Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

TITELTHEMA


Ein Mann und
eine Frau am
Tiananmen-Platz:
Keiner weiß,
wie gefährlich
die Seuche
wirklich ist

Politisches Virus


Nicht nur für die Bevölkerung ist der Erreger eine Bedrohung – er könnte auch der kommunistischen Führung schaden VON XIFAN YANG


W


uhan, gib Gas!«, rufen
Einwohner der abge­
riegelten Elf­Millionen­
Metropole aus Hoch­
hausfenstern in die to­
tenstillen Straßen. Vi­
deos davon kursieren in
den sozialen Medien. Von Peking bis nach Shen­
zhen verschanzen sich die Menschen zu Hause. In
manchen Dörfern verbarrikadiert man die Zu­
fahrtsstraßen gegen Fremde. Die Pest von Albert
Camus ist zur beliebten Lektüre avanciert. Manche
vertreiben sich die Langeweile mit Tischtennis­
turnieren im Wohnzimmer.
Andere schauen Chernobyl, die US­Fernsehserie
über die Atomreaktorexplosion von 1986. Sie zeigt,
wie sowjetische Bürokraten das Ausmaß der Nu­
klearkatastrophe in der Ukraine vertuschten. Die
zur Serie gehörige Bewertungsspalte auf dem Film­
portal douban.com ist seit der Ausbreitung des
Coronavirus zu einem der Orte im Netz geworden,
an dem Chinesen ihre Wut zum Ausdruck bringen:
»Wuhan und Tschernobyl! Wie traurig sind die
Parallelen!«, schreibt ein Kommentator.
Haben Behörden nicht wieder, wie während
der Sars­Epidemie 2003, zu lange gewartet, bis sie
Alarm schlugen? Wurden nicht Anfang Januar
noch Menschen, die im Netz von einer neuartigen
Lungenkrankenheit berichteten, von der Polizei
verhört mit der Begründung, »Gerüchte« zu ver­
breiten? Wussten Virologen nicht schon früh, dass
eine Ansteckungsgefahr von Mensch zu Mensch
besteht, haben Beamte die Testergebnisse der Be­
völkerung nicht vorenthalten? Und warum wurde
der Appell eines Parteikomitees auf WeChat –
»Wer immer um eigener Interessen willen absicht­
lich Berichte verzögert oder verheimlicht, der wird
auf ewig an den Schandpfahl der Geschichte gena­
gelt« – inzwischen gelöscht?
Gegen das neue Coronavirus kann man massiv
vorgehen, mit Zwangsquarantäne für 45 Millio­
nen Menschen (Stand bei Redaktionsschluss). Vie­
le Restaurants, Geschäfte und Kinos im ganzen


Land haben bis auf Weiteres geschlossen. Doch
unberechenbar für die kommunistische Führung
könnte die Stimmungslage der Bevölkerung wer­
den, sollte die Zahl der Erkrankten auf Zehntausen­
de oder gar Hunderttausende hochschnellen. Der
Zusammenbruch der medizinischen Versorgung,
wie ihn überarbeitete Ärzte aus Krankenhäusern
Wuhans und anderen Städten der Provinz Hubei
vermelden, verursacht Angst und Empörung.
Der zum Erliegen gekommene Alltag schafft
Raum für Diskussionen. Stille verleitet zum Nach­
denken, Aufgestautes bricht sich Bahn. So wie bei
dem jungen Mann mit Wollmütze aus Wuhan, der
an Tag drei der Quarantäne hinter der Anonymität
seines Mundschutzes eine YouTube­Botschaft an die
Welt richtete: »Chinesen meiner Generation, in ihren
Zwanzigern oder Dreißigern, kaum einer von uns ist
dumm, wir sind nicht gehirngewaschen. Wir sind
uns klar darüber, dass wir angelogen werden. Wir
wissen, was in unserem Land vor sich geht. Wir
wissen nur nicht, was wir tun können. Unsere Körper
sind aus Fleisch und Blut, gegen Stahl, Kugeln und
Panzer haben wir keine Macht.« Hunderttausendfach
wurde das Video inzwischen geklickt, es sind Worte
von fast erschreckender Offenheit, wie man sie in
China selten hört. Denn eine fast lückenlose Zensur
hat nahezu alle kritischen Stimmen zum Verstummen
gebracht. Neulich wurde ein chinesischer Gaststudent
nach seiner Rückkehr aus den USA zu sechs Monaten
Haft verurteilt, weil er in Amerika kritische Tweets
über Xi Jinping abgesetzt hatte – Kritik, die zu Hause
kaum jemand lesen kann, weil Twitter dort gesperrt
ist und nur noch wenige es wagen, die Große Firewall
zu umgehen. Den staatlichen Überwachern ist das
gleich, ihre Arme reichen bis ins Ausland.
Wie viele Chinesen denken in diesen Tagen wie
der YouTuber aus Wuhan? Wie viel angestauter Frust
über Desinformation und Zweiklassenmedizin –
Vorzugsbehandlung für Parteikader, ewige Warterei
für Normalbürger – schlägt in Unzufriedenheit über
das System um? Antworten fallen schwer, da es keine
verlässlichen Meinungsumfragen in China gibt. Das
Muster, nach dem sich die Coronavirus­Krise entfal­

tete, ist jedoch altbekannt: Solange Provinzbehörden
ein Problem nicht nach Peking melden, existiert es
offiziell nicht. Wird es endlich bekannt, kann man
sicher sein, dass es nationalen Krisenstatus erreicht
hat und wertvolle Zeit vertan wurde. Niemand möch­
te im chinesischen Bürokratieapparat der Überbrin­
ger schlechter Nachrichten gegenüber der obersten
Führung sein – denn Rechenschaft sind Kader nur
den Vorgesetzten schuldig, nicht der eigenen
Bevölkerung. Diese systemische Schwäche hat das
Coronavirus mit voller Wucht entblößt.
Dass der Einparteienstaat in der Lage ist, riesige
Provinzen von heute auf morgen abzuschotten, ist
nur scheinbar eine Stärke – denn zu dieser historisch
beispiellosen Maßnahme griff Peking erst, als bereits
Millionen Studenten und Wanderarbeiter die Epi­
zentren des Ausbruchs in der Provinz Hubei verlassen
hatten. Ob die Massenquarantäne Wirkung zeigen
wird, bezweifeln Experten daher.

Am wenigsten immun gegen die politische An­
steckungsgefahr dürfte in diesen Tagen Staatschef Xi
Jinping sein: Die Viren­Krise trifft ihn zu einer denk­
bar ungünstigen Zeit. Sein Einmanntotalitarismus
hat ihm Feinde bis in die obersten Parteiebenen ver­
schafft; seine wirtschaftspolitische Rolle rückwärts
droht das Land in die Stagnation zu ziehen. Auch an
anderen politischen Fronten gibt es Pro bleme: In
Hongkong gehen die KP­Gegner nun bald im neun­
ten Monat auf die Straße; Taiwan driftet weiter vom
Festland ab, vor drei Wochen wurde mit Präsidentin
Tsai Ing­wen eine scharfe Kritikerin Pekings im Amt
bestätigt; in den Seidenstraßen­Ländern formiert sich
Widerstand gegen Missmanagement und gebroche­
ne Versprechen. Je weiter sich das Virus ausbreitet,
desto günstiger wird die Gelegenheit für Xis inner­
parteiliche Gegner, gegen den bei ihnen verhassten
Alleinherrscher zu mobilisieren.
Auch aus einem weiteren Grund hat Xis Führungs­
stil die Widerstandsfähigkeit der chinesischen Gesell­
schaft gegen eine neuartige Seuche wie das Corona­
virus geschwächt: Anders als zu Sars­Zeiten gibt es
kaum noch Medien im Land, die das staatliche Infor­
mationsmonopol unterlaufen. Während der Sars­Epi­
demie erlebte der Journalismus eine kurzzeitige Blüte
in China: Ehemals unabhängige und kritische Zeitun­
gen wie die Nanfang Zhoumo gaben den Takt in der
Berichterstattung vor, investigative Reporter deckten
Behördenversagen auf. Heute ist offenbar das einzige
nicht staatliche Medium, das aus Wuhan berichtet,
das Wirtschaftsmagazin Caixin. Blätter wie Nanfang
Zhoumo sind zahm und bedeutungslos geworden.
Viele der bekanntesten Journalisten Chinas haben der
Branche den Rücken gekehrt, die Verbliebenen kämp­
fen einen Zweifrontenkrieg: gegen die immer unerbitt­
licheren Zensoren einerseits und gegen Halbwahr­
heiten und Gerüchte in den sozialen Medien.
Mehr als 800 Millionen Chinesen sind heute
online, die junge Generation informiert sich über­
wiegend über WeChat­Kanäle oder private Chat­
gruppen. In diesen verbreiten sich rasant Videos von
Menschen, die scheinbar reihenweise auf Wuhans
Straßen umkippen, und von Leichen in Kranken­

hausfluren, um die sich niemand kümmert. Nun
stellt sich heraus: Einige Videos zeigten keine Kran­
ken, sondern lediglich Betrunkene. Gerüchte über
eine bevorstehende Abriegelung von Peking und
Shanghai erwiesen sich als haltlos, ebenso wie die
Nachricht, dass Kampfflieger in der Stadt Zhengzhou
Anti­Viren­Medizin aus der Luft versprühen.
In anderen Fällen ist es nur schwer möglich, den
Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ärzten und Kranken­
pflegern in Wuhan ist inzwischen untersagt, ohne
Erlaubnis Interviews zu geben, berichten Reporter
von Caixin. Staatliche Propagandastellen wollen die
Aufgabe übernehmen, Falschinformationen im Netz
zu korrigieren: Das hunderttausendfach geteilte Video
mit den achtlos liegen gelassenen Opfern etwa sei ein
Fake, gab eine Regierungsstelle bekannt. Doch warum
sollte man den Behörden Glauben schenken, fragen
sich viele Chinesen, wenn sie zuvor nachweislich ge­
logen haben und – ist hinzuzufügen – es auch weiter­
hin tun? Das Foto einer angeblich bereits fertiggestell­
ten Notfallklinik in Wuhan, das Staatsmedien Anfang
der Woche verbreiteten erwies sich als gefälscht. Zu
sehen war eine x­beliebige Containersiedlung, wie
man sie per Google­Bildersuche findet.
Ironischerweise birgt gerade das Streben der Par­
tei nach absoluter Informationskontrolle die Gefahr
des zunehmenden Kontrollverlusts: Wo die Men­
schen sich vom Staat schlecht informiert oder gar
belogen fühlen, trauen sie ihm schließlich auch dann
nicht mehr, wenn er die Wahrheit sagt. Und Xis
Drang, alle Macht im Land an sich zu reißen, wird
zum Bumerang: Zunächst ließen Zensoren sämtliche
Rücktrittsforderungen gegenüber Wuhans führenden
Parteikadern aus dem Netz tilgen; dann bot der
Bürgermeister der Metropole von sich aus im
Staatsfernsehen an, sein Amt niederzulegen. Die Ver­
antwortung für das Desaster gab er aber zurück an
Peking: Der Ausbruch des Virus sei von ihm
frühzeitig gemeldet worden, nur habe ihn bis zum


  1. Januar niemand gehört. Man könnte auch sagen:
    In einem System, in dem ein Einzelner die Entschei­
    dungen fällt, zeigen alle Finger auf ihn, wenn das
    System versagt.


D


ie Finanzmärkte nehmen das Kata­
strophenszenario schon einmal
vorweg. In dieser Woche ging es an
allen wichtigen Weltbörsen mit den
Kursen bergab. Wird das Virus zu
einer Gefahr für die Weltwirtschaft und damit
auch für Arbeitsplätze in Deutschland?
Unter Experten wächst die Sorge, dass es so
weit kommen könnte. China ist praktisch schon
lahm gelegt: Flüge wurden abgesagt, Züge verkeh­
ren nicht mehr, Läden bleiben geschlossen. In den
großen Fabriken wird wegen des chinesischen
Neujahrsfests derzeit ohnehin nicht gearbeitet.
Die Größenordnung lässt sich mit ökonomi­
schen Modellen nur schwer abschätzen. Fachleute
wie Holger Schmieding von der Berenberg Bank


verweisen auf die Auswirkungen der Lungen­
krankheit Sars im Jahr 2003. Damals ging die
chinesische Wirtschaftsleistung um rund zwei
Prozentpunkte zurück – vor allem der private
Konsum brach ein. Auf die europäische und die
amerikanische Konjunktur hatte das aber kaum
Auswirkungen.
Aus zwei Gründen könnten die Folgen diesmal
dramatischer sein: Erstens lässt sich das Corona­
virus möglicherweise schwieriger eindämmen,
auch wenn die Krankheit milder zu verlaufen
scheint als Sars (siehe Seite 32).
Sollte dem so sein, wären die wirtschaftlichen
Verwerfungen schwerwiegender, vor allem wenn
in anderen Ländern Städte oder Regionen abge­
riegelt oder der Flugverkehr eingeschränkt werden

Die Ereignisse setzen China und
den Rest der Welt unter Druck.
Wie schlimm es wird, hängt von
zwei Faktoren ab VON MARK SCHIERITZ

K ränkelnde


Wirtschaft


würde. Immerhin ziehen bereits erste ausländische
Firmen ihre Leute aus China ab.
Zweitens ist die chinesische Wirtschaft heute
viel bedeutender für die globale Konjunktur als


  1. Damals entfielen etwa sechs Prozent der
    weltweiten Wirtschaftsleistung auf die Chinesen,
    heute sind es rund 16 Prozent. Gerade für die
    deutsche Wirtschaft ist China ein wichtiger Han­
    delspartner. Etwa sieben Prozent der gesamten
    deutschen Warenausfuhren gehen in das Land,
    etwa 93 Milliarden Euro. Für den Volkswagen­
    konzern ist China der größte Auslandsmarkt. Der
    Autobauer hat dort 23 Werke mit mehr als 90.000
    Mitarbeitern. Wenn die chinesische Wirtschaft
    deutlich an Fahrt verliert, würde das auch Deutsch­
    land treffen.


Die gute Nachricht: Die Geschichte zeigt,
dass Naturereignisse wie Seuchen, Unwetter
oder auch Erdbeben die Wirtschaft in aller Regel
nur vorübergehend belasten. Die Produktions­
ausfälle werden normalerweise schnell aufgeholt,
wenn sich die Lage wieder beruhigt hat – zumal
die Regierungen oft staatliche Hilfsprogramme
zur Stützung der Wirtschaft auflegen. Die öko­
nomischen Auswirkungen des Virus seien »be­
deutend, aber kurzlebig«, heißt es in einer Un­
tersuchung des Beratungsunternehmens Oxford
Economics.
So war es jedenfalls bei Sars. Nachdem sich das
Umsatzwachstum im chinesischen Einzelhandel
im Frühjahr 2003 halbiert hatte, erreichte es
schon im Sommer wieder sein vorheriges Niveau.

Infizierte in China


CHINA

ZEITGrafik/Quelle:
gisanddata.maps.arcgis.com
(Stand: 28.1.)

ZEITGrafik/Quelle: news.ifeng.com

bestätigte Fälle des Coronavirus in Chinabestätigte Fälle des Coronavirus in China

Peking

ShanghaiShanghai

15.1.15.1. 17.1.17.1. 19.1.19.1. 21.1.21.1. 23.1.23.1. 25.1.25.1.

00

25002500

50005000

Provinz Hubei: 2714Provinz Hubei: 2714

Auftreten des Coronavirus
in den Provinzen und Regionen Chinas:
entspricht 500 bestätigten Fällen

Auftreten des Coronavirus
in den Provinzen und Regionen Chinas:
entspricht 500 bestätigten Fällen

2 7.1.2 7.1.

Foto: Nicolas Asfouri/AFP/Getty Images


  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 WISSEN 33

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