Handelsblatt - 17.02.2020

(Ann) #1
Norbert Häring Frankfurt

D


er starke Zustrom von
Migranten im Jahr 2015
und danach hat das
Thema Integration wie-
der ganz groß ge-
macht. Vier Ökonominnen und Öko-
nomen haben untersucht, welche
Auswirkungen die Reform des deut-
schen Staatsbürgerschaftsrechts vor
20 Jahren auf die Integration der Kin-
der von Zuwanderern aus fremden
Kulturen hatte. Das Ergebnis ist eine
Warnung vor zu viel Vertrauen in ein-
fache Lösungen.
Seit Jahresanfang 2000 bekommen
in Deutschland geborene Kinder von
ausländischen Staatsbürgern unter
bestimmten Bedingungen die deut-
sche Staatsbürgerschaft. Damit soll
ihre Integration in die deutsche Ge-
sellschaft gefördert werden. Bis zu ei-
ner weiteren Reform 2014 mussten
sie sich im Alter von 18 Jahren zwi-
schen der deutschen und der Staats-
angehörigkeit der Eltern entschei-
den.
Der Grundgedanke leuchtet ein.
Als Staatsbürger darf man wählen,
man kann im öffentlichen Dienst ar-
beiten und hat auch automatisch ei-
ne Arbeitserlaubnis in anderen EU-
Ländern. Das sollte die Bereitschaft
steigern, sich in die deutsche Gesell-
schaft zu integrieren. Doch so ein-
fach ist es nicht, wie Gordon Dahl,
Cristina Felfe, Paul Frijters und Hel-
mut Rainer von den Universitäten
San Diego, Würzburg, London (LSE)
und München in ihrer Untersuchung
feststellen. Sie trägt den Titel:

„Caught between Cultures: Uninten-
ded Consequences of Improving Op-
portunity for Immigrant Girls”.
Die im Untertitel angesprochenen
„unbeabsichtigten Folgen” treffen
ganz überwiegend Mädchen aus dem
muslimischen Kulturkreis. Sie resul-
tieren offenbar daraus, dass die El-
tern das Ziel der Reform, eine stärke-
re Assimilation an den westlichen
Kulturkreis, oft nicht teilen und nach
der Reform verstärkt dagegenarbei-
ten. Dadurch wurde der Generations-
konflikt verschärft, dem die Mädchen
ohnehin ausgesetzt sind. Ihr Wunsch
und ihre Erwartung, sich integrieren
zu können, wurden verstärkt, die Be-
mühungen ihrer Eltern, sie im tradi-
tionellen Kulturkreis zu halten, eben-
falls.

Mädchen im Zwiespalt
Wie sich das äußert, haben die Auto-
ren durch Befragung von Immigran-
tenkindern in 57 deutschen Schulen
15 Jahre nach der Reform untersucht,
also im letzten Jahr der Schulpflicht.
Nur diejenigen, die ein halbes Jahr
vor und nach dem Reformzeitpunkt
geboren wurden, waren Teil der Un-
tersuchung. Dadurch sollte sicherge-
stellt werden, dass so wenig wie mög-
lich andere Einflüsse den Vergleich
verzerren.
Diejenigen, die noch unter die alte
Regel fielen und nicht aufgrund von
Geburt in Deutschland die Staatsbür-
gerschaft bekommen konnten, wur-
den mit denen verglichen, die nach
dem Stichtag geboren wurden.

Dabei zeigte sich, dass Mädchen
aus muslimischen Familien, die nach
dem Stichtag geboren wurden, sich
nicht mehr, sondern um 22 Prozent-
punkte weniger vorrangig als Deut-
sche betrachteten als ihre Klassenka-
meradinnen mit gleichem Hinter-
grund, die nicht durch die Reform
„begünstigt“ wurden. Sie glaubten
weniger daran, dass Ausländerinnen
in Deutschland ein gutes Leben ha-
ben können. Sie nahmen weniger an
außerschulischen Aktivitäten teil und
hatten weniger Rückhalt in einem
Freundeskreis.
Dabei fühlten sie sich erheblich
schlechter als ihre früher geborenen
Klassenkameradinnen. Ihre Einschät-
zung der eigenen Lebenszufrieden-
heit war so viel niedriger wie das
sonst bei Menschen mit einer mittle-
ren Depression der Fall ist. Dass das
kein statistisches Artefakt ist, macht
nicht zuletzt die hohe Suizidrate tür-
kischstämmiger Mädchen in Deutsch-
land deutlich.
Bei Jungen und nichtmuslimischen
Mädchen gab es bei diesen Fragen im
Durchschnitt keinen Unterschied
zwischen den vor und nach dem
Stichtag geborenen.
Als Ursache dafür, dass das ver-
meintliche Geschenk für muslimi-
sche Mädchen zu einer solche Belas-
tung wurde, ließ sich Frustration
über unerfüllbare Erwartungen iden-
tifizieren. Die nach dem Stichtag ge-
borenen Mädchen wollten zu einem
höheren Prozentsatz studieren, aber
ihre Erwartung, die eigenen Bil-

dungsziele verwirklichen zu können,
war fast 40 Prozent geringer als bei
den vor dem Stichtag geborenen. Sie
erachteten die Gefahr als deutlich
größer, für eine Familie auf eine be-
rufliche Karriere verzichten zu müs-
sen.
Dass das Problem bei Jungen weni-
ger auftaucht, halten die Autoren für
plausibel, weil Mädchen eher als Er-
zieherinnen vieler künftiger Kinder
und damit Bewahrer der traditionel-
len Kultur gesehen würden, während
bei Jungen die Rollenunterschiede in
den Kulturkreisen geringer seien. El-
tern, die ihre angestammte Kultur be-
wahren wollen, würden also vor al-
lem danach trachten, ihre Töchter
darin zu halten.
Sie fanden starke Indizien für ihre
These, dass die Eltern aktiv das Inte-
grationsziel der Reform sabotierten.
Passend dazu stellen die Wissen-
schaftler fest, dass Eltern der nach
dem Stichtag geborenen muslimi-
schen Mädchen um 50 Prozent häufi-
ger niemals Deutsch mit diesen rede-
ten als die Eltern der nicht von der
Reform betroffenen Mädchen. Auch
bekamen die von der Reform erfass-
ten Mädchen von den Eltern sehr viel
weniger Unterstützung bei Schular-
beiten als ihre etwas älteren muslimi-
schen Klassenkameradinnen. Diese
Unterschiede gab es bei muslimi-
schen Jungen nicht.

Hoffen auf die Zukunft
Die Studie lässt allerdings für sich
kein abschließendes Urteil über den
Erfolg der Reform zu, weil sie sich
nur auf die ersten 15 Jahre bezieht, in
denen die Begünstigten noch minder-
jährig waren und damit unter dem
dominanten Einfluss ihrer Eltern
standen. Die Ergebnisse könnten sich
theoretisch nach Erreichen der Voll-
jährigkeit ändern. Und tatsächlich
waren die nach dem Stichtag gebore-
nen muslimischen Mädchen deutlich
optimistischer als die anderen Grup-
pen, dass sich ihre Lebensumstände
in Zukunft verbessern würden.
Für die meisten dürfte es aber
schwierig sein, ohne Unterstützung
der Eltern zu studieren und die Fol-
gen der Einschränkungen und man-
gelnden Unterstützung in den prä-
genden Jugendjahren gänzlich zu
überwinden.
Konkrete Lehren aus ihren desillu-
sionierenden Ergebnissen halten die
Wissenschaftler nicht bereit, außer
der, dass zur Integration muslimi-
scher Mädchen andere oder zusätzli-
che Maßnahmen nötig sind, als ihnen
leichten Zugang zur deutschen
Staatsbürgerschaft zu geben.
Die unerwarteten Wirkungen
könnten leicht auch bei Maßnahmen
auftreten, wie sie in letzter Zeit disku-
tiert wurden, etwa einem Kopftuch-
verbot für Schulkinder. Es könnte
strenggläubige muslimische Eltern
dazu motivieren, ihre Töchter von
vermeintlichen Gefahren für ihre Sitt-
lichkeit fernzuhalten, indem sie de-
ren außerschulische soziale Kontakte
stark einschränken.
Da Einschränkungen des Sorge-
rechts der Eltern für ihre minderjäh-
rigen Töchter an enge Grenzen sto-
ßen, führt an der Einflussnahme auf
die Eltern kaum ein Weg vorbei, will
man muslimischen Mädchen mit reli-
giös konservativen Eltern die Einglie-
derung in die westliche Gesellschaft
erleichtern – so schwer das auch sein
mag.

Integration


Einfache Lösungen


funktionieren nicht


Eine Einbürgerungsreform, die die Integration fördern sollte, hat in


der Praxis oft das Gegenteil bewirkt. Daraus sollte man lernen.


Muslimisches
Mädchen beim
Sport: Eltern
bremsen die
Integration.

imageBROKER/Siegfried Kuttig


22


PROZENT
Punkte niedriger
lag der Anteil musli-
mischer Mädchen,
die sich vorrangig
als Deutsche betrach-
teten, wenn sie
leichteren Zugang
zur deutschen Staats-
bürgerschaft hatten.

Quelle: Studie:
„Caught between
Cultures” 2020

Wirtschaftswissenschaften
MONTAG, 17. FEBRUAR 2020, NR. 33
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