Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1
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aris, 14. Oktober 1929. Ein
junges Paar, beide studieren
Philosophie, spaziert durch
den Jardin du Luxembourg
und weiter, ins Gespräch ver-
tieft, zum Louvre. Sie ist 21,
schön und viel umworben. Er ist 24 und
weiß, dass er unansehnlich ist, 1,56 Meter,
mit schielenden Augen hinter dicken Bril-
lengläsern. Die beiden haben sich erst ein
paar Monate zuvor kennengelernt, nun
reden sie über ihre Beziehung. Heiraten?
Niemals, dafür schätzen sie ihre Freiheit zu
sehr. Sie schließen einen Pakt, zunächst be-
fristet auf zwei Jahre: Sie reservieren den
wichtigsten Platz im Herzen für ein an der,
aber daneben sind andere Liebschaften er-
laubt. Sie werden ein an der alles erzählen.
Ihre Liebe ist eine »essenzielle«, sagt er,
»aber es ist gut für uns, auch kontingente
Liebesaffären zu erleben«.
Er, das war Jean- Paul Sartre. Sie war
Si mone de Beau voir. Sartre wird zum wich-
tigsten französischen Philosophen seines
Jahrhunderts – und Beau voir zur Gefährtin
des wichtigsten Philosophen. Doch künftige
Philosophiehistoriker werden diese Rang-
ordnung womöglich umkehren.
Als Si mone de Beau voir heranwächst,
dürfen Frauen nicht wählen und kein Bank-
konto eröffnen, sie haben nur beschränkten
Zugang zu den Universitäten. Ihr Lebens-
weg scheint vorgezeichnet: einen möglichst
wohlhabenden Mann heiraten, Kinder krie-
gen. Doch nach dem Ersten Weltkrieg ver-
spekuliert der Vater sein Vermögen. Si mone
und ihre Schwester Hé lène stehen ohne
Mitgift da. Die Chancen auf eine standes-
gemäße Heirat sind geschwunden. Die
Schwestern müssen sich darauf einstellen,
für sich selbst zu sorgen – eine Schande in
der Bour geoi sie von damals, aber ein Glück
für die außerordentlich begabte Si mone.
Mit 17 beginnt sie ein Studium der
Literatur und der Mathematik an einer ka-
tholischen Hochschule in Paris, die ihre
Mutter für sie ausgesucht hat. Ein Jahr spä-
ter wechselt sie an die So rbonne, um Philo-
sophie zu studieren, gemeinsam mit den
künftigen Philosophenstars Si mone Weil
und Mau rice Mer leau- Ponty.
Beau voir weiß genau, was sie will: Sie
will »Essays über das Leben« schreiben, notiert
sie in ihr Tagebuch, »aber nicht Romane,
sondern Philosophie«. Und sie will nicht nur
über das Leben philosophieren, sondern


»philosophisch leben«: vivre phi lo so phique-
ment. »Sei du selbst«, schreibt sie fordernd.
»Lass dir kein Ziel von außen aufdrücken,
keinen sozialen Rahmen, den du füllen
sollst. Was für mich funktioniert, das funk-
tioniert. Das ist alles.«
Zum Entsetzen der streng katholischen
Mutter zieht Si mone nun durch die Cafés
und Nachtclubs, ihre Kleider riechen nach
Tabakrauch und Alkohol. Beau voir kommt
mit ihrem Kommilitonen René Maheu zu-
sammen, einem »echten Mann mit einem
überaus sinnlichen Gesicht«, wie sie in ihr
Tagebuch schreibt. Mit ihm habe sie erst-
mals »die Süße, eine Frau zu sein«, erlebt.
Als Maheu eines Tages verreist, nutzt einer
seiner Freunde die Chance: Jean-Paul Sartre,
bekannt als philosophischer Überflieger und
Spaßvogel, berüchtigt als Frauenheld.
Er hat schon länger ein Auge auf Si-
mone de Beau voir geworfen. Sie diskutieren
über Leibniz und Rous seau, gehen ins Kino
und streifen durch die Antiquariate. Er
singt ihr Ol’ Man River vor, erzählt von
seinen Träumen und will alles über sie wissen.
Beau voir ist hingerissen. Schon nach ein
paar Tagen spürt sie »ein intellektuelles Be-
dürfnis« nach Sartres Nähe.
Nun steht sie zwischen zwei Männern.
Sie »liebt« Maheu und »braucht« Sartre. Sie
sieht nicht ein, sich zwischen ihnen ent-
scheiden zu müssen. Als Maheu ihre Bezie-
hung zu Sartre entdeckt, verlässt er sie. Sartre
bleibt. 51 Jahre lang sind sie im Gespräch
über die Frage, was es bedeutet, ein freier
Mensch zu sein. Ihr Pakt ist die gelebte Ant-
wort auf diese Frage. Sie heiraten nie und
bleiben doch ein Paar, bis der Tod sie scheidet.
Sie leben nie zusammen in einer Wohnung,
aber sie denken zusammen. Sie haben keine
Kinder, lesen und korrigieren aber die Ma-
nuskripte des anderen. Bald schon haben sie
keinen Sex mehr mit ein an der, aber sie teilen
ihre Liebschaften: Sie erzählen ein an der, was
sie im Bett erleben, und nicht nur einmal
landet eine Frau, die mit einem im Bett war,
auch im Bett des anderen.
Doch es dauert Jahre, bis sie ihre Lebens-
form finden. Beauvoir wird an eine Schule
im 500 Kilometer entfernten Mar seille ver-
setzt, Sartre reist in der Welt herum und
landet in einer psychiatrischen Klinik, als
er nach einem Drogenexperiment Wahn-
vorstellungen von Hummern hat. Als der
Zweite Weltkrieg ausbricht, wird er eingezo-
gen, gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft,

kommt wegen seiner schlechten Augen nach
ein paar Monaten wieder frei. Beauvoir und
Sartre ziehen gemeinsam los, um linke In-
tellektuelle zur Résistance zusammenzu-
trommeln. Im Jahr 1943 wird Beauvoir
wegen »Verführung Minderjähriger« aus
dem Schuldienst entlassen. So erfüllt sich ihr
Mädchentraum. Sie ist Schriftstellerin.
Im selben Jahr gelingt Sartre nach
langem Ringen sein großer philosophischer
Wurf: Das Sein und das Nichts, die 722 Seiten
dicke Urschrift des Existenzialismus, er-
scheint trotz Papierknappheit. Darin klärt
Sartre die großen Fragen des Daseins: Was
ist der Mensch? Wie kann er frei sein? Sartres
Antwort ist die Kernbotschaft des Existen-
zialismus: Du bist, was du tust. Nicht ir-
gendein gottgegebenes »Wesen« macht einen
Menschen aus, nicht seine Herkunft oder
seine Re li gion. Er muss sich sein Wesen
selbst geben, mit seinen Taten und Ent-
scheidungen. »Der Mensch ist zur Freiheit
verurteilt«, schreibt er. Wir können der
Freiheit nicht entkommen, weil wir uns
jeden Tag selbst neu erfinden müssen.
Im Gegensatz zu früheren Philosophen
wie Hegel und Hei deg ger wollte Sartre nicht
in lebensferner Ab strak tion über das Dasein
nachdenken. Daher besteht Das Sein und das
Nichts mehr aus Geschichten als aus Argu-
menten. So erzählt Sartre beispielsweise die
Geschichte eines stets beflissenen Kellners.
Der geht ganz in der Kellnerrolle auf und
wird sie auch nach Dienst ende nicht mehr
los. So wird er Täuschender und Getäuschter
zugleich. Täuschender, weil er den Gästen
seine Beflissenheit nur vorspielt. Getäuschter,
weil er die Rolle verinnerlicht hat und auch
sich selbst vormacht, er sei dieser Kellner. Es
ist ein Beispiel für das, was Sartre mau vaise
foi nennt: Unaufrichtigkeit. Sein erster
Schritt in die Freiheit besteht darin, sich
selbst bei diesem Rollenspiel zuzuschauen.
Auch wenn er äußerlich weiterspielt, ge-
winnt er immerhin innere Freiheit.
Ein andermal versetzt Sartre seine Leser
in einen Hotelflur: Ich beuge mich zu einem
Schlüsselloch und spähe hindurch, vielleicht
aus Eifersucht, vielleicht aus Neugier, und
verliere mich ganz in dem, was ich dahinter
beobachte. Plötzlich höre ich Schritte auf
dem Flur nahen und werde mir meiner Si tua-
tion bewusst. Ich schnelle hoch oder beuge
mich zu meinen Schuhbändern und tue, als
sei ich gerade dabei, sie zu schnüren, um
nicht als Voyeur dazustehen. Der Beobachter
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