Der Standard - 17.02.2020

(Nancy Kaufman) #1

DERSTANDARD International MONTAG,17. FEBRUAR 2020 | 3


Seit 2018verhandeln die
USAmit denTaliban,
die seit 2001noch nie so
starkwarenwie jetzt.
Eine siebentägige
„Gewaltreduktions“-Phase
soll einem
Friedensabkommen für
Afghanistanvorausgehen.

ANALYSE:Gudrun Harrer

gewöhnt, darüber wie über die
normalste Sacheder Weltzube-
richten. Einer der Taliban-Ver-
handleretwa,Khairullah Khair-
khwa, war jahrelanginGuantana-
mo in Haft, von wo er erst
durch einenGefangenenaus-
tausch–für den entführten, zu-
vor desertierten US-Soldaten
Bowe Bergdahl–freikam.Ande-
re Taliban,wie auch Verhand-
lungsführer Mullah Abdelghani
Bara dar, sindden USA schonaus
der Zeitvor1989, alsdie USA die
islamistischen Mujahedin gegen
die Sowjettruppen unterstützt
haben, bekannt.

Zerstrittene Regierung
In Afghanistan sollen nach
Unterzeichnung des Deals inner-
halb von zehn Tagen Friedens-
gespräche zwischen den Taliban
und der jetzigen Regierung begin-
nen, die auf eine Machtteilung hi-

USAwollen Deal mit Taliban auf den Wegbringen

A


mSamstag jährte sich in Af-
ghanistan der Abzug der
Sowjettruppen, die das
Land von 1979 bis 1989 besetzt
hatten, zum 31. Mal: Und bei der
Sicherheitskonferenz in Mün-
chen bestätigte US-Verteidigungs-
minister Mark Esper einen bevor-
stehenden Deal mit den Taliban,
der seinerseits den USA den Weg
aus einem mittlerweile 18 Jahre
dauernden Krieg ebnen soll.
Der in München kolportierte
Plan sieht so aus: Zuerst kommt
die Verkündung einer sieben Tage
dauernden Phase der „Gewalt-
reduktion“, und wenn diese hält,
beginnt die Bekräftigung und Um-
setzung eines „Friedensabkom-
mens“–ein großes Wort für einen
langen und riskanten Prozess. Die
New York Timesspekuliert, dass
der Zeitplan ermöglichen könnte,
dass US-Präsident Donald Trump
selbst,derin einerWochenachIn-
dien reist, einen Abstecher auf
eine US-Militärbasis in Afghanis-
tan machen könnte, um den Deal
zu unterzeichnen.
DessenKernelementesind die
graduelle Reduktionder US-
-Truppen,ersteinmal von etwa
12.000 auf 8600innerhalb von
135 Tagen: wie bestelltfür den
US-Präsidentschaftsw ahlkampf
von Trump.Ein US-kontrollierter
Friedensprozess würdeaber auch
eine Schwächung des Einflusses
des Iran bedeuten:2001 halfer
den USA, die Talibanzustürzen.
Aber besonders nachdem neuen
Zerwürfnismit den USA unter
PräsidentDonald Trumpunter-
stützt Teheran in Afghanistan
alle US-und regierungsfeindli-
chen Kräfte.


Die Taliban ihrerseits verpflich-
ten sich, keine Terrorgruppen zu
beherbergen, wie sie es vor 2001
getan haben. Das heißt, die Tali-
ban, von Washington jahrelang
mit Al-Kaida gleichgesetzt, sind
zupolitischenAkteurenundAnti-
terrorwächtern, etwa gegen den
„Islamischen Staat“, avanciert.
Es magpragmatisch gesehen
der einzig möglicheExit aus
einem Krieg sein,der nach An-
sichtder meisten Experten nicht
gewonnen werden kann: Fürjene
Afghaninnenund Afghanen,die
unter dem aggressiven Islam der
Taliban gelitten haben, bleibt die
Vorstellungschrecklich. Bitter ist
sie wohl auchfür jeneFamilien –
etwainDeutschland–,die für die
US-geführte Koalitionkämpfen-
de Angehörige verloren haben.
Im Diskursder US-Regierungdar-
über fehltdieser Aspektvöllig.
Auchdie Medienhaben sich an-

nauslaufen:PräsidentAshrafGha-
ni steht diesen Verhandlungen,
nachdem er zumindest formal
durch seinen Sieg bei den Präsi-
dentschaftswahlen im Herbst ge-
stärkt worden ist, nicht mehr so
ablehnend gegenüber wie früher.
Allerdings dürfte sich die Aufstel-
lung einer geeinten Regierungs-
delegation als schwierig erweisen:
Die politische Elite, die Afghanis-
tan jetzt regiert, ist stark fragmen-
tiert und zerstritten.
AuchdieTalibanselbstmüssen
jedoch ihrenLeuten den Deal erst
verkaufen: Die siebentägige
„Gewaltreduktion“ soll auch ein
Test dafür sein, ob die Taliban-
Führung, die im katarischen Doha
mit US-Sondergesandtem Zalmay
Khalilzadverhandelt hat, wirk-
lich allesunter Kontrolle hat.
Die siebentägige Testzeit läuft
deshalb nicht unter dem Titel
„Waffenruhe“, weil sie nicht um-

fassend gilt. So haben die Taliban
zugesagt, neben Zivilbevölkerung
und öffentlichen Gebäuden auch
keine Hauptstraßen anzugreifen.
Aber sie haben den Vorbehalt
durchgesetzt, dass dies nicht gilt,
wenn die afghanische Armee die
Feuerpause dazu nützt, über die-
se Straßen Truppen in umstritte-
ne Gebiete zu bringen.
Dem Wochenende vorangegan-
genwarenLuftangriffeaufZivilis-
ten in der östlichenProvinz Nan-
garhar mitmindestens acht To-
ten, für die die Taliban verant-
wortlichgemacht werden, ein
tödlicher Luftangriff auf einen Ta-
liban-Kommandanten in der
nördlichen ProvinzBarkhund ein
Taliban-Angriff in derProvinz
Kunduz,bei demacht afghani-
sche Soldaten getötet wurden.
2019 war mit etwa25.000 Zwi-
schenfällen ein besondersgewalt-
tätiges Jahr in Afghanistan.

Kunduz, im Norden Afghanistans: Die Armee befreite vor einer Woche 17 von den Talibangefan gen genommene Soldaten.

Foto: Imago

/Xinhua

/A

jmal Kakar

Frankreich in derFalle der „Pornopolitik“


Franzosenfürchten nach Skandal um anzügliche Chatnachrichten „Amerikanisierung der Sitten“


Stefan Brändle aus Paris

D


iesmal reagierte die Polizei
prompt. Am Samstag nahm
sie vor einem Pariser Hotel
ein Paar fest, das den Sturz des
zentralen Macron-Kandidaten für
die französischen Gemeinde-
wahlen von März verursacht ha-
ben soll.Eshandelt sich um den
russischen Extremkünstler Piotr
Pawlenski und eine 29-jährige
Französin.SiesollendenKandida-
ten der Macron-ParteiLaRépubli-
que en Marche für den Posten des
Pariser Bürgermeisters, Benjamin
Griveaux, in eine Internetfalle ge-
lockt haben.AmFreitag trat der
enge Macron-Vertraute zurück.
Als Regierungssprecher in
Frankreich ein ziemlich bekann-
tes Gesicht, hatte Griveaux der
Frau offenbar im Jahr 2018 ein-
deutige SMS-Texte und Sexfotos
geschickt. Am Wochenende er-
klärte Pawlenski gegenüber Pari-
ser Medien, er habe die kompro-
mittierenden Inhalte publik ge-
macht, um Griveauxs „Heuchelei“
bloßzulegen; denn dieser spiele
nur zum Schein den perfekten Fa-
milienvater.
Für die Franzosen ist das noch
lange kein Grund zur Offen-
legung. Viele befürchten, dass die
sozialen Medien zu einer „Ameri-
kanisierung der Sitten“ führen


und die in Frankreich sakrosank-
te Privatsphäre unterhöhlen.
„Ohne sie ist Freiheit ein leeres
Wort“, erklärte der frühereChar-
lie Hebdo-Chefredakteur Philippe
Val am Sonntag. Nicht nur die
Veröffentlichung, sondern auch
das Weiterverbreiten porno-
grafischer Attacken gegen Privat-
personen wird in Frankreich mit
einer Buße von bis zu 60.000 Euro
geahndet.
Entsprechend heftig wird Paw-
lenski angegriffen. Der Macron-
Abgeordnete Bruno Questel ver-
langte schlicht: „Werft diesen Kerl
raus!“ Der 35-jährige Russe hatte
in Frankreich politisches Asyl er-
halten, nachdem er in Moskau mit
Hardcore-Aktionen Aufsehen er-
regt und dafür mehrere Monate in
Haft verbracht hatte. In Paris wur-
de Pawlenski wegen Brandstif-

tung an der Banque de France zu
einer dreijährigen Haftstrafe ver-
urteilt. Am 31. Dezember verletz-
te er bei einer Neujahrsparty zwei
PersonenleichtmiteinemMesser.
Die Polizei erließ am 2. Jänner
einen Haftbefehl, vollzog ihn aber
nicht. Erst jetzt wurde er fest-
genommen–wegen der Messer-
attacke, nicht wegen der Gri-
veaux-Affäre. Seine Internetseite
„Pornopolitic“ wurde am Wo-
chenende geschlossen, wobei vor-
erst nicht klar war, durch wen.

Schlechter Zeitpunkt
PariserMedien spekulieren dar-
über, ob nicht auch der linksex-
treme Pawlenski-Anwalt Juan
Branco zur Verbreitungder Gri-
veaux-SMS beitragen habe. Die
Operationwar zweifellos wohl-
überlegt, bringt doch allein schon

der Zeitpunkt den Staatschef in
dieBredouille.ParisistdermitAb-
stand wichtigste Urnengang der
Lokalwahlen, und die Macronis-
ten mussten am Sonntag in aller
Hast eine Ersatzlösung in der Per-
son von Gesundheitsministerin
Agnès Buzyn bestimmen. Gerade
jetzt, da der Präsident wegen sei-
ner umstrittenen Rentenreform
unter Druck steht, wäre ein Wahl-
debakel ein böses Omen.
Viele Pariser Stimmen fragen
sich mehr oder weniger offen, wa-
rum Griveaux überhaupt zurück-
getreten sei. „Er hätte mit dem gu-
ten Beispiel vorausgehen und sich
vor die Opfer des ,revenge porn‘
(Rache durch die Publikation inti-
mer Inhalte) stellen sollen“, mein-
te etwa die Feministin Eloïse
Becht, genannt Ovidie.
Amazon-Gründer Jeff Bezos
hatte vor einem Jahr zugegeben,
dass es Sexbilder, mit denen er of-
fenbar von Kreisen um den US-
Präsidenten und aus Saudi-Ara-
bien politisch erpresst werden
sollte, tatsächlich gebe. Die Grive-
aux-Affäre scheint politisch weni-
ger vertrackt zu sein. Macron be-
klagte sich im Präsidentschafts-
wahlkampf 2017 wohl über russi-
scheHackerangriffe.Siegingenal-
lerdings eher aufs Konto Kreml-
naher Stellen, mit denen Pawlens-
Foto: AP ki nichts gemein haben dürfte.

/C

hristophe Ena

Der russische
Aktivist Piotr
Pawlenski
behauptet,
Sexfotos des
Pariser Bürger-
meisterkandidaten
Griveaux verbreitet
zu haben.

Schlaggegen


rechte Terrorzelle


in Deutschland


Berlin –Die deutsche Bundes-
anwaltschaft hat am Wochenende
Haftbefehle gegen zwölf mutmaß-
liche Mitglieder und Unterstützer
einer rechtsterroristischen Ver-
einigung erwirkt. Die Männer wa-
ren am Freitag vorläufig festge-
nommen worden. Sie seien am
Samstag einem Ermittlungsrich-
ter vorgeführt worden, der jeweils
Haftbefehl und Untersuchungs-
haft angeordnet habe.
Nun kommen immer mehr De-
tails ans Licht. Nach Informatio-
nen der deutschen Bild-Zeitung
plante die Gruppierung Anschlä-
ge größeren Ausmaßes. Darüber
sollen die Behörden Infos von
einem V-Mann erhalten haben.

Internationale Kontakte
Es bestehe jedenfalls der An-
fangsverdachtderGründungeiner
rechtsterroristischen Vereini-
gung. Einige der Männer sollen
Anschläge auf Politiker, Asyl-
suchende und Muslime geplant
haben. Möglicherweise zählt dazu
auch ein Angriff auf eine Moschee
nach dem Vorbild des Anschlags
im neuseeländischen Christ-
church im März 2019. Die mut-
maßlichen Rechtsterroristen sol-
len nach Angaben derWelt am
SonntagKontakte zurinternatio-
nal agierenden Gruppierung „Sol-
diers of Odin“ haben. (red)

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