Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Dienstag, 18. Februar 2020


Wegzüge hinterlassen Millionenschaden

Zwei Industriefirmen ve rlegen Arbeitsplätz e vonWinterthur nach Zug und Frauenfeld


LENA SCHENKEL, RETO FLURY,
DANIEL FRITZSCHE


Gleich zwei Industrieunternehmenkeh-
ren Winterthur zumindest teilweise den
Rücken:VergangeneWoche kündigte das
Medizinaltechnik-UnternehmenZimmer
Biomet an, seinen Hauptsitz für Europa,
den Nahen Osten undAfrika nach Zug zu
verlegen.Am Montag hat nun der «Land-
bote»gemeldet,diefinnischeSchiffsmoto-
renbau- und EnergiefirmaWärtsilä ziehe
von Oberwinterthur nachFrauenfeld um.
BeideFirmen hatten sich in derVergan-
genheit – teilweise über Umwege – ehe-
maligeSpartendesuntergehendenSulzer-
Konzerns einverleibt.
Insgesamt sind275 Arbeitsplätze be-
troffen, die inWinterthur ab Sommer be-
ziehungsweiseSpätherbstverlorengehen.
Beide Unternehmen werden ihre Ge-
winn- und Kapitalsteuern künftig nicht
mehr im Kanton Zürich zahlen. ImFalle
von Zimmer Biomet dürfte ein zweistel-
liger Millionenbetrag entfallen. Diese
Summehatte dieFirma 2017 im Vorfeld
der Abstimmung zur Unternehmens-
steuerreform III selbst genannt.
Der damalige Standortchef Luigi Sor-
rentinoschaltetesichöffentlichindenAb-
stimmungskampf ein und warb für einJa
zur Reform. An einem Mediengespräch
des Standortförderers Greater Zurich
Area gab er an, einenAusbau um 100
Stellen auf Eisgelegt zu haben. Einere-
lativtiefeSteuerbelastungseiwichtig,um
negative Effekte der hohen Löhne und
derWährungsproblematikkompensieren
zu können.Hat dieFirma nun ihre dama-
lige implizite Drohung, aus steuerlichen


Gründen einenWegzug insAuge zu fas-
sen , wahr gemacht? «Drohung» sei das
falscheWort,heisstesbeiderPressestelle.
Die Steuern seien ein «nicht zu vernach-
lässigender Faktor in einer gesamtwirt-
schaftlichen Betrachtung» gewesen, je-
dochnichtderalleinige.Auchderattrakti-
vere Medtech-Sektor und dieFachkräfte
in Zug seien darin eingeflossen.
Man habe den Entscheid nicht leicht-
fertig gefällt und halte zumindest auf
Produktionsseite an Winterthur fest.
Das Unternehmen betont auch, dass der


Hauptsitz in der Schweiz verbleibe und
nicht etwa nach Irland verlegt werde. Das
Land bleibe ein positiverWirtschafts-
standort, dochFirmen müssten in einem
«hochkompetitiven Marktumfeld» nun
einmal «nachhaltig wirtschaften».

VerschärfterWettbewerb


Klar ist: Beide Unternehmen ziehen an
Standorte, die deutlich tiefere Gewinn-
steuern haben als der Kanton Zürich. In
ZugliegtdieBelastungbei11,9Prozent,es
ist die zweittiefste in der ganzen Schweiz.
In Frauenfeld beträgt die Gewinnsteuer
total 13,4 Prozent. DerThurgau ist im
interkantonalenVergleich immer noch in
den Top Ten.
Zürichrangiert dagegen am Schluss
der Rangliste. Die Stimmbevölkerung
hat zwar im Herbst der Umsetzung der
Steuervorlage17 zugestimmt – und so-
mit auch der Senkung des Gewinnsteuer-
satzes umeinen Prozentpunkt auf 2021.

Doch auch dannresultiert in der Stadt
Zürich selber noch eine Gesamtbelas-
tung von19,7 Prozent.
Die ZürcherFinanzdirektion äusserte
sich am Montag nur zu Zimmer Biomet.
Man bedaure denWegzug und denVer-
lust von hochqualifiziertenArbeitsplät-
zenausserordentlich,schreibtdieMedien-
stelle. Die Finanzdirektion anerkenne,
dassMedizintechnik-Unternehmenunter
starkemWettbewerbsdruck ständen und
ihre Möglichkeiten zurKostenoptimie-
rung ausschöpfen müssten. Gleichzeitig
sei man dankbar, dass der Produktions-
standortWinterthur weitergeführt werde
und diese Arbeitsplätze somit im Kanton
und inWinterthur erhalten blieben.
Generell scheint der Kanton nicht un-
attraktiv zu sein. So gab der europäische
Ableger des amerikanischen Medika-
mentenherstellers Merck & Co. Anfang
Monat bekannt, in der Stadt Zürich eine
Geschäftsstellemitüber250Mitarbeitern
aufzubauen.DieSchweizerFirmaVebego

wiederum zieht mit ihren 8000 Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern garvon Dieti-
kon in die Stadt Zürich selber.

Mehrere Hiobsbotschaften


Winterthurhingegen mussteEndeJanuar
schon dieAnkündigung desTextilmaschi-
nenherstellers Rieter, die Produktion am
Hauptsitz einzustellen, verkraften. Urs
Hofer, der FDP-Fraktionschef im Stadt-
parlament,warnt vor Generalisierungen
und betont, dass die Hiobsbotschaften
unterschiedliche Gründe hätten. Rieters
Stellenabbau gehe auf volkswirtschaft-
licheFaktoren zurück, die weit überWin-
terthur hinausgingen, und bei Zimmer
spiele der Steuerwettbewerb. Er sagt aber
auch: «Es macht mir Sorgen, wie wir in
Winterthurpolitisieren.EsfehlteineWill-
kommenskultur für dieWirtschaft.»
Nach Hofers Ansicht hat sich das Pro-
blem seit denWahlen und derrot-grünen
Rückeroberung der Stadtratsmehrheit

verschärft.Als jüngste Beispiele nennt er
den Gestaltungsplan für einen Neubau
der KrankenkasseSwica oder den Streit
um die neueParkplatzverordnung. Ob-
wohl dieSwica eine wichtige Arbeitgebe-
rin ist und der Neubau nach ökologischen
Standardskonzipiert wurde, mochte sich
die SP als grösstePartei nicht zu einemJa
durchringenundbeschlossStimmfreigabe
(dasVolk sagte dann deutlichJa).Bei den
Parkplätzen lag einKompromiss auf dem
Tisch. Er wurde vomParlament in letzter
MinuteausgerechnetfürdasArbeitsplatz-
gebiet Neuhegi-Grüze verschärft.
DieHandelskammerundArbeitgeber-
vereinigungWinterthur (HAW) zeigt
sich in einer Stellungnahme besorgt übe r
die Wegzüge. Sie seien schlecht für den
Arbeitsstandort und das Steueraufkom-
men und zeigten,dass der Kanton Zürich
mit seinen hohen Unternehmenssteuern
an Attraktivität verliere. Dieses Problem
könneWinterthurselbstverständlichnicht
alleinlösen,sagtderHAW-PräsidentTho-
masAnwander.«DerStadtratkönntesich
aber in die kantonalePolitik einbringen.»
Er fordert vom Stadtrat Strategien, die
verhindern sollen, dass wegen Minder-
einnahmen infolge derWegzüge der all-
gemeine Steuerfuss erhöht werden muss.
Er liegt derzeit bei 122 Prozent.
Laut Stadtpräsident MichaelKünzle
(cvp.) hatte ihn Zimmer Biomet in die
Pläne eingeweiht. Das Verhältnis zu
Wärtsilä scheint hingegen nicht das beste
gewesen zu sein. Dem «Landboten»
gegenübersagtederCEOOlePyndtHan-
sen , man habe amFreitag nach der Be-
legschaft auch die Stadt informieren wol-
len, aber niemanden erreicht.Künzle sei-
nerseits hielt in einer schriftlichen Stel-
lungnahme fest, er wisse nichts von einem
Kontaktversuch.Er habe am Montag den
ganzenTag versucht, einenKontakt mit
Verantwortlichen vonWärtsilä herzustel-
len, «leider erfolglos».
Laut Künzle werden der Stadt «meh-
rere MillionenFranken»anSteuereinnah-
menfehlen.Erergänzt,dassjederArbeits-
platz und jeder Steuerfranken, die man
verliere,einer zu viel sei.AberWinterthur
sei heute ein stabiler und diversifizierter
Standort mit über 73000 Beschäftigten.
Die Aufgabe des Stadtrats werde es sein,
die Standortqualität hochhalten oder ver-
bessern zukönnen, schreibtKünzle. Man
wisse , dass Zürich bei der Besteuerung
von juristischenPersonen imVergleich
mit den Nachbarkantonen nichtkonkur-
renzfähig sei.«Das ist ja auch Gegenstand
von politischen Diskussionen.»

Sowohl Zimmer Biomet als auchWärtsilä hatten sich Sparten des serbelnden Sulzer-Konzerns einverleibt. SIMONTANNER/NZZ

OBERGERICHT


Schläger wehrt sich erfolglos gegen Landesverweis


Ein 62-j ähriger IV-Rentner türkischer Nationalität hat mit einem Radmutterschlüssel auf sein en Gegner eingeschlagen


ALOIS FEUSI


Eine Kurzschlusshandlung an einem
Montagmittag im März 2017 in Schlieren
kosteteinendamals60-jährigenMannmit
türkischer Staatsangehörigkeit dasAuf-
enthaltsrecht in der Schweiz.Der einstige
LastwagenfahrerundheutigeIV-Rentner
hatte sich beimRückwärts-Ausparkieren
von einemanderenAutomobilisten be-
drängt gefühlt, weil dieserauf derStrasse
hinter ihmvorbeifahren wollte. Offenbar
kam es dabei beinahe zu einerKollision.
Es entbrannte ein Streit, der damit
endete, dass derTürke mit einemRad-
mutterschlüssel auf den Schädel des 22
Jahre jüngerenKontrahenten einschlug.
Dies trug ihm imJuli 20 18 vor dem Be-
zirksgericht Dietikon eine bedingte
21-monatigeFreiheitsstrafe wegen ver-
suchtereinfacherundversuchterschwerer
Körperverletzung sowie 7Jahre Landes-
verweis ein. Der Schläger mit Niederlas-
sungsbewilligung C hatte sich einer Kata-
logtat schuldig gemacht, die automatisch
eine solche Sanktion nach sich zieht.
Am Montagnachmittag hat vor dem
Obergericht der Berufungsprozess statt-
gefunden. DerVerteidiger plädiert auf
einenSchuldspruchwegeneinfacherKör-


perverletzung und eine bedingte Geld-
strafevon 240Tagessätzen zu 30Fran-
ken.DamithättederManninderSchweiz
bleiben dürfen,wo seine vier seinerzeit in
der Türkei geborenen erwachsenen Kin-
der und die beiden Enkel leben.
Der Gerichtsvorsitzende StefanVol-
ken geht mit dem heute 62-jährigenTür-
ken noch einmal die Ereignisse durch.
Wie schon in Dietikon gibt sich der Be-
schuldigte als friedfertiger Zeitgenosse,
der nicht verstanden haben will, was den
Mann im hinter ihm stehendenAuto der-
art inRagegebrachthabensoll,dasseraus
dem Wagen heraus auf ihn eingeschrien
und obszöne Gesten gezeigt haben soll.

«Angst ums eigene Leben»


Mehrmals fragt der Gerichtsvorsitzende,
weshalb er denn überhaupt ausgestiegen
und demWidersacher durch das offene
AutofenstereinenFaustschlaginsGesicht
verpasst habe, und mehrmals bekommt
er einenkonfusenWortschwall zu hören.
Erst nach der siebtenWiederholung der
Frage lässt der Mann seinen Dolmetscher
übersetzen, dass er den anderen lediglich
habe fragen wollen,weshalb er ihn blo-
ckier e. «Doch dann hat er aufKurdisch

über meine Mutter und meineFrau ge-
flucht. Und ich versteheKurdisch.» Er
hab e de m jüngeren Schweizer niemals
mit demTod gedroht, beteuert er. Das
als Privatkläger auftretende Opfer lüge
mit «500-prozentiger Sicherheit».
Dass der in der Anklageschrift be-
schriebeneFaustschlag ins Gesicht tat-
sächlich ein solcher gewesen war, gibt
er er st nach längerem Herumdrucksen
zu. Und denRadmutterschlüssel will er
aus nackter Angst um sein Leben geholt
haben. Er habe zusehen müssen, wie der
andere auf seineFrau losgegangen sei
und sie geschlagen habe. Und er selbst
sei schwach und gebrechlich, seit er einen
Herzinfarkt erlitten habe und derart un-
glücklichinOhnmachtgefallensei,dasser
beim Sturz denRücken gebrochen habe.
MitdemWerkzeughabeerdemWider-
sacher bloss Angst einflössen wollen, be-
teuert er. Überhaupt sei er sich nicht si-
cher, ob er tatsächlich dem Gegner den
RadmutterschlüsselaufdenKopfgeschla-
gen habe. Der Privatkläger und ein unbe-
teiligter Zeuge schilderten die Szene bei
ihren Einvernahmen ganzanders. Dem-
nachwar der IV-Rentner derWüterich,
der noch auf sein Opfer einschlug, als die-
ses am Boden lag. Auch dieseAussagen

sind nachDarstellung des Beschuldigten
«500-prozentige Lügen». Ohne die Atta-
ckeaufseineFrauhätteerdenRadmutter-
schlüsselnämlichnichtgeholt.Überhaupt
müssten seinWidersacher und der Zeuge
sich gekannt haben. «Ich schwöre!»

Zumutbare Ausweisung


Die Unschuldsbeteuerungen fruchten
nichts.DasObergerichtbestätigtdenerst-
instanzlichen Schuldspruch und erhöht
die bedingteFreiheitsstrafe auf die vom
Staatsanwalt geforderten 24 Monate mit
zweijähriger Probezeit.Auch die Dauer
des Landesverweises erhöht das Ober-
gericht von 7 auf 8Jahre; der Staats-
anwalt hatte 10Jahre verlangt. Es sei er-
schreckend,welcheAggression der Mann
entwickelthabe,undesseinurdemGlück
zuverdanken,dassdasOpferkeinenSchä-
delbruch erlitten habe, erklärt Oberrich-
terVolken.DieRückkehrindieTürkeisei
dem Mann sehr wohl zumutbar. Er habe
lange Zeit seines Lebens in derTürkei
verbracht, habe bisher schonregelmässig
seineVerwandteninseinemDorfbesucht.

Urteil SB190069 vom 17. 2. 2020,noch nicht
rechts kräftig.

ZürcherFansin


Basel vor Gericht


Massenschläger ei
nach einem FCB-Spiel

(sda)· Vor dem Basler Strafgericht
müssen sich seit Montag elf Männer für
eine Massenschlägereinach einem FCB-
Spiel verantworten. Bei der Mehrheit
der Beschuldigten handelt es sich um
Anhänger des FC Zürich und des Grass-
hopper Club Zürich. Mehrere von ihnen
verweigerten dieAussage zurTatnacht.
Zum Prozessauftakt erschienen alle elf
Männer. Ein 31-jähriger Angeklagter
aus dem Kanton Zürich tauchte aller-
dings erst nachVorführungsbefehl der
Ger ichtspräsidentin am Nachmittag in
Basel auf.Verantworten müssen sich die
Männer wegenRaufhandels, Körperver-
letzung, Landfriedensbruchs, Vergehen
geg en dasWaffengesetz und kantonaler
Übertretungen.
Die übrigen Beteiligten sind der
Anhängerschaft des FCBasel und des
Kar lsruher SC zuzuordnen. Nach dem
Fussballspiel zwischen dem FCBasel
und demFC Luzern am19. Mai 20 18
war es inBasel zu heftigenAuseinan-
dersetzungen gekommen. MehrereDut-
zend gewalttätigeFans waren darin ver-
wickelt.Viele Beteiligte zogen sichVer-
letzungen zu und mussten ins Spital ein-
gewiesen werden oder suchten selbst die
Notfallstation auf.

Die St euern
müssen rasch runter
Kommentar auf Seite 11
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