Die Zeit - 12.03.2020

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Fotos: Roman Pawlowski für DIE ZEIT; privat (u.)

Haben Ihre Eltern Sie


unterstützt, Kirsten Boie?


Sie wird die »deutsche Astrid Lindgren« genannt. Hier spricht die Kinderbuchautorin über das


Aufwachsen im Arbeiterviertel, ihre Zeit als Lehrerin – und Schüler, die nicht lesen können


DIE ZEIT: Frau Boie, welches Buch war das erste in
Ihrer Kindheit?
Kirsten Boie: Ein alter zerfledderter Wilhelm-Busch-
Band mit Gedichten drin. Meine Mutter hatte ihn ge-
erbt und mir ständig daraus vorgelesen. Es gab zu der
Zeit noch keine anderen Kinderbücher bei uns im
Haushalt. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist
Der Struwwelpeter, der mich in seiner Schrecklichkeit
zutiefst beeindruckt hat: War man ungezogen, wurden
einem die Finger abgeschnitten, man wehte weg.
ZEIT: Haben Ihre Eltern die Bücher für die Kinder
bewusst ausgewählt?
Boie: Sie haben genommen, was erreichbar war. Oft
die Bücher aus dem Tabakladen nebenan. Dort wurden
Comic-Hefte verkauft und Kinderbücher. Je nachdem,
wie dick sie waren, für 95 Pfennig, 1,95 Mark oder
2,95 Mark. Ich habe diese Tabakladenbücher geliebt,
aber literarisch waren sie nicht überzeugend.
ZEIT: Haben Ihre Eltern gelesen?
Boie: Sie waren im Bertelsmann-Lesering und beka-
men so regelmäßig Bücher: John Steinbeck, Heinrich
Böll, Günter Grass. Die habe ich dann mit 12, 13 Jah-
ren auch gelesen – und parallel dazu Enid Blyton
verschlungen und Groschenromane. Herzklopfen
bekam ich bei Astrid Lindgren. Pippi Langstrumpf hat
mir mein Vater vorgelesen, als ich mit Scharlach im
Bett lag.
ZEIT: Warum klopfte Ihr Herz, als Sie Astrid Lindgren
lasen?
Boie: Ihre Geschichten haben ein großes Glücksgefühl
und eine starke Sehnsucht in mir ausgelöst. Kalle Blom-
quist zum Beispiel – seine kleine Stadt ist im Buch gar
nicht detailliert beschrieben, aber ich habe davon ge-
träumt, dort barfuß durch den Sand zu laufen, den
Sommer auf eine Art zu erleben, die ich als Großstadt-
kind nicht kannte.
ZEIT: Sie sind in den Fünfzigerjahren mitten in
Hamburg aufgewachsen.
Boie: Ja, wir lebten in einer kleinen Wohnung, mein
Kinderzimmer hatte weniger als sechs Quadratmeter.
Gegenüber standen sogenannte Nissenhütten; Ge-
bäude aus Wellblech, weil es nicht genügend Wohn-
raum gab. Damals war viel zerbombt, wir spielten
auf Trümmergrundstücken. Diese Welt auf der
Straße erschien mir aber längst nicht so aufregend
wie die in Büchern.
ZEIT: Konnten Sie Ihre Leidenschaft fürs Lesen mit
jemandem teilen?
Boie: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in der
Grundschulzeit jemals mit einer Freundin über Bücher
geredet hätte. Wahrscheinlich haben in meiner Gegend
auch nicht viele Kinder gelesen. Hamburg-Barmbek
war damals ein Arbeiterviertel.
ZEIT: Wo es auch nicht üblich war, aufs Gymnasium
zu gehen. Sie sind diesen Schritt als Erste in der Fa mi-
lie gegangen. Wie war das?
Boie: Ich kam zuerst auf die Elise-Averdieck-Schule,
eines der ältesten Hamburger Gymnasien für Mäd-
chen, ursprünglich eine Höhere Töchterschule. Es gab
da noch das »Puddingabitur«, man lernte in einem
bestimmten Zweig der Schule, wie man ein großes
Haus führt. Meine Lehrerinnen hießen Freifrau von
und zu Knyphausen oder Fräulein von Hindenburg –
durchaus also ein anderes Milieu, auch unter den
Schülerinnen. Viele der Eltern hatten studiert. Nie-
mand hat es mich spüren lassen, aber ich hatte schon
das Gefühl, die wissen mehr als ich, die kennen sich
besser aus in der Welt.
ZEIT: Und wie war das bei Ihnen, haben Ihre Eltern
Sie unterstützt?
Boie: Vom Schulstoff wussten sie nicht viel. Mein
Vater hatte einen Realschulabschluss und war später
Angestellter bei der Sparkasse. Meine Mutter hatte
einen Hauptschulabschluss und wurde Hausfrau.
Darunter hat sie ihr Leben lang gelitten. Sie war das
jüngste von neun Geschwistern und das Hätschelkind
ihres Vaters, der Abitur hatte. Ihr als Mädchen wurde
das verwehrt. Umso mehr hat sie mich unterstützt.
Meine Eltern konnten mir nicht praktisch helfen,
aber sie konnten begeistert sein – das war viel.
ZEIT: Erlebten Sie nie Vorbehalte, weil Sie aufs Gym-
nasium gingen?
Boie: Bei meinen Eltern nicht, aber für einige Onkel
und Tanten war das Gymnasium ein weit entfernter
Ort. Dass ich dort Schülerin war, verunsicherte sie. Als
ich zwölf wurde, hat mir eine Tante zum Geburtstag
eine Goethe-Biografie geschenkt. Sie dachte wohl, das
sei angemessen für so ein gebildetes Kind.
ZEIT: Standen Sie unter Erfolgsdruck?
Boie: An Druck kann ich mich nicht erinnern. Ich
glaube ohnehin, dass zu großer Eltern-Ehrgeiz furcht-
bar ist – und Kinder ersticken kann. Meine Eltern ha-
ben mir Freiräume gelassen und mir vertraut, aber
schon erwartet, dass ich mich um die Schule bemühe.
ZEIT: Gibt es etwas, worum Sie die Kinder, die heute
aufwachsen, beneiden?
Boie: Sie werden sehr viel selbstbewusster erzogen –
und ernster genommen. Sie wachsen in dem Bewusst-
sein auf, bestimmte Rechte zu haben, mitbestimmen
zu können. Das mag in manchen Familien auch mal
überhandnehmen, aber das ist eine Erfahrung, die mei-
ner Generation weitgehend fehlt. Wir hatten bei Tisch
still zu sein, wurden kaum nach unserer Meinung ge-
fragt. In der Pubertät wurde mir das so richtig klar, als
ich plötzlich meinen eigenen Standpunkt offensiv ver-
trat. Das hat sofort zu Wahnsinnskonflikten geführt.
ZEIT: Worum ging es da?
Boie: Um den Umgang mit dem Nationalsozialismus.
Der Krieg spielte ja in unserer Kindheit immer eine
Rolle. Väter kamen aus der Gefangenschaft zurück –
oder eben nicht. Die Mütter erzählten von den
Bomben nächten im Bunker. Was wir als Kinder kann-
ten, war die Geschichte der Deutschen, die Opfer


MEINE SCHULE DES LEBENS


Stationen


waren. Von der Schoah erzählte nie jemand. Ich
muss ungefähr elf gewesen sein, als mir das Buch
Sternkinder in die Hände fiel. Es erzählte von jüdi-
schen Kindern in den Niederlanden. Zum ersten
Mal erfuhr ich von der Judenverfolgung. Natürlich
fragt man sich da als junges Mädchen: Was war da
eigentlich mit meinen Eltern? Was haben die ge-
tan? Die haben da doch schon gelebt!
ZEIT: Ihren Eltern haben solche Fragen überhaupt
nicht gefallen?
Boie: Die Abwehrreaktionen waren heftig: Wer das
nicht erlebt hat, soll nicht darüber reden, hieß es.
ZEIT: Wie ging es Ihnen da?
Boie: Ich war naiv und dachte, dass ich selbst jeden
einzelnen Juden im Keller versteckt hätte, weshalb
ich alle verurteilte, die das nicht getan hatten.
Heute bin ich ziemlich sicher: Hätte ich in der

Nazi-Zeit gelebt, wäre ich nicht in den Widerstand
gegangen. Wäre ich in der DDR aufgewachsen,
hätte ich mich nicht gegen das Regime gewehrt.
Ich hätte diese Kraft und diesen Mut wahrschein-
lich nicht gehabt.
ZEIT: Gab es einen Moment, in dem das Gespräch
mit Ihren Eltern doch noch möglich wurde?
Boie: Ich habe das über Jahre versucht und bin
immer gescheitert. Aber kurz vor dem Tod meiner
Mutter bin ich mit ihr nach Weimar gefahren. Das
hatte sie sich lange gewünscht. Ihr ging es um Schil-
ler und Goethe, aber als wir dort waren, sagte sie, da
gab es doch dieses KZ Buchenwald, wollen wir da
nicht mal hin? Meine Mutter war sehr erschüttert,
es war ihr erster Besuch in einem KZ. Danach hat
sie einiges erzählt. Es war bewegend. Für mich kam
dieses Reden aber in gewisser Weise zu spät.

ZEIT: Sie, das Kind aus dem Arbeiterstadtteil, wurden
später Lehrerin. Warum?
Boie: Ursprünglich wollte ich im Traum nicht Lehre-
rin werden. Ich wusste ja, wie gemein und fies Kinder
zu Lehrern sein konnten. Wir haben eine Lehrerin mal
so geärgert, dass sie vor Verzweiflung aus der Klasse
gerannt ist. Als sie eine ganze Weile fortblieb, machte
ich mir Sorgen und sagte zu meiner Freundin: Was,
wenn sie ohnmächtig geworden ist? Die antwortete
nur: Dann legen wir sie vor die Tür.
ZEIT: Wieso sind Sie trotzdem Lehrerin geworden?
Boie: Ein Zufall. Ich studierte Literaturwissenschaft
und Anglistik, wusste nicht so recht, was ich damit
beruflich anfangen sollte, und machte 1972 ein Prakti-
kum an einem Kleinstadtgymnasium. Die Kinder wa-
ren viel angepasster als heute, trotzdem ging mir eine
achte Klasse in einer Vertretungsstunde über Tische
und Bänke. Hinterher fragte mich ein Schüler: »Wol-
len Sie mit uns auf Klassenreise? Bei Ihnen kann man
so viel Scheiß machen!« In diesem Moment wusste ich
irgendwie: Diese Kinder, diesen Beruf finde ich klasse.
ZEIT: Was für eine Lehrerin wollten Sie sein?
Boie: Das klingt kitschig, aber schon eine, die die Kin-
der mögen, zu der sie mit ihren Problemen kommen.
Die Beziehungsebene ist so entscheidend für den Lern-
erfolg. Wenn ein Lehrer an einen Schüler wirklich
glaubt, dann entwickelt der sich oft erstaunlich.
ZEIT: Nach wenigen Jahren haben Sie sich an eine der
ersten Versuchsgesamtschulen in einem Hamburger
Brennpunktstadtteil versetzen lassen. Warum?
Boie: Weil mir schnell klar war, dass das Gymnasium
nicht die ganze Welt war. Wie kann man Kinder mit
zehn Jahren, nach der vierten Klasse, in Bildungswege
einsortieren? Die Idee der Gesamtschule, in der ganz
unterschiedliche Schüler mit mehr Zeit gemeinsam
lernen, fand ich richtig. Allerdings hatte ich bis dahin
keine Ahnung, unter welch unterschiedlichen Bedin-
gungen Kinder aufwachsen, wie gigantisch die Un-
gleichheit in unserer Gesellschaft ist. Ich bin mit den
Schülern anfangs überhaupt nicht klargekommen.
ZEIT: Was war so schwierig?
Boie: Es fiel mir schwer, für Disziplin zu sorgen. Ich
habe irgendwann neben viel Lob auch mit Sanktionen
begonnen: Dreimal keine Hausaufgaben – Anruf bei
den Eltern. Trotzdem habe ich nicht jeden erreicht.
ZEIT: Sie engagieren sich seit vielen Jahren dafür, dass
mehr Kinder mit Begeisterung lesen. Gab es die
Debatte um Schüler, die im Unterricht nicht mehr
richtig lesen lernen, auch damals schon?
Boie: Als ich Kind war, waren wir 42 Schüler in einer
Klasse, am Ende der Grundschulzeit konnten sie alle
lesen. Heute ist das nicht mehr selbstverständlich.
Lehrer beklagen zum Beispiel, dass Schülern die Fähig-
keit fehlt, sich zu konzentrieren, dass sie Aufgaben ab-
brechen, wenn sie zu lange dauern. Für mich ist es
nicht auszuhalten, dass aktuell jeder fünfte Fünfzehn-
jährige in Deutschland nicht mehr so lesen kann, dass
er den Text versteht. Die gesellschaftlichen Auswir-
kungen sind katastrophal, das Schulsystem produziert
Bildungsverlierer. Und die Politik kümmert sich zu
wenig darum. Dabei ist es so einleuchtend, so banal,
dass jedes Kind, egal aus welchem Elternhaus, in der
Schule lesen lernen sollte. Damit das wieder selbstver-
ständlich wird, wünsche ich mir für Lehrer jede Unter-
stützung, die sie brauchen.
ZEIT: Ihre Zeit als Lehrerin endete 1984. Sie gaben
den Beruf nicht freiwillig auf, sondern weil das Ju-
gendamt es forderte ...
Boie: ... mein Mann und ich hatten ein Kind adop-
tiert, und ich wollte nach der Familienpause mit re-
duzierter Stundenzahl weiterarbeiten. Das Jugendamt
aber sagte, ich müsse mich entscheiden, ob ich Lehre-
rin oder Mutter sein wolle. Was war ich empört! Aber
weil wir noch ein zweites Kind wollten, habe ich auf-
gehört zu arbeiten.
ZEIT: Und angefangen zu schreiben?
Boie: Ich habe überlegt, was ich stattdessen machen
kann, am Jugendamt vorbei.
ZEIT: Wollten Sie sofort Kinderbücher schreiben?
Boie: Durchs Studium wusste ich, dass ich für die
Weltliteratur nicht gemacht bin. Aber ich hab mir zu-
getraut, Groschenromane zu schreiben, diese Ge-
schichten über Ärzte und Comtessen, die ich als Kind
so mochte. Doch dann saß ich eines Tages in der Kü-
che und fütterte meinen Sohn, als mir der Anfang ei-
ner Kindergeschichte einfiel. Ich habe sie sofort auf-
geschrieben. Es hat mich sehr glücklich gemacht, zu
erleben, wie es einen vorantreibt beim Schreiben. Es
war wie lesen, nur besser.
ZEIT: Immer wieder lesen Sie in sozial schwachen
Stadtteilen und machen benachteiligte Kinder und
Jugendliche zu Helden in Ihren Romanen. Tragen
solche Geschichten dazu bei, die gesellschaftliche
Spaltung kleiner werden zu lassen?
Boie: Ich hoffe das und versuche, starke Identifika-
tionsfiguren zu schaffen, für die der Leser am Ende
vielleicht sogar Bewunderung entwickelt und sagt:
Wie kann man, wenn es so schwierig ist, trotzdem so
gut mit seinem Leben klarkommen?
ZEIT: Finden Sie sich da selbst wieder?
Boie: Nein, ich habe zwar das, was man offenbar eine
Aufsteigerbiografie nennt, aber ich hatte nie das Ge-
fühl, ein schwieriges Leben zu haben. Oft werden sol-
che Geschichten seltsam romantisiert: Schaut her, die
Mutter war Putzfrau, der Junge ist Bundeskanzler. Ich
habe mein Leben nie als romantisch empfunden.

Das Gespräch führten
Katrin Hörnlein und Jeannette Otto

Katrin Hörnlein hat die Schriftstellerin Kirsten Boie
auch für einen Gesprächsband interviewt, der im Rahmen der
Kirsten-Boie-Jubiläumsedition im Zeitverlag erschienen ist

Kirsten Boie wird am 19. März 1950 in
Hamburg geboren. Kommende Woche feiert
die Kinderbuchautorin ihren 70. Geburtstag.

Erste kurze Geschichten schreibt Boie schon als
Fünfjährige. Vor der Einschulung hat sie sich
das Lesen und Schreiben selbst beigebracht.

Die Ehrenbürgerin der Stadt Hamburg
promoviert nach dem Studium an der
Uni Hamburg über Bertolt Brechts frühe Prosa.

Boie startet 2018 die Petition »Jedes Kind
muss lesen lernen!«. Von der Regierung fordert
sie eine Expertenkommission zum Lesen.

»Sie konnten begeistert


sein – das war viel«


In unserer Gesprächsreihe
»Meine Schule des Lebens«
erzählen prominente Menschen
von ihrem Bildungsweg


  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 WISSEN 41

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