Der Standard - 17.02.2020

(Nancy Kaufman) #1

14 |MONTAG, 17.FEBRUAR 2020 Kultur DERSTANDARD


Ressourcenpanik nach der Klimakatastrophe


„Schuld und Söhne“vonChristine Eder undEvaJantschitsch imVolkstheaterWien uraufgeführt: Reklamationen aus der Zukunft


Margarete Affenzeller

V


ier Grad Erderwärmung, Landstriche
versinken im Meer, die Infrastruktur
bricht zusammen, der tauende Per-
mafrost setzt Methangas frei, Wien wird
hitzetechnisch Skopje geworden sein. Was
die Wissenschaft schon lange Zeit prognos-
tiziert, im Volkstheater Wien ist es nun
wahr geworden: Eine Gruppe mitteleuro-
päischer Klimaflüchtlinge hat im neuen
TheaterstückSchuld und Söhnedie über-
hitzten Metropolen verlassen und lebt au-
tark auf einem Gehöft auf dem Land.
Die Kommune folgt selbstauferlegten Re-
geln, die einem gewissenhaften Umgang
mit noch vorhandenen Ressourcen ange-
messen erscheinen: Duschen nur einmal
pro Woche, kein Fernsehen, minimale
Internetzeit, kaum Fleisch. Es gibt keine
Hierarchie,allekommunizierenwertschät-
zend, es wird geschont und geteilt. Weil
also alles allen gehört, darf auch ein weite-
rer Mitbewohner nicht ausgeschlossen


werden. Er ist das Zünglein an der Ressour-
cenwaage. Es wird knapp. Und bald noch
knapper, denn neue Stadtflüchtlinge kom-
men aufs Land und campieren vor dem
Haus. Sie beginnen Wassertanks anzuzap-
fen und Ziegenmilch zu stehlen. Wie lan-
ge wird das gutgehen, und beginnt hier das
Ende des zivilisierten Zusammenlebens,
ähnlich wie es José Saramago schon inDie
Stadt der Blindenskizziert hat?
Gut möglich.Schuld und Söhneimagi-
niert jedenfalls, wie es dermaleinst sein
könnte, wenn die Klimaerwärmung mit
voller Härte zugeschlagen haben wird. Da-
mit steht das von Christine Eder (Text, Re-
gie) und Eva Jantschitsch (Musik) entwi-
ckelte Stück in jenem neuen Trend am
Theater, der sich den Dystopien der Klima-
krise widmet. So groß ist das Stückangebot
allerdings noch gar nicht. Thomas Köck
war mit seinerKlima-Trilogieeiner der Vor-
reiter. Auch Schauspielerin und Autorin
Anna Mendelssohn hat sich bereits vor
neun Jahren in ihrer Solo-Klima-Gipfel-

konferenzCry MeARiverden Folgen der
Erderwärmung gestellt. Philipp Weiss, um
in Österreich zu bleiben, hat im letzten
Herbst mitDer letzte Menschnachgelegt.
„Fridays for Hubraum“, „Ist SUV heil-
bar?“, „This planet is hotter than my boy-
friend“–böse Witze machen immer Spaß.
Aber Eders Inszenierung kommt über die

Reklamationsebene nicht hinaus. Alles,
was wir über den Klimawandel längst wis-
sen, wird inSchuld und Söhne (warum
eigentlich Söhne?) noch einmal in geballter
Ladung über die Rampe deklamiert. Ein 20-
köpfiger Chor ist dabei die Echostimme der
Zeit, er endet mit der Weisheit des Come-
dian-Harmonists-Schlagers Irgendwo auf
der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück.
Wie auch in ihren Vorgängerabenden am
Volkstheater interessiert sich Christine
Eder nicht für szenisch ausagierte Konflik-
te (etwa die Spaltung der Gruppe; den Mord
an der Kommunenmutter). Vielmehr gilt
ihre Aufmerksamkeit der großen Botschaft:
Die Klimakatastrophe ist Produkt des Kapi-
talismus und wird in einem Ressourcen-
kampf enden, den, wie immer, die Schwä-
cheren verlieren werden. In Theaterform
birgt diese (nicht neue) Mitteilung wenig
Auseinandersetzungspotenzial. Der Abend
rekapituliert sein Recherchematerial, hegt
aber keinerlei empathische Absichten. So
bleibt trist, was schon trist war.

Aktivisten der Zukunftbeschuldigen uns.

Foto: http://www.lupispuma.com

Der tradierteKunstkonsum schließt Publikum aus.Die EU unterstützt deshalbAudience-Development. Im Theater
istdas die Plattform Be SpectACTive!, dieModelle derTeilhabe entwickelt.Neuerdings auch in Österreich.

Theresa Luise Gindlstrasser aus Brüssel

auf die Einladung von zwei Beiträgen, Ein-
ladungen, die das Brut-Team so vielleicht
nicht ausgesprochen hätte. „Unvoreinge-
nommenes Kuratieren heißt weniger Ein-
fluss von materiellen oder kulturpoliti-
schen Erwägungen und ist nicht dasselbe
wiepopulistischesProgrammieren“,begeg-
net Wolfesberger einem Einwand gegen
User-generated Content am Theater.
Aber nicht nur die Institutionen sollen
durchlässig werden für Publikumsbeteili-

D


as Burgtheater und der Art-Social-
Space Brunnenpassage in Wien-
Ottakring kooperieren für eine Per-
formancezum Thema gesellschaftliche
Teilhabe. Beim Heidelberger Stückemarkt
wird der mit 6000 Euro dotierte Jugend-
stücke-PreisvoneinerKinderjuryvergeben.
Das Vorarlberger Landestheater erarbeitet
Aischylos’Die Schutzflehendengemeinsam
mit einem Bürger*innenchor. Und das
Tanzquartier Wien lässt seine Aufführun-
gen von Personen unterschiedlichster Pro-
fessionen im eigens herausgegebenen Ma-
gazin besprechen. Was habendie vier Bei-
spiele gemein? Es geht um Partizipation.
„Nichts über uns ohne uns“, so lautet ein
politischer Grundsatz der Repräsentation,
der über die Behindertenbewegung der
1970er-Jahre zur Basis jeder Identitätspoli-
tik wurde. Dabei geht es um Sichtbarkeit,
Interessen und politische Macht jeweils
spezifischer Gruppen. Auch im Theater
stellen sich Fragen nach einer Öffnung der
Institutionen gegenüber gesellschaftlicher
Teilhabe: Wird für das oder mit dem Pu-
blikum gearbeitet? Kommt dieses passiv in
einen Kunstgenuss, oder beteiligt es sich
aktiv am Geschehen? Und wer ist über-
hauptdiesesPublikum,wersolleswerden?


Nachfrageorientierte Teilhabe


Die Digitalisierung beschleunigt Demo-
kratisierungsprozesse und damit die Beein-
flussung und Veränderungvon Rezeptions-
gewohnheiten. Deshalb setzt die europä-
ische Kulturpolitik auf Audience-Develop-
ment, also Publikumsentwicklung: Nach-
haltige nichthier archische Beziehungen
zwischen Kulturinstitutionenund Publi-
kum sollen dem Rückgang von tradiertem
Kunstkonsum entgegentreten, nachfrage-
orientierte Teilhabemöglichkeiten schaffen
undfürneueLegitimationinnerhalbderGe-
sellschaft sorgen. Bei der Pressekonferenz
des EU-geförderten Projektes Be SpectAC-
Tive! in Brüssel letzte Woche betonte Wal-
ter Zampieri, Referatsleiter bei der Europäi-
schen Kommission, die Notwendigkeit, de-
mografische Veränderungen wie Migration
und veränderte Interessenlagen sowie so-
ziale Medien in den Strategien zur Gewin-
nung neuen Publikums zu erörtern.
AufpolitischerEbeneklingendieseMaß-
nahmen defensiv. Proaktiv hingegen wol-
len die insgesamt 19 Institutionen aus 15
europäischen Ländern, die sich seit 2014
zu Be SpectACTive! zusammengefunden
haben, die Auseinandersetzung mit dem
Begriff „active spectatorship“ vorantreiben.
Wäre erst einmal das Publikum aktiv ge-
worden, dann fehle für eine vitale Demo-
kratie nicht mehr viel–soder Tenor der
Konferenz in Brüssel. Initiiert von Luca
Ricci, dessen Theaterfestival Kilowatt im
italienischen Sansepolcro in Teilen vom
Publikum kuratiert wird, etabliert Be
SpectACTive! ähnliche Klubs in den teil-
nehmenden Institutionen. Seit dieser


Spielzeit auch erstmals in Österreich, und
zwar im Brut Wien.
Dramaturgin Eva Wolfesberger koordi-
niert die über eine Ausschreibung zustan-
de gekommene Gruppe von zwölf Perso-
nen. Diese trifft sich dreimal im Monat zu
Vorstellungsbesuchen, Diskussionen und
Konzeptgesprächen. „Auf institutioneller
Ebene partizipativ werden“, formuliert sie
denAnspruch.FürdasimMärzstattfinden-
de Imagetanz-Festival einigte sich der Klub

gung, auch die Kunst. Deshalb unterstützt
Be SpectACTive! Projekte mit partizipati-
vem Anspruch mittels Residencies und
Touring. Beispielsweise arbeitet die öster-
reichischeGruppeNestervalderzeitinSan-
sepolcro anDer Kreisky Test,einem immer-
siven Theaterspiel, das im April in Wien
zum Mitmachen einladen wird. Dass Bar-
rierefreiheit in der Kunst nicht nur mit
Architektur und Eintrittspreisen, sondern
auch mit dem Abbau von Berührungsängs-
ten und der Diversifizierung von Identifi-
kationsmöglichkeiten zu tun hat, scheint
Konsens geworden zu sein und spiegelt
sich auch abseits von Be SpectACTive! in
konkreten Projekten wider.
SobefragtdieGruppeFux,derenProduk-
tionWas ihr wollt: Der Film2019 am Schau-
spielhaus Wien Premiere hatte, derzeit am
Theater Oberhausen die Bewohner der
Stadt: „Was wollt ihr?“ Aus den Antworten
wird eine Theaterproduktion generiert, die
bis in Kostümdetails hinein auf den Ent-
scheidungen der Versammlungsteilneh-
mer beruht. „Inmitten der Legitimations-
krise parlamentarischer Demokratien ruft
man lautstark nach mehr Mitbestimmung,
scheut jedoch die damit einhergehenden
Konsequenzen“, kritisieren die Fux-Leiter
NeleStuhlerundFalkRößlerundstellen
sich der Aufgabe, das gewünschte Grusical
From Horror till Oberhausenzu erarbeiten.

Mitgestalten oder Gratisarbeit?
Eine andere Art der Öffnung von Thea-
ter in Richtung Publikum besteht in der Er-
findungvon neuenErzählweisen.ZumBei-
spiel im digitalen Bereich. Das Schauspiel-
haus lancierte 2017 mit derSeestadt-Saga
eine mit Live-Events flankierte Social-
Media-Serie, bei der über Facebook mit den
„Figuren“ interagiert werden konnte. Clara
Gallistl, künftig unter Kay Voges am Volks-
theater Wien zuständig für Community-
Building, erarbeitete 2019 mit Stahl-
stadt.onlineein vergleichbares Projekt und
verknüpfte es mit einem Vernetzungs-
anspruch: „Das Ziel von Community-Buil-
ding ist nicht der Verkauf von Produkten,
sondern die Herstellung eines gemein-
schaftlichensozialenRaumes,indemMen-
schen zusammenkommen und gemeinsam
gestalterisch tätig sein können.“ Kritisch
sieht Gallistl vor allem folgende Punkte: Er-
reichen Teilhabe-Angebote das gewünsch-
te theaterferne Zielpublikum? Oder bauch-
pinseln sie das ohnehin kunstinteressierte,
weiße Bildungsbürgertum? Und: Wann
wird Mitgestaltung zu Gratisarbeit?
Das Nachdenken über Partizipation und
Mitbestimmung führt jedenfalls zu Fragen
nach Machtverhältnissen. Wer spricht für
wen? Und wer hat überhaupt Anteil? Das
Theater hat den Weckruf jedenfalls gehört
und probt jetzt die großen politischen Aus-
einandersetzungen unserer Zeit.
Die Reise nachBrüssel erfolgte auf Einladung von Be
SpectACTive!.

AktiviertesPublikum

Wer ist heute Theaterpublikum, wie kann das Theater neues Publikum erreichen?

Foto: Getty Images

/D

avid Shultz
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