Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
von werner bartens

I


n Zeiten von Corona sind verlässliche
medizinische Tipps mindestens so
begehrt wie Toilettenpapier. Anbieter
von Nahrungsergänzungsmitteln und
Vitaminen preisen ihre Produkte an, die an-
geblich das Immunsystem für den Kampf
gegen Sars-CoV-2 stärken. Hersteller von
Saunakabinen raten zur Nutzung der
Schwitzkammern, damit der grassierende
Erreger keine Chance gegen den wechsel-
warm abgehärteten Organismus hat. Und
wer regelmäßig Medikamente nehmen
muss, kann sich kaum retten vor Empfeh-
lungen, was jetzt zu tun sei – und welche
Arzneimittel abzusetzen seien.
Gemeinsam ist all diesen Tipps und
Empfehlungen, dass sie unseriös sind. Im
besten Fall stecken gut gemeinte, aber
nicht bewiesene Theorien dahinter, im
schlimmsten Fall ist es dubiose Geschäfte-
macherei.
Das erste Opfer des Krieges ist bekannt-
lich die Wahrheit, und der Kampf gegen
das Virus wird nicht nur vom französi-
schen Präsidenten Emmanuel Macron mit
dem Krieg gegen einen „unsichtbaren
Feind“ verglichen. In den vergangenen Ta-
gen wurde vor einer angeblich untaugli-
chen Waffe gegen den Erreger gewarnt: Im
Netz und über Whatsapp kursierten Berich-
te, wonach es gefährlich sei, bei Verdacht
auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 das
Schmerzmittel Ibuprofen zu nehmen. Eine
tausendfach geteilte Sprachnachricht
über den Messengerdienst verunsicherte
die Menschen. Darin erzählte eine Dame
von ihrer angeblichen Bekannten an der
„Uniklinik Wien“. In einem dortigen Labor
sei entdeckt worden, dass Ibuprofen dazu
führe, dass sich das neuartige Coronavirus
schneller vermehrt.


Die Medizinische Universität Wien ver-
öffentlichte zwar umgehend ein Dementi
und betonte, die Falschinformationen
über Ibuprofen seien „Fake News“ und
stünden „in keinerlei Verbindung mit der
Medizinischen Universität Wien“ – doch
das Gerücht war in der Welt. In der gegen-
wärtigen Zeit, in der Halbwissen noch
mehr Konjunktur hat als sonst („War da
nicht ein Problem mit Ibuprofen?“), ist es
schwer, Irrläufer wieder einzufangen,
auch wenn in den sozialen Medien Nach-
richten die Runde machten, die diese Art
der Informationsverbreitung karikierten:
„Der Schwager vom Heilpraktiker meines
Paketlieferanten arbeitet in der Forschung
und hat herausgefunden ...“
Wenig nützlich war es allerdings, dass
bald darauf auch die Weltgesundheitsorga-
nisation WHO dazu riet, bei Verdacht auf ei-
ne Corona-Infektion auf Ibuprofen zu ver-
zichten – und stattdessen Paracetamol zu
nehmen. Auch der französische Gesund-
heitsminister Olivier Véran warnte auf
Twitter, dass entzündungshemmende Mit-
tel wie Ibuprofen und Cortison „die Infekti-
on verschlimmern“ könnten. Im Zweifel,
oder falls man bereits entzündungshem-
mende Medikamente nehme, solle man bit-
te „seinen Arzt um Rat fragen“. Solche Bot-
schaften verunsichern mehr, als dass sie
hilfreich wären. Wer hat in diesen Tagen
keine Zweifel, ob er sich angesichts der Be-
drohung durch das Virus richtig verhält?
In der Folge meldeten sich diverse Ärz-
te und Wissenschaftler zu Wort, die auf
mögliche Interaktionen der Antiphlogisti-
ka – so heißen Entzündungshemmer in
der Fachsprache – hinwiesen. Schließlich
könnten Medikamente aus dieser Gruppe,
wie Ibuprofen, Aspirin und Diclofenac, die
Blutgerinnung stören und Magenblutun-
gen begünstigen. Zudem seien Nebenwir-
kungen an Herz und Nieren möglich. Und
für eine Infektion mit Sars-CoV-2 sei es
vielleicht relevant, dass diese Arzneimittel


die Entzündungsreaktion beeinflussen.
Eventuell würden auch die ACE-Rezepto-
ren auf der Oberfläche von Lungenzellen
so verändert, dass Viren leichter eindrin-
gen können.
Die allgemeinen Hinweise darauf, dass
populäre Medikamente Nebenwirkungen
haben können, sind richtig. Sie fanden sich
in den vergangenen Jahren auch immer
wieder in derSüddeutschen Zeitung. Ärzte
berücksichtigen mögliche Nebenwirkun-
gen längst bei der Wahl der Schmerzmittel
für Magen-, Nieren- oder Herzkranke. Die-
se Einschränkungen sagen allerdings pau-

schal nichts darüber aus, wie sich die Mit-
tel bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 aus-
wirken. Entsprechende Studien dazu gibt
es nicht, seriöse Belege darüber, was Co-
vid-19 begünstigt, verstärkt oder verhin-
dert, fehlen. Auch eine im Zusammenhang
mit Ibuprofen zitierte Arbeit aus dem Fach-
magazinLancet Respiratory Medicineist
methodisch zu schwach, um die Hypo-
these vom in Corona-Zeiten gefährlichen
Schmerzmittel zu stützen.
Soeben hat der renommierte Statistik-
experte John Ioannidis öffentlich beklagt,

dass in der aktuellen Pandemie zuverlässi-
ge Daten fehlen. Das gelte für die Angaben,
wie viele Menschen in welchem Land infi-
ziert und erkrankt sind. Die Schätzungen
schwanken, ob die offiziellen Zahlen um
den Faktor 3 oder um den Faktor 300 zu
niedrig liegen. Auch die Letalität sei noch
zu wenig gesichert, um Hochrechnungen
anzustellen. Solche Unsicherheiten gelten
genauso für viele Empfehlungen zur Thera-
pie. Es sind schlechte Zeiten für die evi-
denzbasierte Medizin, also das diagnosti-
sche und therapeutische Vorgehen nach
besten wissenschaftlichen Studien und Kri-
terien. Auch Virologen und andere Exper-
ten fahren derzeit nur auf Sicht. Sie kön-
nen angesichts der neuartigen Herausfor-
derung auch gar nicht anders.
Deshalb wäre es hilfreich, wenn mo-
mentan nicht jede Theorie hochgejazzt
wird und jede biochemische Spekulation
zur Empfehlung ausartet. Und nicht jeder,
der den Zitronensäurezyklus mal auswen-
dig konnte, sollte Mutmaßungen darüber
anstellen, warum dieses oder jenes Mittel
gefährlich oder eine großartige Therapie
sein könnte. „Es wäre fatal, wenn Men-
schen mit ernsten Erkrankungen derzeit
ihre Medikation ändern“, sagt Wolf-Dieter
Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittel-
kommission der Deutschen Ärzteschaft.
„Das gilt für alle chronischen Patienten,
egal ab sie kardiovaskuläre, onkologische,

rheumatologische oder andere Erkrankun-
gen haben, dazu gibt es angesichts der Co-
rona-Pandemie definitiv keinen Grund.“
Diese Patienten hätten, wie oft erwähnt,
ein erhöhtes Risiko, aber ein Zusammen-
hang mit ihrer Therapie sei nicht belegt.
Ärzte und andere medizinische Fachleu-
te kommen derzeit kaum hinterher, Patien-
ten, die in Behandlung sind, davor zu war-
nen, Medikamente abzusetzen. Die Lun-
genspezialisten empfehlen beispielsweise
in einer aktuellen Stellungnahme, dass
Kinder und Erwachsene mit Asthma ihre
Therapie während der Corona-Pandemie

„nicht aus diesem Grund ändern oder gar
beenden“ sollen. Das gelte ausdrücklich
auch für die Inhalation von Steroiden, also
cortisonhaltigen Mitteln, auch wenn dar-
über spekuliert wurde, ob nicht andere
Medikamente schonender für das Immun-
system sind.
„Diese Aussage verunsichert Patienten
und Behandler“, so Matthias Kopp, Präsi-
dent der Gesellschaft für Pädiatrische
Pneumologie, der gemeinsam mit anderen
Lungen- und Allergieexperten den Aufruf
unterzeichnet hat. „Dass sich Asthma da-

durch in bedrohlicher Weise verschlech-
tert, ist für Patienten wesentlich gefährli-
cher als ein mögliches, gleichwohl unbeleg-
tes Risiko einer Förderung der Ansteckung
mit dem Coronavirus.“ Deshalb soll eine er-
folgreiche Inhalationstherapie bei Asthma-
tikern „auch und gerade in der aktuellen
Coronavirus-Pandemie“ unverändert fort-
gesetzt werden.
Auch in Internetforen von Rheuma-
kranken zeigt sich die Verunsicherung, ob
die Dauermedikation angesichts der Coro-
na-Pandemie beibehalten werden soll.
„Ich habe dies hier gefunden, war sehr alar-
miert“, schreibt eine Patientin, die diskutie-
ren will, ob ihre Medikamente die Infekt-
anfälligkeit erhöhen. Ein anderer Teilneh-
mer ist ebenfalls beunruhigt: „Was soll ich
nun tun? Weiter das Mittel nehmen?“
Die Deutsche Gesellschaft für Rheuma-
tologie warnt deutlich davor, die Basisthe-
rapie „allein aus Furcht vor einer Infekti-
on“ abzusetzen und weist ausdrücklich
darauf hin, „dass es zur Zeit keine belastba-
ren Daten zum Risiko einer COVID-19-In-
fektion unter laufender immunsuppressi-
ver Therapie gibt“. Deshalb könne es auch
keine evidenzbasierten Empfehlungen da-
zu geben. Etliche Fachverbände raten, kei-
nesfalls Medikamente ohne Rücksprache
mit dem Arzt abzusetzen. Die Erkrankung
selbst ist fast immer gefährlicher ist als die
Therapie.

Noch bevor sie sprechen können, erlernen
Babys offenbar grammatische Regeln. Un-
ter anderem können sie zwischen soge-
nannten Inhaltswörtern wie „Hund“ oder
„fressen“ und Funktionswörtern wie „der“
oder „im“ unterscheiden. Wie Kognitions-
forscher der Université Paris Descartes her-
ausgefunden haben, wissen Babys schon
im Alter von acht Monaten, dass Funktions-
wörter öfter auftauchen als Inhaltswörter
und auch in welcher Reihenfolge diese bei-
den Wortkategorien in ihrer Mutterspra-
che verwendet werden. (Fachjournal:Cur-
rent Biology).
In fast allen menschlichen Sprachen
gibt es eine Aufteilung in Inhaltswörter, zu
denen Nomen („Regenbogen“), Verben
(„fahren“) und Adjektive („grün“) gehören,
sowie Funktionswörter wie Artikel (der),
Personalpronomen (sie) und Präpositio-
nen (auf). Grob gesagt gibt es zwei Möglich-
keiten, diese beiden Wortkategorien in ei-
nem Satz anzuordnen. Im Französischen,
im Englischen und im Deutschen beispiels-
weise stehen die Funktionswörter in der
Regel vor den Inhaltswörtern, etwa in dem
Satz:IchwohneinMünchen. Japanisch
und Baskisch sind dagegen Beispiele für
Sprachen, in denen die Reihenfolge umge-
kehrt ist. Allen Sprachen gemeinsam ist,
dass Funktionswörter kürzer sind und häu-
figer vorkommen als Inhaltswörter.

Zu Beginn des Experiments, an dem 175
acht Monate alte Babys teilnahmen, spiel-
ten die Forscher ihren kleinen Probanden,
die auf dem Schoß eines Elternteils oder ei-
ner anderen vertrauten Person saßen, eine
vier Minuten lange Aufnahme einer Fanta-
siesprache vor. Bestimmte „Wörter“ ka-
men darin häufiger vor als andere – ein ty-
pisches Merkmal für Funktionswörter. Die
Abfolge entsprach der Grammatik im Fran-
zösischen. Nachdem die Babys die neue
Sprache auf diese Weise kennengelernt
hatten, folgten die eigentlichen Tests.
Dabei bekamen die Kinder einzelne Sät-
ze zu hören. In einigen davon waren die
Wortkategorien wie im Französischen an-
einandergereiht, der Muttersprache der
Probanden. Andere hatten dagegen eine
abweichende Struktur, also eine „falsche“
Grammatik. Die Reaktionen der jungen
Probanden waren eindeutig: Fast alle hör-
ten lieber Sätze, in denen die Wörter „rich-
tig“ angeordnet waren. Die Präferenz der
Kinder, die ja noch nicht sprechen konn-
ten, maßen die Wissenschaftler daran, wie
lange sie ein Bild anschauten, dass ihnen
gleichzeitig mit der Audioaufnahme ge-
zeigt wurde. Eine längere Blickdauer inter-
pretierten die Forscher als Zeichen für grö-
ßere Präferenz.
Weitere Experimente zeigten, dass die
Babys großes Interesse an neuen Inhalts-
wörtern der Fantasiesprache hatten. Neu-
en Funktionswörtern schenkten sie dage-
gen viel weniger Aufmerksamkeit. Es habe
den Anschein, als ob die Babys wüssten,
dass es nur eine begrenzte Anzahl von Wör-
tern aus dieser Kategorie geben kann,
schreiben die Autoren der Studie. Bei den
Inhaltswörtern kommen dagegen in leben-
digen Sprachen ständig neue Begriffe da-
zu, wie etwa „Brexit“. Diese Beobachtung
der Kognitionsforscher passt auch zu der
Tatsache, dass Kinder, die soeben anfan-
gen zu sprechen, fast ausschließlich In-
haltswörter benutzen, etwa „Mama“, „Au-
to“ oder „Essen“. Funktionswörter kom-
men meistens erst später dazu.
Doch wie schaffen es Babys, zwischen
den beiden Wörterkategorien zu unter-
scheiden? Nach Ansicht der Studienauto-
ren achten sie darauf, wie oft gewisse Laut-
kombinationen vorkommen, und begrei-
fen irgendwann, dass Funktionswörter
häufiger sind. Schon als Säuglinge erken-
nen sie offensichtlich eine erste Struktur
in dem Kauderwelsch, das die Menschen
in ihrer Umgebung sprechen. tina baier

Falsche Warnungen, echte Medikamente


Während der Corona-Pandemie blühen Spekulationen überangebliche Gefahren gängiger Arzneimittel.


Doch das meiste ist unseriös. Insbesondere chronisch Kranke sollten jetzt bewährte Therapien nicht abbrechen


Da stimmt


doch was nicht


Schon mit acht Monaten reagieren
Babys auf falsche Grammatik

Es sind schlechte
Zeiten für die
evidenzbasierte Medizin

Asthmapatienten sollten ihre
Therapie während der Pandemie
nicht ändern oder gar beenden

Die Kleinen scheinen größeres
Interesse an Inhaltswörtern als
an Funktionswörtern zu haben

Die Medizinische Universität


Wien veröffentlichte umgehend


ein Dementi


(^16) WISSEN Donnerstag, 19. März 2020, Nr. 66 DEFGH
Ibuprofen? Paracetamol? Erwerben kann man klassische Medikamente noch, wie hier in Mailand. Aber sind sie in Corona-Zeiten unbedenklich? FOTO: CARLO COZZOLI / DDP
MUNICH MARKETING WEEK
MUNICH MARKETING WEEK
29 JUNI-
01 JULI
2020
MÜNCHEN
CUSTOMER –
BEEF4BRANDS
Content
meets
experience.
Connecting
the dots.
TA G 1 I 29. JUNI
MARKETING TECH
Was hypt,
was bleibt?
TA G 2 I 30. JUNI
SOCIAL
Wie man
Menschen
zusammen-
bringt.
TAG 3 I 01. JULI
Mehr Informationen und Tickets: shop.wuv.de/ticket-mmw
MUNICH MARKETING WEEK POWERED BY
Marketing
connects!

Free download pdf