Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1




Im nächsten Heft: Georg Wilhelm
Friedrich Hegel

wird zum Beobachteten. »Der Blick des
Anderen« nimmt mir die Freiheit. Mit sol-
chen Geschichten zeigt Sartre, wie Men-
schen um ihre Freiheit ringen, während »die
Anderen« ihr Dasein mitbestimmen.
Im Prinzip alles richtig, findet Si mone
de Beau voir, aber wir leben in einer Welt, in
der nicht alle Menschen gleich frei sind. Was
zum Beispiel bringt einer Frau, die im Harem
eines Mannes gehalten wird, ihre metaphy-
sische Freiheit? Beau voir beginnt zu unter-
suchen, was es bedeutet, in einer von Män-
nern geprägten Welt eine Frau zu sein: was
Frauen ihre Freiheit raubt und wie sie sich
befreien können. Im Jahr 1949 erscheint ihr
Buch Das andere Geschlecht. Auch Frauen,
die nicht in einem Harem leben, werden von
einem Wirrwarr unverträglicher »Mythen«
über ihr Geschlecht gefesselt, behauptet
Beau voir darin. Statt sie zu ermutigen, ihr
eigenes Leben zu leben, erzähle man ihnen
in der Literatur, in der Geschichtsschreibung
und in der Wissenschaft, dass Frau zu sein
bedeutet, für andere da zu sein.
Der Titel des Buchs spielt auf diese
Mythen an. Le Deu xième Sexe lautet er im
Original, »Das zweite Geschlecht«. Das war
lange ein Synonym für »Frau«. Der deutsche
Philosoph Johann Gottlieb Fichte sprach im



  1. Jahrhundert vom »zweiten Geschlecht«,
    das »der Natureinrichtung nach um eine
    Stufe tiefer steht als das erste«. Und auch
    Arthur Schopenhauer charakterisierte noch
    im 19. Jahrhundert das »in jedem Betracht
    zurück stehende zweite Geschlecht« als »eine
    Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und
    dem Manne«. Erstaunlich daran ist vor allem,
    dass es Männer sind, die Frauen dazu brin-
    gen, diese Mythen zu verinnerlichen. In
    einer von Männern definierten Welt neigen
    auch Frauen dazu, die Welt – und sich selbst



  • mit männlichen Augen zu sehen. Gleich
    Sartres ertapptem Schlüssellochspäher
    nimmt ihnen der männliche Blick die Frei-
    heit. Sie leben in mau vaise foi.
    Si mone de Beau voir will den Frauen
    helfen, diesen Zustand zu durchschauen.
    »On ne naît pas femme: on le devient« ist der
    berühmteste Satz des Buchs: Man wird nicht
    als Frau geboren, man wird es. Was uns als
    »l’éternel féminin«, als Wesen des Weiblichen
    verkauft wird, ist ein männlicher Mythos.
    Fügt euch nicht in diese Rolle!, fordert
    Beau voir die Frauen auf. Lasst euch nicht
    einreden, dass ihr dazu bestimmt seid, zu
    heiraten und Kinder zu kriegen! Schreibt


euer eigenes Drehbuch! Bis ins Detail zeich-
net Beau voir nach, wie jene Mythen wirken.
Sie untersucht, wie über Abtreibung, damals
noch illegal, geredet wird. Sie entwickelt
eine Phänomenologie der Mens trua tion
samt den begleitenden Körpergerüchen. In
drastischer Sprache attackiert sie den Mythos
vom »Mutterinstinkt«. Schwangere Frauen
trügen »Parasiten« im Körper, sie seien
»Sklavinnen«. Die Ehe? Ein Instrument,
um Frauen ihre Freiheit zu nehmen. Das
Konzept eines Ja-Worts fürs Leben hielt
Beau voir für »fundamental unmoralisch«.
Wie kann ein Mensch heute für den Men-
schen entscheiden, der er morgen ist? Jede
Entscheidung falle »immer neu, jedes Mal,
wenn ich mir ihrer bewusst werde«.

Das andere Geschlecht stieß auf ein geteiltes
Echo. Kritiker warfen Beau voir vor, den
Fortbestand der vom Krieg dezimierten
Bevölkerung zu gefährden. Albert Camus
sah sich als Mann gedemütigt und kündigte
die Freundschaft. Der Schriftsteller Armand
Hoog unterstellte ihr, in Wirklichkeit nur
sich selbst befreien zu wollen, von der De-
mütigung, eine Frau zu sein. »Sie ist als
Frau geboren, und ich sehe nicht, wie sie
das ändern könnte. Schicksal lässt sich
schwerlich leugnen.« Viele Frauen dagegen
eiferten Beau voir nach, und Beau voir un-
terstützte sie auf ihrer Suche nach Freiheit.
Sie reservierte eine Stunde täglich dafür,
mit ihren Leserinnen zu korrespondieren,
tröstete unglückliche Hausfrauen und er-
mutigte aufstrebende Autorinnen. In der
Französischen Nationalbibliothek liegen aus
dieser Zeit 20.000 Briefe von ihr und an sie.
In der Zeitschrift Les Temps mo dernes, die
sie zusammen mit Sartre gegründet hatte,
rief Beau voir eine Rubrik mit dem Titel Le
sexisme or di naire ins Leben. Darin veröffent-
lichte sie Berichte von Leserinnen über se-
xuelle Diskriminierung, die heute ohne
Weiteres die Hash tags #MeToo oder #auf-
schrei tragen könnten.
»Im Streit um den Feminismus ist
schon viel Tinte geflossen, zurzeit ist er fast
be endet.« Mit diesem Satz beginnt Das an-
dere Geschlecht. Aus heutiger Sicht ist er halb
richtig, halb falsch. Die Si tua tion der Frauen
in Europa ist heute nicht mehr die, in der
Si mone de Beau voir aufwuchs, in vieler
Hinsicht haben sie Freiheit gewonnen. So
dürfen Frauen zur Wahl gehen, sie werden
Bundeskanzlerin. Sie sind rechtlich gleich-
gestellt. Aber sie erleben immer noch se-
xuelle Gewalt und Diskriminierung.
Die Mythen, gegen die Beau voir
kämpfte, sind nicht so leicht totzukriegen.
Aber auch ihre Dia gno se gilt immer noch:
Wer frei sein will, muss die Mythen durch-
schauen, mit denen er aufwächst. Das gilt
für Menschen jeden Geschlechts. Auch
Männer sind in Mythen gefangen, auch sie
sollten sich Fragen stellen, wie sie Beau voir
den Frauen aufgab: Willst du diese Karriere
wirklich, oder spielst du damit nur eine
soziale Rolle? Sollen deine Kinder frei sein
oder eher deinen Erwartungen entsprechen?
Freiheit ist schön, aber anstrengend. —

Si mone de Beau voir kommt im
Jahr 1908 als Tochter einer konser-
vativen Pariser Großbürgerfamilie
zur Welt. Die katholische Mutter
nimmt sie dreimal wöchentlich mit
zur Messe und schickt sie auf die
Klosterschule. Im Gegensatz zu
ihrer jüngeren Schwester Hélène
begehrt Si mone äußerlich nicht
gegen die Konventionen ihres
Familienlebens auf, sondern nur in
Gedanken, in ihren Tagebüchern
und Schreibversuchen. Als sie an
der Sor bonne Philosophie studiert,
beginnt ihre äußerliche Befreiung,
ihre offene Beziehung mit Sartre,
ihr En gage ment für die Rechte der
Frauen. Später mischt sie sich auch
in die Politik ein, sie kämpft für die
Legalisierung von Abtreibungen
und das Verbot erniedrigender
Darstellungen von Frauen. Als sie
im Jahr 1986 stirbt und Tausende
Menschen sie auf den Friedhof
Montparnasse begleiten, ruft ein
Mann aus der Menge: »Frauen,
ihr habt ihr alles zu verdanken!«
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