Der Standard - 17.02.2020

(Nancy Kaufman) #1

DERSTANDARD Kommentarderanderen MONTAG, 17.FEBRUAR 2020 | 19


PHILIPPE NARVAL


DasEuropatrauma


Im Krieg und
auf der Flucht
traumatisiert,
erleben Ge-
flüchtete in
Camps auf den
griechischen
Inseln gerade
ihr drittes
Trauma, das Europatrauma.
Nicht wirklich willkommen zu
sein, überrascht die Geflüchte-
ten nicht, aber dass das reiche
Europa nicht fähig oder willens
ist, erste Hilfe in der Not zu
leisten, muss tief verletzen.

W


as sie in den vollkom-
men überfüllten Lagern
auf Lesbos, Samos und
Chios gesehen hat, wäre schlim-
mer gewesen als in den Flücht-
lingslagern im Südsudan zur
Bürgerkriegszeit, meinte eine

Mitarbeiterin von Ärzte ohne
Grenzen vor kurzem. Die Mehr-
heit der auf den Inseln fest-
gehaltenen Geflüchteten sind
Familien mit Kindern und un-
begleitete Minderjährige aus Af-
ghanistan und Syrien. Monate-
lang warten sie auf den ersten
Anhörungstermin. Jugendliche
im Alter von nur zwölf Jahren
versuchen sich das Leben zu
nehmen, so unerträglich sind
die Zustände vor Ort. Schwer-
kranke Kinder erhalten im Mo-
ment keine adäquate Versor-
gung, und es fehlt an Lebens-
notwendigem wie Strom,
Wasser und Lebensmitteln.
In Lagern wie Moria, ausge-
legt auf 3000 Menschen, frieren
jede Nacht 20.000 Menschen
unter Plastikplanen. Die lokale
Bevölkerung ist verständlicher-

weise überfordert. Die Eskala-
tion der Konflikte zwischen
Inselbewohnern und Geflüchte-
ten droht ebenso wie eine Radi-
kalisierung der Jungen, die oft
seit Monaten auf sich allein
gestellt sind.
Man kannüber die Aufnah-
me von Geflüchteten in Europa
unterschiedliche Ansichten ha-
ben. Man kann über Migra-
tionspolitik streitenund auch
öffentlich debattieren, wie
streng Asylregeln im Rahmen
der Genfer Konvention ausge-
legt werden sollen und wie vie-
len GeflüchtetenamEnde das
Bleiben ermöglicht werden soll.
Doch zuzulassen, dass schwer-
traumatisierteKinder und Ju-
gendliche in Kälte und
Schlamm dahinsiechen, ist eine
Verletzung der fundamentalen

Werte, auf denen das demokra-
tische Nachkriegseuropa grün-
det. Der humanitäre Imperativ,
das Gebot, Menschenerste Hil-
fe in Notzu leisten, ist und darf
auf diesem Kontinent niemals
verhandelbar sein. Menschen-
würdige Bedingungen in
Flüchtlingslagern, die ein Min-
destmaß an medizinischer Ver-
sorgung und Sicherheit für ihre
Bevölkerung garantieren, sind
kein Luxus, den wir uns leis-
ten. Siesind Verpflichtung!

D


as politische Kalkül der
griechischen Regierung
scheint zu sein, durch
die Zustände auf den Inseln so
viele Menschen wie möglich
von der Flucht nach Griechen-
land abzuhalten. Nun will sie
noch einen Schritt weitergehen.
Vor wenigen Tagen lancierten

die dortigen Behörden die Idee,
mithilfe von aufblasbaren Bar-
rieren Geflüchtete von der Lan-
dung abzuhalten. Vor den grie-
chischen Inseln sollen diese
schwimmenden Grenzzäune
aus Plastik Menschen an der
Landung hindern. Schuld und
Verantwortung für derartig ab-
surde, menschenunwürdige
Maßnahmen allein auf Grie-
chenland zu schieben ist kurz-
sichtig. Das Versagen an der
Peripherie des Kontinents ist
ein Versagen von ganz Europa.
Wenn es unsere Staatenge-
meinschaft nicht einmal schafft,
die insgesamt 41.000 Geflüchte-
ten auf den Inseln der Ägäis
menschenwürdig zu versorgen,
dann kann sie auch andernorts
auf der Welt keine Humanität
und Werte mehr einfordern.

25 Jahrenach dem Bombenanschlagstiftetder Erinnerungsort Eintracht.
Ein medienkritischer Rückblick aufUnterschiede undKontinuitäten.

BertholdMolden

der Öffnung des Eisernen Vor-
hangs durch Innenminister Franz
Löschnak und Sektionschef Man-
fred Matzka sowie natürlich das
„Österreich zuerst“-Volksbegeh-
ren der FPÖ. In derPressebeklag-
te der Schriftsteller Gerhard Ruiss
eine „Mobilmachung alter und
neuer nationaler Zugehörigkeits-
gefühle“,dieÖsterreich„zueinem
asylrechtlichen Komplizen mili-
tärischer und politischer Diktatu-
ren“ gemacht habe. Die Erfolg-
losigkeit der Polizei in der Verfol-
gung und Verhinderung rechten
Terrors deutete Ruiss als politi-
sches Versagen.
Auch Leserbriefe an den
STANDARD stellten den Zusam-
menhangzwischender„Anti-Aus-
länder-Politik“ der Regierung–da-
runterauchdievonSozialminister

D


er 25.Jahrestagdes Terror-
anschlagsvon Oberwart
hat ein breites Spektrum
journalistischer und politischer
Stellungnahmen hervorgebracht,
aus dem sich eingeneralisieren-
der Schluss ableitenlässt :Der
rassistische Mord vomFebruar
1995hat sich nicht alleinindie
politische Erinnerung der öster-
reichischen Roma und Sinti, son-
dern in denKonsens des österrei-
chischen Gedächtnisses insge-
samteingeschrieben.
Der gemeinsame Nenner lautet,
dass keine nationale Identität ras-
sistische Gewalt rechtfertigen darf
und dass Zusammenhänge zwi-
schen Rechtsextremismus, Auto-
ritarismus und ebendieser Gewalt
bestehen. Während die Medien-
diskurse über diesen Themen-
komplex sonst oft gegeneinander-
prallen, stiftet der Erinnerungsort
OberwartscheinbarEintracht:Nie
wieder! Diese Beobachtung des
Jahres 2020 lädt ein zu einem
Rückblick, um Unterschiede,
Kontinuitäten und Entwicklun-
gen aufzuzeigen.


Überforderte Exekutive


1995 explodierte die Bombe von
Oberwart auch in den österreichi-
schen Medien. Hauptthema der
Kommentare war der gewaltaffine
Rechtsradikalismus. In derPresse
stellten Anneliese Rohrer und
Thomas Chorherr die Zusammen-
hänge zur Innenpolitik her und
entließen dabei auch „linksradi-
kale“ Provokationen nicht aus der
Verantwortung. Ernst Trost in der
Kronen Zeitungwar einer der ers-
ten Spitzenjournalisten, die die
„Eigenschuldthese“, wonach sich
die Opfer selbst in die Luft gejagt
hätten, energisch zurückwiesen.
ImKurierklagte Hans Rauscher
die Verbindung von Jörg Haiders
Brandreden und dem Terror an,
und im damals noch recht jungen
STANDARDwidmeten sich Katha-
rina Krawagna-Pfeifer, Gudrun
Harrer, Günter Traxler und der
Zeichner Oliver Schopf dem The-
ma, auch sie mit Blick auf die
Zündschnüre, die zwischen Hai-
ders Wortbomben und der Rohr-
bombe von Oberwart verliefen.
Angesichts der teils überfor-
dert wirkenden Ermittlungsbe-
hörden und vor demHintergrund
derdeutschenGesetzgebung in
Zeitender RAF entflammteauch
rascheine Polemik über Raster-
fahndungund Überwachungs-
staat, die heute angesichtsder
Vorratsdatenspeicherung wieder


aktuell ist. Richard „Staberl“
Nimmerrichter nahm freilich da-
mals die„Linke n“ aufs Korn,die
angesichts des rassistischen Ver-
brechens auf einmal jene Polizei-
methoden fordern würden, die
sie zuvorals autoritäre Bedro-
hungabgelehnthatten. EricFrey
resümierte,die schwierige Situa-
tionergebe sich aus der überfor-
derten Exekutiveund einem
rechtsextremen Rand, der durch
die erstarkende FPÖ parteipoli-
tisch präsent sei.
Aus heutiger Sicht scheint
nicht zuletzt die Verstrickung von
nationalistischer, tendenziell ras-
sistischer Rhetorik und restrikti-
ver Asylpolitik augenfällig. Den
unmittelbaren Kontext dafür ga-
ben damals die Verschärfung des
Fremden- und Asylrechts nach

Josef Hesoun vorgeschlagene Kür-
zung der Kinderbeihilfe für nicht
in Österreich lebendeKinder aus-
ländischer Arbeitnehmer –und
einer minderheitenfeindlichen
Stimmung in der Bevölkerung her.

Rassistische Diktion
In der Berichterstattung zu
Oberwart fanden sich zahlreiche
Spuren rassistischer Diktion oder
überkommener Begrifflichkeiten.
Zahlreiche Autoren verschiede-
ner Medien schrieben von „Zigeu-
nern“. In der Krone befand Ri-
chard Nimmerrichter, die Verbre-
chen könnten nicht als rassistisch
bezeichnet werden, weil die
„Zigeuner“ ja nie politische Ambi-
tionen hätten erkennen lassen,
und überdies–warum dürfe man
nicht mehr „Zigeuner“ und „Ne-

ger“ sagen? Christian Wallner ent-
gegnete in denSalzburger Nach-
richten, ob dieser denn meine,
dass die Roma, würden sie politi-
sche Ambitionen zeigen, die Bom-
be wohl verdient hätten.
Die empörte Berichterstattung
von 1995 zeigt Kontinuitäten
ebenso wie Entwicklungen auf.
Was den Rechtsradikalismus be-
trifft, so hielten damals, anders als
inderKoalitionvon2017bis2019,
rechtsextreme und deutschnatio-
nale Politiker keine Regierungs-
ämter. Heinz-Christian Strache
übte in den frühen 1990er-Jahren
den Wehrsport, während sich
Franz Fuchs im Einfamilienhaus
radikalisierte. 2017 wurde Stra-
che Vizekanzler.

Starke Hand
AutoritäreTendenzenhingegen
zeigen eine gewisse Kontinuität.
Von Karl Renner in der Nach-
kriegszeit über Kurt Waldheim bis
hin zur Bundespräsidentschafts-
wahl 2016 und der Neuübernah-
me der ÖVP 2017 finden sich in
Österreich immer wieder Kontro-
versen über eine entschlossene
Politik der „starken Hand“, die
nichtnurRichtungenvorgibt,son-
dern auch gegebenenfalls auf par-
lamentarische Kompromissfin-
dung verzichten kann. Ethnische
Intoleranz ist oft eine zentrale Ar-
gumentationsformel solcher Au-
toritätsallüren.
Und welche Schlüsse lassen
sich aus der Rolle der Medien zie-
hen? DerenDisku rsebildeten
dies eTendenzeneinerseits ab,
andererseitsstelltensie sich ih-
nenentgegen.SostehtOberwart
gemeinsam mitder Waldheim-
Affäre am Anfangeiner kriti-
schen Öffentlichkeit, welche die
Verflechtungen demokratiege-
fährdenderPhänomene aufzu-
deckenversucht. Dabei stehen
Journalistenoft nebenzivilgesell-
schaftlichen Initiativen–in der
Ära Oberwart das Lichtermeer, in
der Gegenwart die Willkommens-
kultur.Auch wenn diese Öffent-
lichkeit seither den zunehmen-
den Erfolg zerstörerischer Rheto-
rik beobachtenmuss–sie darf
nicht verschwinden,dennoft ist
siedas einzigeKorrektiv!

BERTHOLD MOLDENarbeitetals Histo-
riker in Wien.Erveröffentlichtezuletzt
gemeinsammit MartinDolezal, Peter
Grand und DavidSchriffl den Band
„Sehnsuchtnachdem starkenMann?
Autoritäre Tendenzen inÖsterreich seit
1945“.

OberwartimHerzenÖsterreichs

Gedenken an die vier ermordeten Roma Anfang Februar in Oberwart.

Foto: APA

/C

hristian Gmasz
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