U
m den Gipfel des Mount Everest zu er-
klimmen, brechen Bergsteiger oft schon
kurz nach Mitternacht auf. Unsere Ex-
pe di tion führt nicht so hoch hinaus,
aber auch sie beginnt in den frühen
Morgenstunden: Um fünf Uhr morgens
soll es losgehen. Und dafür brauchen wir einen Wecker,
denn die wenigsten Menschen wachen um diese Uhr-
zeit von selbst auf. Allerdings ist der Bergwald im Basis-
lager zu dieser Zeit schon äußerst belebt, denn Amseln
und Rehe brauchen keinen Wecker, um früh aufzu-
wachen. Durch ihre innere Uhr wissen sie, dass die Sonne
demnächst aufgeht. Und das ist unser Thema: die innere
Uhr. »Chronobiologie« sagt die Wissenschaft, abgeleitet
vom altgriechischen chrónos für Zeit.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Licht und
Nahrung zu den wichtigsten Zeitgebern zählen, die die
innere Uhr an den 24-Stunden-Rhythmus des Tages
anpassen. Nachdem wir uns aus dem Schlafsack geschält
haben, beißen wir also in einen Müsliriegel, um den
Kreislauf anzukurbeln. Zwingen wir unseren Körper
bereits vor Sonnenaufgang zu Höchstleistungen, arbeitet
er gegen die innere Uhr, was beispielsweise für Schicht-
arbeiter auf Dauer gesundheitliche Schäden zur Folge
haben kann. An Tagen, an denen wir ohne Wecker auf-
wachen, ist unser Körper hingegen bereits vor dem
Aufwachen aktiv: Schon bevor wir die Augen öffnen,
stoppt die Zirbeldrüse, ein erbsengroßes Anhängsel an
der Basis des Gehirns, die Produktion des Schlafhormons
Melatonin. Unsere Atmung sowie unser Herzschlag be-
schleunigen sich, und unser Körper erhöht die Tempera-
tur um etwa ein halbes Grad. Damit wir nach dem
Aufwachen in die Gänge kommen, produziert die
Nebenniere das Stresshormon Cortisol, und die Bauch-
speicheldrüse bereitet sich darauf vor, Insulin für die
Verarbeitung des Frühstücks auszuschütten. Diese bio-
logischen Prozesse wiederholen sich jeden Morgen, sie
richten sich nach einem inneren Takt.
Unsere Umwelt folgt regelmäßigen Zyklen: Es
gibt Ebbe und Flut, Tag und Nacht lösen sich ab, Wärme
und Kälte, die Jahreszeiten kommen und gehen. Diese
Zyklen beeinflussen auch Pflanzen, Tiere und uns
Menschen. In uns tickt eine Uhr, die sich evolutionär
an den 24-Stunden-Takt der Erdrotation angepasst hat.
Wann wir schlafen, essen und verdauen, richtet sich
nach dem sogenannten zirkadianen Rhythmus. (Der
Begriff zirkadian setzt sich aus den lateinischen Wörtern
circa für »drum herum« und dies für »Tag« zusammen.)
Der tägliche Wechsel von Hell und Dunkel hält den
zirkadianen Rhythmus am Laufen, denn die innere Uhr
reagiert auf äußere Einflüsse wie Licht und Dunkelheit.
Wäre dies nicht so, würden wir nach einem Flug von
Europa nach Australien den gewohnten Tagesablauf
beibehalten und täglich zehn Stunden zu spät dran sein.
Würden wir uns allerdings ausschließlich an externen
Lichtreizen orien tie ren, wäre unser Körper nach einer
Partynacht oder einem späten Theaterbesuch gänzlich
überfordert. Ja, bereits das künstliche Licht des Fernsehers
würde ihn aus dem Takt bringen.
Zeit für einen Blick auf die Karte: Der Weg der
Chronobiologie ähnelt zu Beginn eher einem zugewu-
cherten Trampelpfad, er ist wenig beschritten. Die Idee
einer inneren Uhr war bis ins 20. Jahrhundert hinein
äußerst umstritten. Einer der Pioniere, die als Erste hier
langgegangen sind, war der schwedische Naturforscher
Carl von Linné. Schon vor knapp 300 Jahren beschäf-
tigte er sich mit dem täglichen Rhythmus von Lebe-
wesen, indem er die Bewegungen von Pflanzen unter-
suchte. Carl von Linné behauptete, dass er die Uhrzeit
ohne einen Blick auf den Sonnenstand bestimmen
könne. Dazu legte er ein Blumenbeet in Form eines
Ziffernblatts an: Blühen die Mohnblumen, ist es früher
Morgen, so seine Theorie. Ab neun Uhr entfalten sich
die Margeriten, und erst am Abend, gegen 20 Uhr,
öffnen die Nachtkerzen ihre Blüten.
Der französische Chronobiologe Jean- Jacques
d’Ortous de Mairan suchte nach einer wissenschaftli-
chen Erklärung für dieses Phänomen. 1729 erforschte
er das lichtgesteuerte Verhalten der Mimose, die ihre
Blätter tagsüber gen Sonne streckt und nachts schließt.
Als er die Pflanze in einem abgedunkelten Raum beob-
achtete, stellte er fest, dass ebenjene Blattbewegungen
auch ohne Lichtreize abliefen. Doch erst in den 1930er-
Jahren gelang es dem deutschen Botaniker Erwin Bün-
ning, die rhythmischen Bewegungen der Pflanzen mit-
hilfe eines Wellenschreibers aufzuzeichnen. So konnte
er nachweisen, was bereits de Mairan 200 Jahre zuvor
vermutet hatte: Von der Seerose bis zur Buche folgen
Pflanzen einer biologischen Uhr, die kontinuierlich
tickt. Wie hat die Evolution dieses beeindruckende
Uhrwerk geschaffen? Wie funktioniert die innere Uhr
des Menschen? Und wie können wir sie pflegen?
Basislager
Gehen Sie erst los, wenn Sie
die folgenden Grundlagen in Ihren
Rucksack gepackt haben