Handelsblatt - 17.02.2020

(Ann) #1
dpa,

Europa


konsumiert


meist


Technologien,


die von


außerhalb


kommen.


Margrethe Vestager
Vizepräsidentin der
EU-Kommission

R. Berschens, T. Hoppe, T. Sigmund,
F. Specht Brüssel, Berlin

D


ie bürgerliche Revoluti-
on in Frankreich, die
industrielle Revolution
in England, die prole-
tarische Revolution in
Russland: Europa stand bei weltum-
stürzenden Veränderungen stets im
Mittelpunkt. Bis die digitale Revoluti-
on ausbrach und die Europäer an
den Rand rückte. „Europa konsu-
miert meist Technologien, die von
außerhalb kommen“, konstatiert die
EU-Kommission in einem neuen
Grundsatzpapier zur Digitalisierung.
So dürfe es nicht weitergehen.
Die Europäer müssten es endlich
selbst schaffen, „diese Technologien
zu entwickeln, entsprechend unserer
Bedürfnisse und Prinzipien“, heißt es
in der Mitteilung „Europe fit for the
digital age“, die EU-Kommissionsvize-
präsidentin Margrethe Vestager und
Industriekommissar Thierry Breton
kommende Woche vorstellen. Das
Papier liegt dem Handelsblatt vor.
Darin formuliert die Behörde eine
anspruchsvolle Vision: Die EU soll
vom digitalen Nachzügler zu einer
„globalen digitalen Schlüsselfigur“
aufsteigen. So müsse die Staatenge-

meinschaft dafür sorgen, bis 2025 al-
le Haushalte mit schnellem Internet
mit einer Datenübertragungsge-
schwindigkeit von mindestens 100
Megabits pro Sekunde zu versorgen
und Unternehmen, Schulen oder
Krankenhäuser ans noch schnellere
Gigabit-Netz anzuschließen.
Nur 57 Prozent der Europäer verfü-
gen heute über digitales Basiswissen,
diese Quote soll auf 70 Prozent gestei-
gert werden. Eine halbe Million Ar-
beitnehmer soll zu IT-Experten wei-
tergebildet werden. Außerdem strebt
die EU-Kommission den Zugang zu
elektronischen Gesundheitsdaten für
alle Europäer an. Und Informations-
und Kommunikationstechnologie soll
helfen, den CO 2 -Ausstoß um zehn
Prozent zu reduzieren, etwa durch
klimaneutrale Datenzentren.

Kommission sieht enormen
Finanzbedarf
Die Kommission werde „alle ihr zur
Verfügung stehenden legislativen
und nicht-legislativen Instrumente
nutzen“, um diese Ziele zu erreichen,
heißt es in dem Text. Der nötige Digi-
talisierungsschub kostet allerdings ei-
ne Menge Geld. In Europa belaufe
sich die Investitionslücke im Ver-
gleich zu den USA und China auf 190

Milliarden Euro pro Jahr, heißt es in
dem Papier. Wie viel die Kommission
selbst zu dieser Summe beitragen
kann, entscheiden die Mitgliedstaa-
ten. Sie verhandeln in Brüssel gerade
über die finanzielle Ausstattung der
Brüsseler Behörde in den kommen-
den sieben Jahren, im Fachjargon
Mehrjähriger Finanzrahmen (MFR)
genannt.
„Eine Strategie für das digitale Zeit-
alter muss die EU entsprechend auch
mit finanziellen Mitteln unterlegen“,
mahnt der CSU-Europaparlamenta-
rier Markus Ferber. Bei der Debatte
über den MFR sollten die EU-Länder
deshalb „nicht an der falschen Stelle
knausern“. Der finanzielle Kraftakt
für die Digitalisierung werde sich am
Ende für alle lohnen, verspricht die
Kommission in ihrem Papier. Die EU
könne ihr Wirtschaftswachstum so
jährlich um 1,1 Prozentpunkte und bis
2030 um 14 Prozentpunkte steigern.
Für die EU gehe es aber nicht nur
um wirtschaftliche Aspekte, sondern
auch um ihre Grundwerte, heißt es
in dem Kommissionspapier. Bei der
Digitalisierung stehe viel mehr auf
dem Spiel: „Demokratie, Fairness
und das europäische Sozialmodell.“
Erfolgreiche Internetplattformen
würden inzwischen eine „systemi-
sche Rolle für unsere Wirtschaft und
Gesellschaft“ spielen. Das werfe zahl-
reiche neue Probleme auf: mangel-
hafter Datenschutz, Hassreden und
Desinformation im Internet, Einfluss-
nahme unerwünschter ausländischer
Kräfte auf unser politisches System,
unzureichender Arbeitnehmerschutz
bei IT-Firmen und Steuervermeidung
durch Internetkonzerne.
Die EU komme deshalb nicht um-
hin, Internetplattformen stärker als
bisher zu regulieren, um etwa den
Verkauf gefährlicher Güter und illega-
ler Inhalte zu unterbinden. Um die
Verbreitung von „Fake News“ zu
stoppen, müsse „die Medienbranche
insgesamt gestärkt werden mit einem
besonderen Schwerpunkt auf audio-
visuelle Unternehmen und Nachrich-
ten-Medien“. Bis zum Jahr 2025 müs-
se zudem garantiert werden, dass
„Bürger ihre persönlichen Daten und
ihre Onlineidentität kontrollieren“
können.
Die neuen Pflichten für Online-
plattformen sollten in einem „Geset-
zespaket zu digitalen Dienstleistun-
gen“ geregelt werden, heißt es weiter
in der Mitteilung. Die Kommission
will den Entwurf dafür spätestens im
vierten Quartal dieses Jahres vorle-
gen. Auch über die Wettbewerbskon-
trolle will die Behörde den Plattfor-
men stärker zu Leibe rücken. Vesta-
ger kündigt in dem Dokument eine
breit angelegte Untersuchung des
Technologiesektors an. Zudem prüft
die Kommission derzeit, wie das eu-
ropäische Wettbewerbsrecht mit
Blick auf die Digitalisierung refor-
miert werden sollte. Dies hatte auch
Bundeswirtschaftsminister Peter Alt-
maier (CDU) gefordert.
Ende des Jahres will die Kommissi-
on zudem eine „Verordnung zur eu-
ropäischen Digitalkapazität“ vor-
schlagen. Dabei handelt es sich um

einen Rechtsrahmen für die gewerb-
liche Generierung, Bündelung und
Nutzung von Daten. Die in der Indus-
trie anfallenden enormen Datenmen-
gen sollen künftig auch IT-Entwick-
lern zur Verfügung stehen, damit sie
ihre Algorithmen trainieren können.
Unternehmen und Behörden sollen
ihre Daten deshalb mit anderen tei-
len. Dafür sollen die Nutzung und
Weitergabe rechtlich vereinfacht wer-
den. Auch sollen unterschiedliche
Datenformate besser miteinander
verknüpft werden.
Neben der Mitteilung „Fit for a Di-
gital Age“ will die Kommission am
Mittwoch auch ein Weißbuch zur
Künstlichen Intelligenz (KI) und eine
Datenstrategie vorschlagen. Hier hat
der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI) seine Erwartungen in
einem Zehn-Punkte-Plan formuliert,
der dem Handelsblatt vorliegt.
Der Verband fordert unter ande-
rem den Abbau von Wettbewerbs-
und kartellrechtlichen Hürden, damit
Unternehmen europaweit kooperie-
ren und datenbasierte Geschäftsmo-
delle entwickeln können. Aktuell sä-
hen sich Firmen großen Rechtsunsi-
cherheiten ausgesetzt, sagt Iris
Plöger, Mitglied der BDI-Hauptge-
schäftsführung: „Häufig ist nicht klar,
wann ein Datenaustausch mit Wett-
bewerbern zulässig ist oder welche
datenschutzrechtlichen Anforderun-
gen an eine Anonymisierung von per-
sonenbezogenen Daten bestehen.“
Datenschutzregeln sollten europa-
weit so gehandhabt werden, dass sie
innovationsfördernd wirken, mahnt
der BDI. Der Verband fordert zudem,
die Frequenzvergabe für den Mobil-
funk EU-weit zu harmonisieren und
eigene europäische Hochleistungsre-
chenkapazitäten aufzubauen.

BDI sieht keinen Bedarf für
neue KI-Regulierung
Die Industrie unterstützt Wirtschafts-
minister Altmaier auch beim Bemü-
hen, eine europäische Cloudarchitek-
tur zu schaffen, um die Speicherung
sensibler Firmendaten nicht länger
vor allem amerikanischen Anbietern
zu überlassen. Der BDI rät, auf der
Technologieführerschaft europäi-
scher Unternehmen aufzubauen, um
Europa zum führenden Standort für
industrielle digitale Geschäftsmodelle
zu machen. Wie die EU-Kommission
macht sich der Verband zudem dafür
stark, die Digitalisierung als Katalysa-
tor zur Erreichung der Klimaziele zu
nutzen.
Skeptisch sieht der BDI die Regu-
lierungsbemühungen der EU beim
Thema Künstliche Intelligenz: „Es
gibt zurzeit keine Notwendigkeit für
eine zusätzliche Regulierung von KI-
Anwendungen“, betonte Plöger. Bis-
her bekannte kritische KI-Anwendun-
gen ließen sich bereits über beste-
hendes europäisches Recht wirksam
regeln. „Europa kann im internatio-
nalen Wettbewerb um Künstliche In-
telligenz nur bestehen, wenn die na-
tionalen Anstrengungen zur Förde-
rung von KI ausgeweitet und
europaweit gebündelt werden“, heißt
es im Zehn-Punkte-Papier.

Digitalisierung


Milliarden für die neue Revolution


Soll Europa digital aufholen, müssen die EU-Länder jährlich 190 Milliarden


Euro investieren, rechnet die EU-Kommission vor. Der BDI fordert den Abbau


kartellrechtlicher Hürden.


Techniker an
einem Mobilfunk-
mast: Versorgung
mit schnellem
Internet als
Schlüssel für die
Zukunft.

Bloomberg

action press

Die


Regulierungs-


bemühungen


der EU-


Kommission


für KI


bereiten


Sorgen.


Iris Plöger
Mitglied der BDI-
Hauptgeschäftsführung

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 17. FEBRUAR 2020, NR. 33
10
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