aber reden Mutter oder Vater. Wenn es ganz schlimm
kommt, quatschen sie nicht nur durch ein an der, sondern
erteilen sich widersprechende Aufträge: Such das Ram-
penlicht! Bleib lieber im Schatten! Mach alles anders!
Mach alles wie wir! Solche Aufträge können auf der
Lebensstrecke wirken wie Leitplanken, die quer über die
Straße gebaut wurden.
Doch wie bekommt man diese Stimmen wieder
aus sich heraus? Indem man erst einmal in sich hinein-
horcht und entdeckt, dass sie da sind. »Wir erkennen
unsere Aufträge, wenn wir das Gefühl haben, dass etwas
nicht übereinstimmt. Wenn wir den Eindruck haben,
gelebt zu werden«, sagt Sandra Konrad. »Familienauf-
träge sind dann problematisch, wenn sie nicht zu uns
passen, wenn wir sie nicht erfüllen können oder wenn
wir sie nicht zurückweisen dürfen.« Wenn man sein
halbes Leben einem Ziel hinterherläuft und nicht in
Worte fassen kann, warum überhaupt. Wenn man
immer wieder fällt und wieder aufsteht oder sich Prü-
fungen stellt und sie immer wieder vergeigt und man
eigentlich gar keine Kraft mehr hat – aber denkt, dieses
eine Ziel unbedingt erreichen zu müssen.
Da würde es natürlich helfen, wenn man wüsste,
dass der Vater nicht studieren konnte, weil er sich früh
um die Familie kümmern musste – und jetzt von den
eigenen Kindern nicht auch noch enttäuscht werden
will, weil es die nicht an die Universität zieht. Das Pro-
blem: Viele Töchter und Söhne wissen gar nicht so genau,
was ihre Eltern antreibt. Woher deren Zwänge oder
Ängste stammen, auf welche inneren Stimmen Vater
und Mutter hören, welche Aufträge sie mitbekommen
haben. Sich das zu fragen kann hilfreich sein. Man kann
auch die Eltern fragen. Und wenn das nicht gut geht,
kann man versuchen, sich in die Eltern hineinzuver-
setzen. »Wenn man in abgeschwächter Form spürt, wie
es gewesen sein könnte, bei den Großeltern Kind zu
sein, entsteht ein milderes Gefühl den Eltern gegen-
über«, sagt Sandra Konrad – »gegenüber den Menschen,
die einen selbst beauftragt haben.« Das kann ein wich-
tiger Schritt sein hin zur Autonomie.
Dennoch schaffen viele Menschen es nicht, sich
von ihren Aufträgen zu lösen. Ein Grund: Loyalität. »Ich
bin es meinen Eltern doch schuldig«, sagen die groß
gewordenen Kinder dann, und manche bleiben lebens-
lang an die Aufträge der Familie gebunden. Weil sie
davon überzeugt sind, dass erst die Anweisungen der
Eltern abgearbeitet werden müssen, bevor es um sie
selbst gehen darf oder sie gar Kritik üben dürfen. »Wenn
die Eltern idealisiert werden und man nicht spüren oder
benennen darf, dass der Vater auch mal jähzornig war
oder die Mutter übergriffig – dann ist die Frage, ob die
Loyalität nicht zu hoch ist«, sagt Konrad. Und das ist
sehr ungesund. »Zu lernen, Aufträge zurückzuweisen,
ist eine Entwicklungsaufgabe«, sagt die Psychologin,
»das müssen wir alle machen, wenn wir erwachsen
werden und unser eigenes Leben führen wollen. Und
das ist wirklich schwer, wenn die Eltern an den Aufträgen
festhalten.« Dann schaffen es Menschen manchmal
nicht, sich abzulösen von ihren Eltern. Oft, weil sie
ihnen nicht wehtun wollen. Aber ohne harte Schnitte
ist die Freiheit nicht zu haben. »Um zu einer eigenen
Identität zu finden, muss jeder Mensch Erwartungen
seiner Familie enttäuschen und lernen, unerwünschte
Aufträge und eigene Wünsche zu unterscheiden.« Und
die Eltern müssen akzeptieren, dass ihr Kind nicht
geboren wurde, um ihre Wünsche zu erfüllen. Auch sie
müssen lernen, loszulassen. »Ihr seid die Bogen, von
denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt
werden«, schrieb der Lyriker Khalil Gibran. »Sie kom-
men durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie
mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft
ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken.«
Familienaufträge können auch perfekt zu den
Beauftragten passen. Dann werden sie von ihnen mit
Freude befolgt. Aber meist sind sie eine große Belastung,
und es kann sehr befreiend sein, sie zu kennen. Um dann
selbst in der Hand zu haben, welche man (vielleicht auch
nur zum Teil) annehmen möchte und welche nicht.
Oder um sie zumindest nicht an die eigenen Töchter
oder Söhne weiterzugeben.
Winston Churchill hat einmal gesagt: »Die Hälfte
des Lebens verbringt der Mensch damit, die falschen
Vorstellungen seiner Vorfahren loszuwerden; die andere
damit, seinen Kindern falsche Ansichten beizubringen.«
Er selbst konnte seinem früh verstorbenen Vater Ran-
dolph nie genügen. Churchill kämpfte zeit seines Lebens
darum, »es zu schaffen«, etwas aus sich zu machen. Ob
er sich irgendwann annehmen konnte? Schwer zu sagen.
1947, als er 72 Jahre alt war, erschien ihm der Geist
seines Vaters im Traum. Die beiden redeten. Sie redeten
lange. Der Vater erinnerte den Sohn daran, dass dieser
nicht begabt genug gewesen war, Rechtsanwalt zu
werden. Und kurz bevor der Spuk vorbei ist, sagt er: »Ich
hätte nie gedacht, dass du dich so gut entwickeln wür-
dest. Tatsächlich frage ich mich, warum du nicht in die
Politik gegangen bist – vielleicht hättest du dir sogar
einen Namen machen können.« —
Sven Stillich hat die Recherche mehr aufgewühlt, als er
gedacht hatte. Er wird persönlich noch etwas tiefer bohren –
denn vielleicht könnten Familienaufträge ein Grund sein für
sein manchmal widersprüchliches Wesen.
Um zu einer eigenen
Identität zu finden,
muss jeder Mensch
Erwartungen seiner
Familie enttäuschen