KLIMAWANDEL
Quellen
Der Essay von Jonathan Franzen erschien im
September 2019 im »New Yorker« und kommt
nun als Rowohlt-Taschenbuch auf den Markt
Jem Bendells Aufsatz über »Tiefenanpassung«
erschien 2018 auf seiner Homepage. Dort
finden sich viele weitere Verweise zum Thema
Die »Klimakrise als existenzielle Bedrohung«
erforscht auch Simon Beard. In einem Podcast
spricht er ausführlich über seine Arbeit
Links zu diesen und weiteren Quellen
finden sich bei ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2020-6
mehr Meinungsäußerung als wissenschaftlicher
Text. Fachzeitschriften haben ihn abgelehnt und
größere Korrekturen verlangt, was Bendell da-
durch umging, dass er ihn auf seiner Homepage
veröffentlichte. Und damit erzielte er in be-
stimmten Kreisen erstaunliche Resonanz.
Der Nachhaltigkeitsforscher von der Univer-
sity of Cumbria in London ist überzeugt, dass es
zu »einem unvermeidlichen gesellschaftlichen
Zusammenbruch aufgrund des Klimawandels«
kommen wird. Zudem hält er die bisherigen
Strategien zur Anpassung an den Klimawandel
für unzureichend. Denn diese seien darauf aus-
gerichtet, das normale Funktionieren unserer
Gesellschaft zu erhalten. Bendell erwartet jedoch
»disruptive und unkontrollierbare« Veränderun-
gen auf vielen Ebenen gleichzeitig. Die Erträge
der Landwirtschaft und Fischerei brächen ein, es
komme zu Hungersnöten, Überschwemmun-
gen, Epidemien, und 100 Millionen Flüchtlinge
machten sich auf den Weg, was in der global ver-
netzten Welt rasch die gewohnten Sicherungs-
systeme sprenge.
Zwar gibt Bendell zu, dass auch er nicht ge-
nau wisse, wie die Zukunft tatsächlich aussehen
werde. Zugleich aber malt er diese Zukunft in
kräftig-düsteren Farben aus: »Bei Abschaltung
der Stromzufuhr werden Sie bald kein Wasser
mehr aus Ihrem Wasserhahn bekommen. Sie
werden sich auf Ihre Nachbarn verlassen müssen,
um Essen und etwas Wärme zu bekommen. Sie
werden unterernährt sein. Sie werden nicht wis-
sen, ob Sie bleiben oder gehen sollen. Sie werden
befürchten, gewaltsam getötet zu werden, bevor
Sie verhungern.«
Kein Wunder, dass angesichts solcher Progno-
sen heute in Internetforen die inevitable near term
human extinction intensiv diskutiert wird – das
»unausweichliche kurzfristige menschliche Aus-
sterben«. Und dass in der Prepper-Szene (von
engl. to be prepared – »bereit sein«) Tipps zur Ein-
lagerung von Lebensmitteln oder für die
Errichtung von Schutzbauten hoch im Kurs
stehen. Oder dass sich zum Teil bizarre Verbin-
dungen zwischen Klima-Apokalyptikern und
»völkisch« gesinnten Rechtsextremen ergeben,
die sich auf einen diffusen »Endkampf« der Eth-
nien vorbereiten.
Mit solchen Gewaltfantasien hat Bendell
nichts am Hut. Sein Konzept der »Tiefenanpas-
sung« soll vielmehr den Menschen die Einsicht
in das Unvermeidliche erleichtern. So listet er
auf seiner Website eine ganze Reihe von psycho-
logischen Anlaufstellen und Facebook-Gruppen
auf, die helfen sollen, den Schock und die Trauer
angesichts des Untergangs zu verarbeiten. Da
gibt es die »Allianz der Klima-Psychologen«, das
Aching Heart Movement (»Bewegung der
Schmerzenden Herzen«), die Human Near Term
Extinction Support Group oder Adressen von
»Todes-Cafés«, in denen bei Kaffee und Kuchen
über das Sterben geredet und das Bewusstsein für
die eigene Endlichkeit geschärft werden soll.
Abgesehen davon rät Bendell allgemein dazu,
das eigene Leben zu überdenken (»Wir haben
keine Zeit mehr für Karrierespiele«) und sich mit
anderen zu vernetzen. Brächen gesellschaftliche
Strukturen zusammen, sei man auf die Men-
schen im näheren Umfeld angewiesen. So
plädiert er etwa für »kommunale Dialoge«, um
sich zu überlegen, was man aufgeben wolle
(Häuser oder Industrieanlagen an Küsten oder
Flüssen), was man wiederentdecken wolle (Land-
schaftsgebiete zur Renaturierung, »nichtelektro-
nische Formen des Spiels«) und was im Krisenfall
sonst noch wichtig werden könne (etwa »eine
kleinmaßstäbliche Produktion von Medikamen-
ten wie Aspirin«).
Einen generellen Fahrplan für den Umgang
mit dem Kollaps könne leider niemand aufstel-
len, gesteht Bendell, denn »der Versuch, es zu
tun, würde davon ausgehen, dass wir uns in einer
Situation befinden, in der es um berechenbare
Managementmaßnahmen geht, obwohl wir mit
einer komplexen Situation konfrontiert sind, die
außerhalb unserer Kontrolle liegt«. Auch versucht
er gar nicht erst abzuschätzen, wie die Erosion
der Zivilisation ablaufen könnte, wo sie begin-
nen, wie sie sich ausbreiten und wie lange das
alles dauern würde. Stattdessen setzt er einfach
den kompletten Zusammenbruch voraus,
Schluss, aus, Ende. Auf die Frage der ZEIT nach
dem Zeitpunkt hat er aber eine klare Antwort:
»Meine Schätzung ist, dass bis 2028 der soziale
Kollaps in den meisten Teilen der Welt begon-
nen hat.«
Selbst unter Kollapsologen stößt Bendell
damit auf heftige Kritik. Er präsentiere »wilde
Spekulationen über Desaster-Szenarios ohne
glaubwürdige Belege«, urteilt Simon Beard, der
am Centre for the Study of Existential Risk in
Cambridge ebenfalls die Erderwärmung als Ge-
fahr für die Menschheit erforscht. Es sei »enttäu-
schend«, dass bei diesem Thema so ein Schwarz-
Weiß-Denken vorherrsche, sagt Beard, dass »die
meisten Menschen entweder annehmen, der
Klimawandel sei unweigerlich katastrophal oder
er sei es unweigerlich nicht«.
Ähnlich argumentieren Alice Hill und Leo-
nardo Martinez-Diaz. Die beiden sind Experten
für Klimapolitik, die früher Barack Obama be-
rieten und die soeben ein Handbuch für den
»Umgang mit der kommenden Klimazerstö-
rung« vorgelegt haben (Building a Resilient To-
morrow, Oxford University Press). Obwohl auch
sie die Auswirkungen des Klimawandels bereits
für unvermeidlich halten, finden sie Bendells
These vom Zusammenbruch weit überzogen.
»Der Klimawandel wird uns nicht alle gleicher-
maßen treffen; manche Gesellschaften werden
mit großen Problemen konfrontiert sein,
während andere ziemlich lange stabil bleiben
werden.« Außerdem sei es längst nicht zu spät,
eine Katastrophe abzuwenden. Selbst wenn die
CO₂-Emissionen weiter stiegen, mache es »einen
großen Unterschied, ob wir sie bei 2 Grad, 3
oder 4 Grad stabilisieren«.
Viele Kollapsologen bemühen sich daher, das
Desaster-Risiko exakter zu erfassen, als Bendell
es tut. Dafür gibt es immerhin ein paar grobe
Leitplanken: So haben Forscher inzwischen eine
ganz gute Vorstellung davon, welche gefürchte-
ten »Kipppunkte« im Erdklimasystem bei wel-
cher globalen Temperaturerhöhung eintreten
können (siehe Grafik). Schwerer abzuschätzen ist
die Frage, ab wann es für die Menschheit ernst
wird. Manche Forscher halten schon einen
Temperaturanstieg von drei Grad für katastro-
phal, andere sehen die existenzielle Bedrohung
der Menschheit erst bei fünf Grad erreicht. Die
Wahrscheinlichkeit, dass solche Zustände bis
zum Ende des Jahrhunderts eintreten, beziffern
manche Studien auf 5 Prozent, andere auf 10
Prozent, manche auch noch höher. Aber klar ist:
So unausweichlich, wie Bendell den Kollaps dar-
stellt, ist er keineswegs.
»Das Problem der meisten Modelle ist, dass
sie zu wenig in Betracht ziehen, wie die Men-
schen in Zukunft auf den Klimawandel reagie-
ren«, sagt Simon Beard. Der Wandel komme ja
nicht plötzlich, sondern allmählich. Das sei
sowohl ein Problem als auch eine Chance. Ein
Problem sei es, weil sich Menschen an langsame
Katastrophen gewöhnten und den rechten Zeit-
punkt zum Handeln verpassten. Andererseits
liege die Chance darin, dass noch Zeit bleibe,
auf die Auswirkungen zu reagieren und Gegen-
maßnahmen zu ergreifen. Einen Kollaps quasi
über Nacht, wie ihn Bendell propagiert, hält
Beard für unrealistisch. »Natürlich hätten wir die
schlimmsten Effekte des Klimawandels besser
begrenzen können, hätten wir früher zu handeln
begonnen. Aber wir können sie immer noch ver-
hindern, wenn wir die richtige Wahl treffen.«
Doch was ist die richtige Wahl? Den Klima-
psychologen aufzusuchen und sich mit seinen
Nachbarn zu vernetzen, wie Bendell vorschlägt?
Oder, wie Jonathan Franzen in seinem Essay
postuliert, sich weniger als bisher mit der Frage
der CO₂-Begrenzung zu beschäftigen (weil er
diesen Kampf für verloren hält), stattdessen
mehr in Naturschutz zu investieren und vor
allem die rechtsstaatlichen Institutionen zu stär-
ken (weil im Chaos sonst nur das Recht des
Stärkeren gilt)?
Im letzten Punkt geben selbst die Obama-
Berater Hill und Martinez-Diaz dem Schriftstel-
ler recht. »Wir stimmen mit Franzen überein,
dass wir uns jetzt auf die Auswirkungen des
Klimawandels vorbereiten müssen. Und wir
stimmen auch seinem Argument völlig zu, dass
unsere beste Verteidigung gegen Klimachaos das
Aufrechterhalten von Demokratie, Rechtssystem
und Zivilgesellschaft ist«, schreiben die beiden
per Mail an die ZEIT. Zugleich widersprechen
sie Franzen (und Bendell) aber in einem zentra-
len Punkt: der Behauptung nämlich, es sei zu
spät, den Klimawandel abzuwenden, und des-
halb nicht mehr wichtig, die Emissionen zu sen-
ken. »Es kommt enorm darauf an, wie schnell
wir die Emissionen stabilisieren. Gleichzeitig
können wir es uns auch nicht länger erlauben,
den Aspekt der Resilienz zu ignorieren. Wir müs-
sen beides gleichzeitig tun.«
Um die Resilienz – also die Widerstandsfä-
higkeit – unserer Gesellschaft zu stärken, for-
dern Hill und Martinez-Diaz in ihrem Buch ei-
nerseits, die Politik müsse sich mehr mit den
ökonomischen Folgen des Klimawandels ausein-
andersetzen (weil die Vorsorge billiger sei als die
spätere Schadensbegrenzung), und schlagen
anderer seits eine Vielzahl einzelner Maßnahmen
vor. Dabei propagieren sie unter anderem mehr
»institutionelle Fantasie«: Politiker, Kommunen
und Unternehmen sollten »die Übung der Vor-
stellungskraft zur regelmäßigen, ja zwingenden
Praxis machen«. Nicht um möglichst exakte
Prognosen gehe es dabei, sondern um eine Vor-
stellung davon, »wie unterschiedliche Zukünfte
aussehen könnten, unabhängig davon, wie
wahrscheinlich sie erscheinen«.
Einer dieser Zukunftsentwürfe wäre dann
auch, den Kollaps gewohnter Sicherungssysteme
durchzuspielen – um zu überlegen, was alles pas-
sieren und welche Vorsorgemaßnahmen man
treffen könnte. Denn wie Simon Beard sagt:
»Wir sollten uns klarmachen, dass niemand
wirklich weiß, wie die Zukunft aussieht, dass
aber unser heutiges Tun dafür entscheidend ist.«
Und wer glaubt, auf kommende Krisen unge-
nügend vorbereitet zu sein, muss nicht gleich ins
Todes-Café eilen; ein Anfang wäre es schon, die
Resilienz des eigenen Heims zu erhöhen und sich
beispielsweise einen Notvorrat an Lebensmitteln
und Trinkwasser für zehn Tage anzulegen. Das emp-
fiehlt zum Beispiel das Bundesamt für Bevölke-
rungsschutz, das einen fast 70-seitigen Ratgeber für
die Katastrophenvorsorge herausgegeben hat.
Vielleicht nehme ich diesen nächstes Mal
auch zu meiner Ärztin mit.
A http://www.zeit.de/audio
Was, wenn es so kommt? Fortsetzung von S. 37
Z E I T-GRAFIK/Quelle: PIK/Schellnhuber,
Rahmstorf, Winkelmann: Nature Climate Change 6, 2016
+ 8
+ 4
+ 2
+ 1
0
+ 3
+ 5
+ 7
+ 9 ̊C
Eisdecke der Grönland
Westantarktis
verschwindet
Nördlicher
Nadelwald
Amazonas-
Regenwald
Sahelzone Meeresströmungen
(z.B. El Niño im Pazifik)
Eisdecke der
Ostantarktis
Permafrostböden
Nordmeer-Eis
im Winter
Korallenriffe
Nordmeer-Eis
im Sommer
Gebirgsgletscher
Voraussichtlicher
Temperaturanstieg
bei Einhaltung des
Pariser Abkommens
Auftauen
Zunahme der globalen Temperatur
Störung
Austrocknung
Absterben
Was wann verloren geht
Drastische Folgen des Klimawandels –
in Abhängigkeit vom Temperaturanstieg
Sogenannte Kipp-Punkte beschreiben Folgen
des Klimawandels, die unumkehrbar sind – zum
Beispiel das Verschwinden der Gletscher oder
des arktischen Meereises. Je höher die globale
Temperatur über den Referenzwert vor der
Industrialisierung (in der Grafik null) steigt,
desto größer wird das Risiko für das Erreichen
verschiedener Kipp-Punkte (die Länge der Linie
zeigt jeweils die Unschärfe der Schätzung).
Korallenriffe sterben selbst bei Einhaltung des
Pariser Abkommens (2-Grad-Limit), bei
plus 3 Grad ist Grönlands Eis verschwunden.
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38 WISSEN 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
Pflanz Bäume,
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