Der Standard - 17.02.2020

(Nancy Kaufman) #1

20 |MONTAG,17. FEBRUAR 2020 Kommentar DERSTANDARD


dst

.at/cartoons

Gegen Hate-Speech hilft kein Staat


Nurentschlossene Gegenrede kann denHass in den sozialenMedien bändigen


macht. Sie verkörpert sich in jedem
Polizeibeamten, der dem eigenwilli-
gen Fußgänger sein „Hallo, Sie da!“
hinterherruft.
Indem Sprache das plumpe, physi-
sche Handeln bei weitem übersteigt,
liegt die Kraft des Sprechaktes nicht
allein in der Souveränität des jeweili-
gen Hasspredigers. Sind Äußerungen
auch „Akte“, so sind diese nicht unbe-
dingt effektiv. Sprachliche Handlun-
gen können scheitern.
Ein Schlag in die Magengrube wird
von mir unter allen Umständen als
schmerzlich empfunden werden.
Über die Aussage „Der Autor dieser

Zeilen ist minderbemittelt!“ könnte
ichhingegendenKopfschütteln–oder
auch in bitterer Selbsterkenntnis zu
weinen beginnen. Keinesfalls aber be-
säße der Absender der Hassbotschaft
die Kontrolle über meine Reaktion.
Nur darum kann es gehen: Alle
durch Hate-Speech Diffamierten gehö-
ren aus der Erstarrung der Opferrolle
erlöst. Das wirkungsvollste Druckmit-
tel gegenüber Ressentiment ist die
Widerrede: Aufmüpfigkeit, die sich
ihre gedankliche Eigenständigkeit be-
wahrt. Als Allheilmittel gegen Hass
tönt der Ruf nach behördlicher Kon-
trolle hingegen viel zu schwach.

D


as Problem hasserfüllten Spre-
chens im Netz und in den Me-
dien lässt die Behörden neuer-
dings geharnischt auftreten. Soeben
hat die Landesregierung in Bayern die
Einsetzung eines Hate-Speech-Beauf-
tragten beschlossen. Der frisch Gekür-
te,einOberstaatsanwalt,sollnichtnur
über das Anlegen „einheitlicher Maß-
stäbe bei der Rechtsanwendung“ wa-
chen. Klaus-Dieter Hartleb–soheißt
der Anti-Hass-Wart–ließ die Öffent-
lichkeit des Freistaates unverzüglich
wissen: Er wolle im Zusammenwirken
mit zahllosen Sonderdezernaten auf
„angemessen hohe Strafen hinwir-
ken“. Der Hass muss abebben. Ende
der Durchsage.
DasUnbehagenander ungezügel-
ten Verbreitung hasserfüllter Reden
nimmt rapide zu. Äußerungen, die
dazu geeignet sind, andere Menschen
herabzuwürdigen oder in ihrer Inte-
grität zu verletzen, sollen als Gewaltde-
likte geahndet werden. Immer schma-
ler erscheint dabei der Grat, derden
bloßen Sprechakt von der manifesten
Ausübung physischer Gewalttrennt.
Nicht nur in den Augen staatlicher
AufsichtsbehördensindessozialeMe-
dien, die als Überträger von Sprach-
entgleisungen das Virus der Verächt-
lichkeit verbreiten. Das bewusste Aus-
reizen von verbalen Gewaltpotenzia-
len lässt eine Niedertracht spüren, die
den physischen Übergriff vorweg-
nimmt. Man denke zurück an die Er-
mordung des Kasseler CDU-Politikers
Walter Lübcke.

U


mso dringlicher geboten
scheint der Hinweis: Wer Wort
und Tat gleichsetzt, der ver-
lernt zu unterscheiden. Die US-Kul-
turphilosophin Judith Butler hat auf
die schwindelerregende Dimension
des Sprechaktes hingewiesen. Spre-
chen kann unmittelbar verletzen; es
kann aber genauso gut zu Wirkungen
und Effekten führen, ohne selbst
schon dieser Effekt zu sein.
Wer einen anderen sprachlich ver-
letzt, spricht ihn zunächst konkret an.
Der Adressat fühlt sich auch prompt
angesprochen–und verletzt. Jeder
Eigenname verbürgt diesen Sachver-
halt, der, seinem Ursprung nach, auf
den biblischen Schöpfungsakt zu-
rückgeht: „Im Anfang war das Wort, /
und das Wort war bei Gott ...“.
Die„Anrufung“durchübergeordne-
te Instanzen erzeugt nicht nur im Poli-
zeistaat dasIdeal deswillfährigenBür-
gers. Es reicht die Stimme der Staats-

Ronald Pohl

KOPFDESTAGES


W


enn man Men-
schen danach
fragt, was sie
eigentlichmachen,dann
nennen die meisten
ihren Brotberuf. Judith
Pühringers Antwort ist
komplizierter. Weil sie
findet, die Definition der
Arbeit müsse umformu-
liert und Arbeit an sich
neu verteilt werden,
spricht sie lieber von
verschiedenen Dimen-
sionen der Arbeit: Er-
werbsarbeit, Sorge-
arbeit, Freiwilligen-
arbeit und sogar der
Arbeit an sich selbst.
Ersteres, nämlich ihre
Position als Geschäfts-
führerin des Netzwerks
Arbeit plus, legte Püh-
ringer zurück, nachdem
sie am Samstag von den
Wiener Grünen auf Lis-
tenplatz drei für die
Wien-Wahl im Herbst gewählt worden
war –womit ihr ein Mandat sicher ist.
Der Wunsch nach politischer Ge-
staltung sei „sehr langsam gereift“, wie
sie sagt, dieser traf nun auf „offene Tü-
ren bei den Grünen“ und ein „ernstes
Angebot“ von Vizebürgermeisterin
Birgit Hebein. Pühringer ist damit
Quereinsteigerin, wurde aber, so sagt
sie, schon früh gesellschaftspolitisiert:
bei der Jungschar in Wien-Währing
nämlich, jenem Bezirk, in dem sie auf-
gewachsen ist. In der Pfarre St. Ger-
trud war sie erst Jungscharkind, dann
-leiterin.Damalsstelltesiesich,sosagt
Pühringer heute, die Frage, warum
Chancen so ungleich verteilt seien.

Die Antwort darauf
suchte sie aus zwei Per-
spektiven. Einerseits im
BWL-Studium an der
Wirtschaftsuniversität
Wien, das sie in den
Neunzigern absolvierte,
andererseits im zivil-
gesellschaftlichen Enga-
gement: etwa im Projekt
Herklotzgasse 21, bei
dem überlebende jüdi-
sche Kindergartenkin-
der ausfindig gemacht
wurden. 15 Jahre lang
engagierte Pühringer
sich außerdem in der
Armutskonferenz, auch
diese Tätigkeit legt sie
nun zurück.
Für Wien plant die
Neue bei den Grünen
eine „zukunftsfähige
Arbeitsmarktpolitik, in
der das soziale Men-
schenrecht auf gute
Arbeit für alle verwirk-
licht ist“. Konkret heißt das: ein Wie-
ner Mindestsicherungsgesetz, das
„weggeht von Almosendenken hin zu
Würde und Respekt“, wie sie sagt. Die
bekennende Befürworterin der Aktion
20.000, dem Herzstück der Kanzler-
schaft von Christian Kern (SPÖ), will
außerdem einen Ausbau der Aktion 50
plus, bei der Jobs für ältere Arbeitslose
geschaffen werden sollen.
Die zweite Dimension der Arbeit,
die Sorgearbeit für ihre zwei Töchter,
teilt die 44-Jährige in der Familie auf.
Privat beschreibt Pühringer sich als
Reisende, Lesende, Kunst- und Kul-
turfreundin und Genussmensch.
GabrieleScherndl

DieNeue


bei den


Wiener Grünen


Judith Pühringer wurde
auf Platz drei der Liste für
die Wien-Wahl gewählt.
Foto:Novak

Impressum und Offenlegung:Herausgeber:Oscar Bronner;Geschäftsführung:Mag.Alexander Mitteräcker;Verlagsleitung:Martin Kneschaurek;Chefredaktion:Dipl.-Biol. Martin Kotynek, Stellvertretung: Mag. Rainer
Schüller, NanaSiebert, Mag. Petra Stuiber;Eigentümerin (100%)/Medieninhaberin,Verlagsort, Redaktions- und Verwaltungsadresse:STANDARDVerlagsgesellschaft m.b.H., A-1030 Wien, Vordere Zollamtsstraße 13;
Hersteller, Herstellungs- undErscheinungsort:Mediaprint Zeitungsdruckerei Ges.m.b.H.&Co. KG, 1232 Wien,Richard-Strauss-Straße 16;Telefon: 01 53170,Fax-DW:Redaktion:131, Anzeigen:485, Abo: 330;
E-Mail-Adressen:[email protected], [email protected], [email protected], [email protected];Internet:https://abo.derStandard.at;Abo-Preise Inland(in Klammern für Studierende/Schüler)jährlich:€525,–(325,–),
monatlich:€49,90(31,–), für einzelne Wochentage–pro Tag und Jahr:€110,–(72,–);Abo-Service: 0800 501 508;Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach§44Abs 1Urheberrechtsgesetz: ©STANDARDVerlagsgesellschaft m.b.H., Art-Copyright: VBK,
Wien,DVR554219;Reichweite:MA 2018/2019:7,4%, 558.000 Leser;ÖAK-geprüfte Auflage;Offenlegunggem.§25MedienG undausführliches Impressumsiehe: https://about.derStandard.at/impressumDemEhrenkodexder österreichischen Presse verpflichtet.

Unbequemer Impulsgeber


Manuela Honsig-Erlenburg

E


mmanuel Macron ist ein unbequemer Zeitgenosse.
Wo immer der französische Präsident zur EU-Außen-
politik spricht, tritt zutage, was seit Jahren Fakt ist:
Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat keine
richtige Vision, kein gemeinsames Ziel und vor allem kei-
nen Mut. Sie ist vielmehr ein Sammelsurium von Absichts-
bekundungenundPositionendereinzelnenMitgliederund
Institutionen. Beschlüsse brauchen Einstimmigkeit. Die
EU ist aber mehrstimmig und sieht immer öfter zu, wie die
USA, China und Russland agieren.
Beispiele gab es in der letzten Zeit genug: Nachdem etwa
die USA Anfang Jänner den iranischen General Ghassem
Soleimanigetötethatten,brauchtedieneuegeostrategische
EU-Kommission mehr als drei Tage, um sich zu positionie-
ren. Oder Libyen: Beim Gipfel in Berlin wurde einmal mehr
deutlich, dass verschiedene europäische Staaten jeweils
andere Parteien im Bürgerkrieg unterstützen. Auch über
Russland ist man sich uneins: Die einen sind für eine stra-
tegische Annäherung, die anderen, vor allem die östlichen
Staaten, die sich von Moskau bedroht fühlen, betrachten
das mit großem Misstrauen.
Aber was ist die Lösung angesichts einer Welt, die eben
nicht automatisch immer demokratischer und liberaler
wird? Wie raus aus der Lähmung der vielfach gut begrün-
deten divergierenden Positionen? Auch die Münchner Si-
cherheitskonferenz brachte–diesmal unter dem deprimie-
renden Motto „Westlessness“–auf diese Frage keine Ant-
worten.
Aber Macron war immerhin einer der wenigen, die eine
Vision einer solidarisch handelnden Weltgemeinschaft
und eines handlungsfähigen Europas noch nicht abge-
schrieben hatten. Zu Recht pocht er darauf, dass der
deutsch-französische Motor wieder mehr Power braucht.
Dass die atomare Abschreckung in Zukunft nicht mehr nur
amerikanisch gedacht werden darf. Dass Frankreich im En-
gagement gegen den internationalen Terrorismus mehr
Unterstützung braucht. Noch ducken sich die meisten weg,
der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
hat in München aber immerhin überlegt, die „Einladung
zum Dialog“ anzunehmen. Die Vision „von einem Europa,
das sich auf der Basis eigener Souveränität schützen kann“,
bleibt vorerst weiter die Vision Macrons. Um jemals Rea-
lität zu werden, braucht es vor allem Taten. Bis dahin bleibt
Macron ein unbequemer, aber wichtiger Impulsgeber.


Hasardmit hohem Einsatz


Gerald John

A


us der Emotion heraus ist es verständlich, dass es
Pamela Rendi-Wagner nun wissen will. Seit Mona-
tenstellenGenossenihreAutoritätinfrage,dasreicht
vom hintenrum Ausrichten bis zum direkten Putschver-
such. Weil die SPÖ-Chefin offenbar glaubt, dass sie bei der
Basis besser angeschrieben ist als bei den Funktionären,
will sie sich Rückhalt von unten holen: Die Parteimitglie-
der sollen über ihren Verbleib an der Spitze entscheiden.
Doch die persönlichen Bedürfnisse einer Vorsitzenden
decken sich nicht zwangsläufig mit jenen einer Partei. Die
SPÖ hat bei dem riskanten Experiment mehr zu verlieren,
als Rendi-Wagner dabei gewinnen kann.
Selbst wenn die Hasardeurin 90 Prozent oder mehr an
Zuspruch einfährt, brächte ihr das kaum eine langfristige
Überlebensgarantie. An der letzten Mitgliederbefragung
nahm ein knappes Viertel der Genossen Teil–darelativiert
sichauchbeieinemErdrutschsiegdieBedeutung.Bekannt-
lich schreiten bei Nationalratswahlen nicht nur Menschen
mit rotem Parteibuch zu den Urnen. Bleiben die Umfrage-
werte im Keller, wird die Führungsdebatte in der SPÖ so
oder so von neuem losbrechen.
Und was, wenn nur eine knappe Mehrheit für die Titel-
verteidigerin votiert? Anders als eine gut vorbereitete
Kampfabstimmung mehrerer deklarierter Kandidaten, wie
sie in der SPÖ um den Bürgermeistersessel von Wien statt-
fand, garantiert die von Rendi-Wagner verblüffenderweise
ohne Absprache mit den Parteigranden durchgesetzte Be-
fragungkeinunumstrittenesErgebnis.DieamtierendeChe-
fin mag bereits 65 Prozent als einen Sieg, weil Mehrheit,
auslegen–ihre Kritiker werden das ganz anders sehen. Da
droht eine quälende Debatte über die Interpretation des
Resultats samt verschärfter Ablösediskussion, und das zu
einer Unzeit: Statt hässliche Schlagzeilen zu produzieren,
könnte die SPÖ im Frühjahr auch all ihre Kraft ballen, um
bei der Wahl im Herbst das rote Wien zu verteidigen.
Im schlimmsten Fall fährt Rendi-Wagner mit ihrem selt-
samen Referendum nicht nur die maximale Demütigung
für ihren Abgang ein, sondern bringt auch noch eine der
letzten sozialdemokratischen Hochburgen zum Wackeln.
Dass sich alle vor dieser Katastrophe fürchten, ist ihr
Trumpf. Rendi-Wagner darf darauf hoffen, dass die Lan-
desparteien ihre Mitglieder bearbeiten, damit die Befra-
gung möglichst ruhig über die Bühne geht. Doch dann soll-
te sie wissen, dass ein Teil der Sympathie nur geliehen ist.

BEFRAGUNGZURENDI-WAGNER


MÜNCHNERSICHERHEITSKONFERENZ

Free download pdf