32 WISSEN 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
Quellen
Europäische und amerikanische
Seuchenbehörden veröffentlichen regelmäßig
aktuelle Zahlen zur globalen Entwicklung
Die Weltgesundheitsorganisation WHO
publiziert tägliche »Situation Reports« und
aktualisiert ihre Strategie-Empfehlungen
Der Berliner Virologe Christian Drosten
stützt seine Thesen zum neuen Ausbruch auf
Analysen der Sars-Epidemie 2003
Links zu diesen und weiteren Quellen finden
sich bei ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2020-6 e
Wie entsteht eine Seuche?
Viren sind heimtückischer als Bakterien.
Oft mutieren sie schnell – und bedrohen den Menschen immer neu
VON ULRICH BAHNSEN
O
b sie überhaupt als lebendig
gelten dürfen, ist Ansichts-
sache. Viren besitzen keinen
Stoffwechsel, sie atmen nicht,
sie verbrennen keine Kalo-
rien. Sie bestehen nur aus
einem Erbmolekül, verpackt
in Eiweiße, zuweilen umhüllt von einer fettigen
Membran. Zu einer Art Leben erwachen Viren
erst, nachdem sie in eine Körperzelle eingedrungen
sind. Dann übernehmen die wenigen Virusgene
das Kommando über den Wirt und zwingen ihn,
den Erreger millionenfach zu vermehren.
Nicht alle Viren machen krank. Nicht alle sind
für Menschen gefährlich. Wenn das Immunsystem
auf ihre Abwehr trainiert ist, kann es eine Infekti-
on schnell stoppen. Oder es hält den Erreger zu-
mindest unter Kontrolle – wie etwa bei einer
Herpes-Infektion. Doch wenn die Körperabwehr
es mit neuen oder mutierten Viren zu tun be-
kommt, sind diese im Immungedächtnis nicht ge-
speichert – dann kann es gefährlich werden.
Besonders gefährlich sind RNA-Viren. Sie kön-
nen sich schnell verändern und das Immunsystem
immer wieder überlisten. Ihr rascher Wandel er-
laubt es manchen von ihnen, anstelle einer Tier-
spezies plötzlich Menschen zu infizieren. Die Co-
ronaviren, die 2002 und 2003 die Sars-Ausbrüche,
2013 die Mers-Epidemie und nun, seit Ende
2019, die neue Erkrankungswelle in Wuhan aus-
lösten, waren ursprünglich in Fledermäusen hei-
misch. Von dort stammt auch das Ebolavirus,
dessen gefährlichste Variante bis zu 80 Prozent der
Infizierten töten kann. Die jährlich wiederkehren-
den Influenza-Erreger mutieren in Geflügel und
Schweinen, um dann auf Menschen überzusprin-
gen. HIV, das wohl heimtückischste Virus des
Menschen, war ursprünglich ein Affenvirus.
Sie alle benutzen, anders als viele andere Viren
und alle höheren Lebewesen, nicht das Erbmole-
kül DNA (Desoxyribonukleinsäure) als Speicher
für ihre genetische Information, sondern dessen
chemischen Verwandten, die Ribonukleinsäure
RNA – und das hat Konsequenzen.
Wenn die Viren durch die Luft übertragen
werden, ist die Gefahr einer Pandemie groß
RNA-Viren mutieren sehr schnell, schon weil das
Erbmolekül selbst chemisch weniger stabil ist als das
Pendant DNA. Vor allem aber machen die Enzyme,
die für die Vervielfältigung der genetischen Infor-
mation verantwortlich sind, viele Kopierfehler. Den
RNA-Polymerasen fehlt eine Kontrollfunktion, die
DNA-kopierende Enzyme besitzen. Diese über-
prüfen damit die frisch gebildete Kopie der Erb-
moleküle auf Fehler und setzen zur Korrektur an.
Da sie ohne diesen Mechanismus abläuft, ist
die RNA-Vervielfältigung viel ungenauer. Die Fol-
ge: Jedes neu entstehende Virus ist eine Mutante.
Die meisten Mutationen schaden dem Erreger
selbst, aber manchmal führen sie eben auch zu
neuen Anpassungen.
Wie gefährlich eine Virusepidemie schließlich
ist, hängt von vielen Umständen ab. Wie schnell
und wie viele der Infizierten tötet der Erreger? Wie
leicht wird er übertragen? Welchen Weg nutzt er
für die Übertragung?
Ein Virus stirbt nur dann nicht mit seinem
Opfer, wenn es zuvor genügend weitere Menschen
infiziert hat. Wenn sich die Infektion nur vom ur-
sprünglichen Wirt – also einem Tier – auf den
Menschen überträgt, wird die Ausbreitung der
Krankheit begrenzt bleiben. Gelingt dem Erreger
jedoch die Verbreitung von Mensch zu Mensch,
kann es zu weltweiten Pandemien kommen. Diese
Gefahr ist besonders groß, wenn die Übertragung
per Tröpfcheninfektion durch die Luft erfolgt. Das
ist bei der Influenza so. Auch das neue Corona-
virus 2019nCoV springt durch die Luft auf sein
nächstes Opfer über.
Entscheidend für den Verlauf einer Epidemie
ist aber auch, in welchem Stadium der Erkrankung
die Infizierten andere Menschen anstecken kön-
nen. Bei der Sars-Epidemie 2002 und 2003 wur-
den die Viren erst übertragen, als die Infizierten
klare Krankheitssymptome hatten und gut erkannt
werden konnten. Das scheint bei 2019-nCoV
bisher auch der Fall zu sein.
Auch in Zukunft werden neue Viren
auf den Menschen überspringen
Eine Reihe von Erregern verhalten sich in dieser
Hinsicht aber ganz anders. Sie können das nächste
Opfer schon infizieren, wenn der Überträger noch
gar keine Beschwerden hat. Auf diese Strategie
sind Viren angewiesen, die sich nicht besonders
leicht verbreiten – etwa weil sie nur durch Blut-
Blut-Kontakt übertragen werden. Das Ebolavirus
ist ein Beispiel für diese Infektionsdynamik. Es
wird nicht durch die Luft übertragen und würde
sich kaum verbreiten, wenn die Krankheit erst
nach Ausbruch des hämorrhagischen Fiebers an-
steckend wäre.
Das extremste Beispiel für diese Art der Ver-
breitung ist HIV. Auch dieser Erreger wird nur auf
einen Menschen übertragen, wenn er in dessen
Blutbahn gerät. Noch dazu ist HIV dabei wenig
effizient – nicht jeder Kontakt etabliert eine neue
Infektion. Diesen Nachteil gleicht der Aids-Erre-
ger durch eine extrem lange Inkubationszeit aus.
Er kann viele Jahre verborgen in den Immunzellen
eines Infizierten existieren, bis er die Immun-
schwäche auslöst. Davor aber nutzt er die lange
Zeit, um unerkannt viele weitere Sexualpartner
seines Opfers zu befallen. Trotz seiner geringen
Infektiosität hat das HI-Virus auf diese Weise eine
der schlimmsten Epidemien der Menschheitsge-
schichte ausgelöst.
Viren sind schwerer durch Medikamente zu be-
kämpfen als etwa bakterielle Erreger. Weil sie nur
über wenige Gene in ihrem Erbgut verfügen, bieten
sie nur eine sehr begrenzte Zahl von Angriffspunkten
für pharmakologische Substanzen. Virostatika rich-
ten sich meist gegen die DNA- oder RNA-Polymera-
sen, die das Erbgut der Viren vermehren. Andere
Medikamente blockieren die Bildung der schützen-
den viralen Hülleiweiße.
Die wenigen Gene, mit denen Viren ihre Exis-
tenz sichern können, machen sie für Biologen zu
einem großen Rätsel. Kann das wirklich Leben
sein? Es ist möglich, dass Viren sehr früh in der
Geschichte des Lebens entstanden – als eine Art
parasitierende Erbsubstanz, die sich der ersten
Zellen auf der Erde bemächtigte. Eine andere Hy-
pothese lautet: Viren waren ursprünglich tatsäch-
lich lebendig. Es handelte sich um Zellen, die sich
ihres Stoffwechsel entledigten und zu einer Le-
bensweise als genetische Parasiten übergingen.
Wir sind weit davon entfernt, alles über diese
nur scheinbar simplen Gebilde zu wissen. Eines
aber ist gewiss: Einen Wettlauf, wie ihn Forscher
und Ärzte jetzt erleben, wird es immer wieder ge-
ben. Unaufhörlich werden auch in Zukunft Viren
von tierischen Wirten auf den Menschen über-
springen. Stets werden sich die gleichen grund-
sätzlichen Fragen stellen: Ist der Erreger neu? Ist er
gefährlich? Wo ist seine Schwachstelle? Und: Sind
wir schnell genug?
von Infektionskrankheiten sind vor einigen Jahren
per Gesetz verkürzt worden – auf 24 Stunden pro
Hierarchieebene, was heißt: Ein Hausarzt, der
einen infizierten Patienten hat, muss innerhalb von
24 Stunden den positiven Test an das Gesundheits-
amt melden. Das Amt muss die Information binnen
24 Stunden an die Landesgesundheitsbehörde wei-
terreichen, die es ans RKI meldet. Dauert es also drei
Tage, bis man in Berlin weiß, dass irgendwo in der
Provinz eine heikle Infektion aufgetreten ist? Nein,
sagt Schaade, »in der Regel erfahren wir sehr viel
schneller davon. Normalerweise innerhalb von Stun-
den desselben Tages.« Denn für Lagen wie diese gibt
es noch die Paragraf-12-Meldungen nach Infektions-
schutzgesetz, laut dem die Gesundheitsämter unver-
züglich an die Landesbehörde melden müssen und
diese sofort an das RKI. Die Meldungen können
online über das Survnet des RKI erfolgen.
Was aber, wenn das Virus weiter mutiert? Wenn
die Krankheitsverläufe schwerer werden? Sollten
viele Infektionsfälle mit dem neuen Coronavirus in
Deutschland auftreten, die auf einer Intensivstation
behandelt werden müssen, können sich die Kliniken
über das sogenannte ARDS-Netzwerk koordinieren.
Es ist ein Zusammenschluss aller Kliniken, die künst-
liche Beatmungen anbieten. In Echtzeit sieht man
auf der Homepage, wo noch freie Plätze zu finden
sind. Das ARDS-Netzwerk wurde 2018, kurz nach
einer besonders schweren Grippesaison, gegründet.
»In der Saison 2017/2018 hatten wir 60.000
Krankenhauseinweisungen und 25.000 Tote wegen
Influenza«, sagt Schaade. Was er damit auch sagt: Das
deutsche Gesundheitssystem erlebt alle paar Jahre
einen Stresstest, nämlich dann, wenn die Grippe-
saison heftig ausfällt. Normalerweise übersteht das
System diesen Test inzwischen gut.
Es gibt aber eine mögliche Schwachstelle: die Ge-
sundheitsämter, zentrale Relaisstationen für Infor-
mation. »Der Bund, viele Bundesländer und Kom-
munen investieren zu wenig in den öffentlichen
Gesundheitsdienst«, sagt Maike Voss, die bei der
Stiftung Wissenschaft und Politik zu globalen Ge-
sundheitsfragen arbeitet. Ein Experte für das öffent-
liche Gesundheitssystem in Deutschland, der nicht
namentlich zitiert werden möchte, sagt der ZEIT:
»Der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland
ist stark überlastet.« Er erzählt von einem Gesund-
heitsamt in Thüringen, in dem gar kein Arzt mehr
arbeite, weil es schlicht keine Bewerber gebe. Ärzte
in Kliniken oder Praxen verdienten im Schnitt deut-
lich mehr, im Gesundheitsamt zu arbeiten sei für die
meisten sehr unattraktiv. Im Zweifelsfall habe es noch
immer Ressourcen gegeben, um die Ärzte zu unter-
stützen, die sich um den Infektionsschutz kümmer-
ten, beruhigt indes RKI-Vizepräsident Lars Schaade.
»Wir beobachten nicht, dass Gesundheitsämter re-
aktionsunfähig sind.«
Ob nun Chinas autoritärer Staatskapitalismus
oder ein langsameres, aber lernfähiges demokratisches
System effektiver auf eine virale Bedrohung reagiert,
hängt – darauf verweisen alle Experten – maßgeblich
vom Charakter der Bedrohung selbst ab. Obwohl die
täglich steigenden Fallzahlen aus China und die
stetig wachsende Zahl von betroffenen Ländern be-
drohlich wirken, ist das Virus offenbar kein geborener
Weltenbummler. »Meine Arbeitshypothese ist, dass
das neue Coronavirus im Prinzip Sars ist«, sagt Chris-
tian Drosten. Der Virologe von der Berliner Charité
gilt als der intimste Kenner der Coronaviren, 2003
war er Mitentdecker der Sars-Erreger, und diesmal
konnte er der Welt als Erster ein schnelles und siche-
res Nachweisverfahren präsentieren.
Trifft Drostens Hypothese zu – Sars gleich
2019-nCoV –, hätte das weitreichende Konse-
quenzen. Es käme einer ersten Entwarnung gleich.
Denn ob sich ein Virus unbemerkt an Flughafen-
kontrollen vorbei in die Provinz schleichen kann,
ob es sich allmählich von Staat zu Staat, von Stadt
zu Stadt verbreitet, hängt davon ab, ob seine Wirte
Symptome zeigen. Bei Sars sind die Infizierten erst
infektiös, wenn sie sich durch Symptome verraten.
Nun ist die Streitfrage: Gibt es auch bei dem
neuen Coronavirus viele asymptomatische Träger?
»Ich wundere mich über Aussagen eines chinesischen
Gesundheitsministers, der sagt, sie hätten jetzt Hin-
weise darauf, dass asymptomatische und präsymp-
tomatische Patienten die Krankheit übertragen«, sagt
Drosten. Das gäben die ihm vorliegenden Daten
nicht her. Die hohe Übertragungsrate von Mensch
zu Mensch, die etwa das Imperial College in London
errechnet hat, hält der Virologe für eine überzogene
Schätzung, basierend auf sehr kleinen Fallzahlen und
vielen Annahmen. »Würde die Virusausscheidung
der Symptomatik vorauseilen«, sagt Drosten, »dann
würden wir jetzt schon weitere Fälle in Ländern jen-
seits von China sehen.« Die aktuelle Ansteckung in
Bayern von einer angeblich symptomfreien Chinesin
sei »natürlich eine schlechte Nachricht«.
Drosten kann für seine Einschätzung auch auf die
biologischen Eigenschaften von 2019-nCoV ver-
weisen: Das Virus dockt in der Anfangsphase der
Infektion an sogenannte ACE2-Rezeptoren an. Und
die sitzen tief in der Lunge. Nur Erreger, die es später
massenhaft in die oberen Luftwege schaffen, können
von dort leicht in die Lungen anderer Wirte gelangen.
Und was ist mit Schmierinfektionen? Sind Tür-
klinken gefährlich? Haltegriffe in der U-Bahn?
»Nach Sars kann man sagen, es gibt überhaupt keine
Hinweise für eine Übertragung über Oberflächen«,
sagt Drosten.
Dass sich 2019-nCoV in China dennoch so
schnell so weit verbreitet konnte, liegt wahrscheinlich
an der regen Reisetätigkeit rund um das chinesische
Neujahrsfest – und an den Krankenhäusern. Denn
der eigentliche Verbreitungsort des Virus war höchst-
wahrscheinlich nicht der Fischmarkt in Wuhan, es
waren die dortigen Kliniken. Auch bei Sars haben
sich die meisten Menschen in den Krankenhäusern
angesteckt. Deshalb sei im Verdachtsfall ein Anruf
beim Arzt und eine Heimquarantäne besser als ein
Besuch in der Klinik, sagt Drosten. »Eine solche An-
ordnung könnten auch deutsche Gesundheitsämter
erlassen.« Das sei gerade im Fall von 2019-nCoV eine
hervorragende Methode, weil die meisten Patienten
keine schweren Symptome zeigten.
Und was hält Drosten vom chinesischen Weg der
geschlossenen Bahnhöfe und gesperrten Straßen? Die
Sperren, sagt der Virologe, hielten den Erreger nicht
auf. Sie seien aber eine eindringliche Botschaft: Jetzt
gilt es, soziale Distanz zu wahren. Das habe schon
damals bei Sars in Hongkong gewirkt.
Mitarbeit: Matthias Nass, Andreas Sentker
Der Stresstest Fortsetzung von S.31
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Sars
Mers
Neues
Coronavirus
7 74
Tote
Infizierte
2002
2012
Infizierte
858
Tote
2494
ZEIT-GRAFIK/Quelle: WHO, CDC, NHC, Dingxiangyuan
Stand: 28.1.
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Sars
Mers
Neues
Coronavirus
(2019-nCoV)
7 74
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Infizierte
2002
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Infizierte
858
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10 6
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Infizierte
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ZEIT-GRAFIK/Quelle: WHO, CDC, NHC, Dingxiangyuan
Stand: 28.1.
Mers
Neues
Coronavirus
(2019-nCoV)
2012
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Infizierte
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Tote
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TITELTHEMA
ZEIT-GRAFIK/Quelle: WHO, CDC, NHC, Dingxiangyuan
Stand: 28.1.
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Mers
Neues
Coronavirus
(2019-nCoV)
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Tote
Infizierte
2012
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Infizierte
858
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