konzerne, die wis-
    sen müssten, was geschieht und was zu tun
    wäre, sich aber nicht bewegen.


Michael Schrödl leitet die Weichtierabteilung
der Zoologischen Staatssammlung München

»Ich wäre fast in eine


Depression gerutscht«


Ich befasse mich seit 30 Jahren mit dem
Kohlenstoffkreislauf unserer Erde, diesem
uralten Rhythmus. Der schiebt seit 1,2 Mil-
lionen Jahren gigantische Mengen an CO₂
hin und her, was zu dem bekannten Wechsel
von Warmzeiten und Eiszeiten geführt hat.
Jetzt haben wir diesen stabilen Kreislauf
verlassen durch die CO₂-Emissionen, die
wir dazugepackt haben. Kaum zu fassen:
Wir Menschen existieren erdgeschichtlich
gesehen nur einen Wimpernschlag lang –
und schon haben wir alles kaputtgemacht.
Es ärgert mich, wenn Leute nun behaup-
ten, diese menschengemachten Mengen seien
ja viel zu gering, um einen Effekt zu haben.
Es macht mich so wütend, dass viele
Menschen die Erkenntnisse der Wissenschaft
nicht ernst nehmen. Denn man muss eben
wissen, dass CO₂ schon in sehr kleinen
Mengen gewaltige Veränderungen bewirkt.
Der Klimawandel und der Verlust der Biodi-
versität sind die größte Katastrophe, vor der
die Menschheit je gestanden hat.
Es macht mich traurig, dass die Mehrheit
der Politiker und Bürger anscheinend nicht
einmal die Einsichtsfähigkeit von Fünfjähri-
gen hat, um das zu begreifen. Vergangenes
Jahr wäre ich deswegen fast in eine Depres-
sion gerutscht.

Jelle Bijma ist Biologe und Geologe, er arbeitet
am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz- Zentrum
für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven

»Der Anblick war


ein Schock«


Als ich zu studieren begann, traute ich mich
nicht, Medizin zu wählen, weil ich Angst
hatte vor der Verantwortung für einzelne
Menschenleben. Jetzt aber trage ich die Ver-
antwortung für die Bewahrung ganzer Öko-
systeme. Ich habe einmal während eines For-
schungsaufenthalts auf Sulawesi in Indonesien
erlebt, dass mitten in einem Nationalpark
riesige Flächen gerodet wurden, in einer ein-
zigen Nacht. Der Anblick war ein Schock.
Die Täter waren Einheimische, die man
zuvor von dort vertrieben hatte und die nie
das Land bekommen hatten, das ihnen
stattdessen versprochen worden war. Diese
Abholzung war also das Ergebnis einer
schlechten Naturschutzpolitik. Ich hatte in
dem Regenwald viele interessante Bienen
gefunden, auch neue Bienenarten. Eine davon
ist nach mir benannt: Ceratina alexandrae.
Aber ehe wir untersuchen konnten, wie wich-
tig der Lebensraum für das Überleben dieser
Arten ist, wurde ein Teil davon zerstört.
Für mich ist es auch schwer auszuhalten,
wenn hier in Deutschland eine Hecke, ein
Baum, eine artenreiche Wiese durch Mono-
kulturen ersetzt oder zuasphaltiert werden.
Wir Menschen breiten uns zu sehr aus. Ich
frage mich oft, ob wir einfach zu blöd sind,
um zu verstehen, dass wir unseren Umgang
mit der Natur ändern müssen. Sofort! Und
nicht erst morgen. Ich versuche, mich nicht
einer lähmenden Angst hinzugeben, merke
aber, dass ich oft kreisende Gedanken habe
und mich immer wieder frage, was wir als
Wissenschaftler eigentlich noch tun können,
um mehr Leute aufzurütteln.

Alexandra-Maria Klein ist Professorin für
Naturschutz und Landschaftsökologie
an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

»Trotz der Trauer die


kleinen Erfolge feiern«


Seit 22 Jahren widme ich mein Leben dem
Schutz der Orang-Utans im Bukit-Tigapu-
luh-Nationalpark in Sumatra. Die Entwal-
dung und ihre verheerenden Folgen für die
biologische Vielfalt und das Klima wurden
bereits in den Siebzigerjahren des vergange-
nen Jahrhunderts beschrieben, doch noch
immer lesen sich diese fast 50 Jahre alten
Arbeiten wie frisch aus der Druckerpresse.
Während meiner Jahre in Bukit Tigapu-
luh ist das Sumatra-Nashorn ausgestorben,
die Elefantenpopulation ist auf 120 Tiere ge-
schrumpft, und die Orang-Utan-Population
müssen wir durch Auswilderungen stützen.
Diese Arten erzeugen Medieninteresse. Den
Verlust wirbelloser Arten, die wissenschaft-
lich oft noch gar nicht beschrieben sind, neh-
men wir dagegen kaum oder erst dann wahr,
wenn es zu Störungen im Ökosystem kommt.
Wer wie ich im Naturschutz in Indone-
sien arbeitet, lernt, mit kafkaesker Bürokratie
und mit ungeklärten oder ständig wechseln-
den Rechtssituationen umzugehen. Die Kunst,
im Naturschutz voranzukommen, besteht
darin, die halb vollen Gläser zu sehen, nie-
mals die halb leeren: trotz der Trauer die
kleinen Erfolge zu feiern, den Blick für das
Machbare zu behalten und wie ein Boxer
immer wieder aufzustehen. Der Mensch ist
die Ursache vieler Probleme, kann diese oft
aber auch lösen.

Peter Pratje ist Wildtier-Biologe und Mitarbeiter
der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt

KLIMAWANDEL


Illustrationen: Myriam Rathfelder für DIE ZEIT


40 WISSEN 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


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