Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
von johannes knuth

N


och brennt die olympische Flam-
me. Ein Flieger, der das Feuer aus
Griechenland abholen soll, hob
am Mittwoch in Tokio ab. Das Motto des
Fackellaufs trug er in bronzenen Lettern
auf dem Bug: „Hoffnung leuchtet uns den
Weg.“ Ab dem 26. März soll die Flamme
durch Japan bis nach Tokio getragen wer-
den, am 24. Juli sollen dort die Sommer-
spiele eröffnet werden. Die japanische De-
legation, die ursprünglich zur Übergabe
der Fackel nach Athen reisen wollte, blieb
aber daheim, wegen der Corona-Gefahr.
Selbst den Olympiamachern fällt es zu-
nehmend schwer, Normalität zu simulie-
ren, wo längst keine mehr ist.


Wir befinden uns im Jahre 2020, vier
Monate vor Anbruch der Olympischen
Sommerspiele. Die ganze Welt ringt mit
einer Pandemie, deren Höhepunkt viel-
leicht bald erreicht wird, vielleicht auch
erst im kommenden Sommer oder spä-
ter. Die ganze Welt? Nein, eine von Sach-
verwaltern bevölkerte Zentrale in Lau-
sanne hört nicht auf, unbeugsam Wider-
stand gegen Argumente und Rationalität
zu leisten, zumindest öffentlich. „Das In-
ternationale Olympische Komitee be-
kennt sich weiter voll zu den Spielen
2020 in Tokio“, teilte es am Dienstag erst
wieder mit. Man ermutige auch weiter
alle Athleten, ihre Vorbereitungen fortzu-
setzen, „so gut sie es können“. Abgesehen
davon, dass die Depeschen aus Lausanne
immer mehr an Durchsagen der Deut-
schen Bahn erinnern, die planmäßige An-
künfte versprechen, während eh alle wis-
sen, dass der Zug 45 Minuten später und
mit umgekehrter Wagenreihung eintrifft



  • sie stoßen vermehrt auf scharfe Kritik.
    Ekaterini Stefanidi, die Stabhoch-
    sprung-Olympiasiegerin und Athleten-
    sprecherin im Leichtathletik-Weltver-
    band, sagte jetzt der Agentur Reuters,
    dass das IOC zunehmend die Gesundheit
    der Athleten gefährde. Viele Regierun-
    gen, darunter ihre griechische, raten der
    Bevölkerung derzeit zur Isolation, Trai-
    ningshallen und öffentliche Räume seien
    geschlossen. Durch die Aufforderung, ein-
    fach weiterzutrainieren, fühle sie sich un-
    ter Druck gesetzt, diese Vorschriften zu
    umgehen. Verschärfend komme hinzu,
    dass Konkurrentinnen in anderen Län-
    dern zuletzt noch offene Hallen vorfan-
    den. Das Problem sei dabei weniger, dass
    das IOC auf Zeit spiele, sagte Stefanidi –
    sondern dass es nicht offen kommunizie-
    re, keine alternativen Pläne aufzeige, die
    die Sorgen der Athleten lindern könnten.
    Zuspruch kommt mittlerweile auch
    aus dem IOC: „Diese Krise“, sagte Hayley
    Wickenheiser mit Blick auf das Virus, „ist
    größer als die Olympischen Spiele.“ Wi-
    ckenheiser gewann mit Kanada viermal
    Olympiagold im Eishockey, sie ist mittler-
    weile in der IOC-Athletenkommission
    und „Medizinerin in Ausbildung, die gera-
    de an den Frontlinien der Notaufnahme“
    arbeite. Die dortigen Eindrücke hätten ih-
    re Meinung geändert: Die sture Art, mit
    der das IOC an seinen Plänen für den Som-
    mer festhalte, finde sie „gefühllos und un-
    verantwortlich“. Man kann ihr schwer wi-
    dersprechen: Wie muss man sich vorkom-
    men, in einen Wettstreit um die besten
    Trainingsbedingungen gehetzt zu wer-
    den, während Ärzte in den Krankenhäu-
    sern um Menschenleben kämpfen?


Und das IOC und sein deutscher Präsi-
dent Thomas Bach? Das ließ am vergange-
nen Samstag noch ein gut besuchtes Box-
Qualifikationsturnier in London losrol-
len, das erst am Montag abgebrochen
wurde. Bach, den mancher Verhandlungs-
partner als Sturkopf erlebt hat, vermittel-
te bis zuletzt ohnehin den Eindruck, als
halte er das Olympiageschäft für größer
als einen Virus. Er lobte die weltweiten
Maßnahmen gegen die Pandemie, was
auch die Austragung der Sommerspiele
sichern werde. Tatsächlich bricht durch
die Maßnahmen ja gerade das olympi-
sche Fundament weg: Qualifikationen,
Trainingsmöglichkeiten, die Dopingkont-
rollen, ein fundamentaler Pfeiler des fai-
ren Wettstreits. China hatte seine Tests
zu Beginn des Corona-Ausbruchs bereits
heruntergefahren, zuletzt schlossen Kon-
trolllabore in Spanien, Italien, Kanada.
Die deutschen Tester arbeiten derzeit we-
niger und weniger intensiv, ohne die wich-
tigen Blutkontrollen etwa, weil die dafür
zuständigen Ärzte, klar, anderweitig be-
ansprucht sind, sagte Nada-Chefin An-
drea Gotzmann der Deutschen-Presse-
Agentur: „Die allgemeine Situation ist
weltweit äußerst kritisch.“
Selbst wenn sich die Lage bis Mitte Juli
entspannen sollte: In Tokio würden Athle-
ten unter völlig unterschiedlichen Vorzei-
chen aufeinandertreffen. Der Chor derer,
die eine Absage fordern, hebt da gerade
hörbar an, von Speerwurf-Olympiasieger
Thomas Röhler bis zu Reit-Olympiasiege-
rin Isabell Werth. Auch wenn noch nicht
alle Athleten darin einstimmen wollen.
Weitsicht, Einfühlsamkeit, offene De-
batten: Es sind jedenfalls vor allem die
Athleten, die derzeit das vorleben, was
man von ihrer Führung erwarten sollte.


Frankfurt– Pünktlich um 15 Uhr schlug
am Mittwoch die Stunde des Deutschen
Fußball-Bundes (DFB), als seine prominen-
testen Vertreter in einer Gipfelkonferenz
zusammenkamen, um mit zugeschalteten
Reportern den Stand der Dinge zu bere-
den. Während der Präsident Fritz Keller in
der Zentrale in Frankfurt saß, gesellten
sich in München Sportmanager Oliver Bier-
hoff und in Freiburg Bundestrainer Jogi
Löw hinzu. Es gab viele Fragen an die Her-
ren, aber entsprechend der ungewissen La-
ge wenige verbindliche Antworten.
Die Nachricht des Tages hatte der Ver-
band bereits gegen Mittag bekannt ge-
macht. Die Nationalmannschaft hat ange-
sichts der Coronakrise einen Spendenauf-
ruf gestartet und geht mit gutem Beispiel
voran: Die Nationalspieler um Kapitän Ma-
nuel Neuer spenden 2,5 Millionen Euro für
soziale Zwecke. Über die Plattform „wirhel-
fen.eu“ kann sich jeder Fan an der Aktion
beteiligen, die die Profis über Instagram
bekannt machten.
„Wir müssen aufeinander schauen in
solchen Zeiten“, betonte Neuer, der sich
wie mehrere seiner Kollegen in einer Video-
botschaft an die Fans wandte. „Wir alle
merken, dass wir uns in einer absoluten
Ausnahmesituation befinden. Jeder von
uns ist betroffen“, ergänzte Joshua Kim-
mich: „Deshalb ist es wichtig, dass wir ein-
ander helfen und unterstützen. Wir sollten
uns alle unserer Verantwortung bewusst
sein und Solidarität zeigen.“
Bierhoff berichtete am Nachmittag, die
Initiative sei aus dem Kreis der Mann-
schaft entstanden. Den Anstoß hätten die
langjährigen Nationalspieler Neuer, Marc-
André ter Stegen, Kimmich, Ilkay Gündo-
gan und Toni Kroos gegeben, „es kam ruck-
zuck das Okay“ aus der weiteren Beleg-
schaft. Löw und Bierhoff wollen derweil of-
fenbar finanzielle Zugeständnisse gegen-
über ihrem Arbeitgeber machen.
DFB-Präsident Keller sagte, die beiden
seien „auf uns zugekommen“ und hätten
„angedeutet“, einen Gehaltsverzicht zu ak-
zeptieren. Keller teilte außerdem mit, der
DFB prüfe Hilfsprogramme für die Regio-
nal- und Landesverbände: „Wichtig ist,
dass wir die Struktur von 25000 Vereinen
von der Kreisliga bis zur Bundesliga erhal-
ten.“ Die beiden ausgefallenen Testspiele
in Spanien und in Nürnberg gegen Italien
sollen baldmöglich nachgeholt werden, un-
ter Umständen auch ohne Publikum.

Der Bundestrainer hat im vergangenen
November das bislang letzte Länderspiel
des DFB-Teams moderiert. Durch die Stor-
nierung der Testspiele und durch die Ver-
schiebung der Europameisterschaft im
Sommer wird er weitere Monate darauf
verzichten müssen, seiner eigentlichen Tä-
tigkeit als Fußball-Lehrer nachzugehen.
Löw bezeichnete die Absagen aber als „völ-
lig richtig und völlig alternativlos“.
Die sportlichen Auswirkungen könne
er nicht beurteilen: „Ob das ein Nachteil
oder ein Vorteil für uns ist, dass wir das Tur-
nier erst nächstes Jahr bestreiten, das
kann ich nicht beurteilen. Es gibt zu viele
Unwägbarkeiten und Ungewissheiten.“ Er
sei, sagte Löw, im Hinblick auf die EM zu-
versichtlich gewesen: „Wir haben es trotz
der Verletzungen und einiger Probleme ge-
schafft, eine gute Mannschaft zu entwi-
ckeln und die Qualifikation vor den Hollän-
dern zu gewinnen“, sagte er. Der Trainer-
stab habe sich gut vorbereitet auf die letz-
ten Monate vor dem Turnier: „Wir hätten
gute Lösungen gehabt für unsere jungen
Spieler, die nicht am oberen Level ihrer
Leistungsfähigkeit sind und sicher noch
zwei, drei Jahre brauchen.“ Ein Vorteil sei,
dass Niklas Süle und Leroy Sane nun mehr
Zeit bekämen, ihre Verletzungen auszuku-
rieren, bevor sie wieder zum DFB-Team
hinzukämen.
Insgesamt bedauerte Löw aber die Ab-
sage: „Ich habe in der Mannschaft sehr viel
Motivation und Vorfreude gespürt, im No-
vember merkte man, dass ein besonderer
Spirit herrscht und uns ein unsichtbares
Band zusammenhält. Wir wären jetzt be-
reit gewesen. Wie das im kommenden Jahr
ist, kann ich nicht sagen, aber das ist im Mo-
ment auch nicht wichtig.“ Löw hob stattdes-
sen hervor, auch für ihn sei nun Ruhe die
erste Bürgerpflicht: „Ich versuche, so gut
es geht, soziale Kontakte zu vermeiden,
und bewege mich nur im Kreis engster
Freunde und der Familie. Zuhause bleiben,
in mich gehen und nachdenken“, dies sei
nun sein tägliches Programm, „nur zum
Spazierengehen und Fahrradfahren gehe
ich raus“. Die Welt, sagte der Bundestrai-
ner, habe durch das Virus „einen kollekti-
ven Burnout erlebt“. philipp selldorf

DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020 HMG 25


Zürich– Die Fifa hat am Mittwochabend,
wie erwartet, die Verschiebung der Europa-
meisterschaft und der Südamerika-Meis-
terschaft (Copa America) in das Jahr 2021
abgesegnet. Der Rat des Fußball-Weltver-
bands stimmte bei einer Telefonkonferenz
dem veränderten Turnierkalender einstim-
mig zu. Die Uefa hatte am Dienstag be-
schlossen, die für diesen Sommer geplante
EM wegen der Corona-Krise um exakt ein
Jahr zu verlegen. Die ursprünglich für den
Juni und Juli 2021 vorgesehene Klub-WM
im neuen Großformat – das derzeit größte
Reformprojekt der Fifa – wird daher auf ei-
nen späteren Zeitpunkt verschoben. sid

Berlin –Man könnte den Eindruck haben,
dass die Verantwortlichen des Fußballs im
Zuge der Corona-Krise längst alle potenzi-
ellen Szenarien durchgespielt haben. Und
dann kommt ein Thema auf, bei dem sie
doch erstaunlich überrascht wirken. Am
Dienstagabend war das der Fall. Da stellte
sich Spaniens Verbandschef Luis Rubiales
in der Zentrale der RFEF in Las Rozas einer
Videopressekonferenz, es erging an ihn ei-
ne Erkundigung, die ihn stutzen ließ. „Ei-
ne interessante und intelligente Frage ...“,
entgegnete er und wirkte dabei, als wolle
er erst mal Zeit gewinnen. Ohne Erfolg, üb-
rigens; er ließ die Frage im Grunde unbe-
antwortet. Sie lautete: Was passiert mit
den Profifußballer-Verträgen, die zum


  1. Juni 2020 auslaufen? Unter normalen


Umständen hätte die Antwort gelautet: Sie
laufen halt aus. Aber die Umstände sind
alles, nur nicht normal.
Dass diese Debatte um den berühmtes-
ten Stichtag der Fußballvertragswelt auf
die Profiklubs zurollt, liegt auch daran,
dass alle europäischen Spitzenligen, darun-
ter die deutsche DFL, vor dem gleichen Pro-
blem stehen – Corona – und die gleiche Lö-
sung anvisieren: Sie wollen die laufende
Saison zu Ende spielen.
Durch die Verschiebung der Europa-
meisterschaft, die von der europäischen
Fußballunion (Uefa) am Dienstag beschlos-
sen wurde, ist auch dafür Zeit gewonnen
worden. Der Sommer ist frei, um Spielta-
ge, die jetzt gerade ausfallen, nachzuho-
len; die Europameisterschaft sollte be-
kanntlich am 12. Juli 2020 in London en-
den und wird nun nicht vor Juni 2021 begin-
nen. Auch die Uefa erkannte letztlich die
Notwendigkeit an, erst mal das Brot-und-
Butter-Geschäft der Klubs zu retten, ehe
an die Nationalmannschaften gedacht
wird. Im Notprogramm der Uefa heißt es,
dass „die maximale Anstrengung unter-
nommen wird, alle nationalen und europäi-
schen Klubwettbewerbe zum Ende der Sai-
son zu beenden, das heißt: zum 30. Juni
2020“. So weit, so gut. Doch solange nie-
mand weiß, wann der Spielbetrieb wieder
aufgenommen werden kann, ist es auch
unmöglich zu sagen, wann er beendet wer-
den könnte.
Auch die Umstände, unter denen die Sai-
son fortgesetzt werden könnte, sind un-
klar. Eine Reihe von Mannschaften könnte
unter Quarantäne gestellt werden. Spani-
ens Verbandschef Rubiales war am Diens-
tag nur in einer Frage deutlich: Man wird
die Saison zu Ende spielen. „Möglichst“ bis
zum 30.6.2020. Aber: Dieses Datum „darf
keine unüberwindbare Mauer sein“, beton-

te er. Was nicht infrage komme, sei ein Sai-
sonabbruch mit der aktuellen Tabelle,
denn das „wäre eine gigantische Ungerech-
tigkeit“ gegenüber allen Mannschaften,
die Optionen haben auf Rettung, Europa-
Qualifikation, Meisterschaft. Eine Annul-
lierung der Saison komme auch nicht infra-
ge, erst recht nicht ein nachträglich erklär-
tes Saisonende per Hinrundenschluss, was
ja immerhin den Charme gehabt hätte,
dass jeder ein Mal gegen jeden gespielt hät-
te. Eine Aufstockung der Liga 2020/21 kom-
me auch nicht infrage. Die Argumentation
von Rubiales besagt, dass alle Alternativ-
modelle zum Versuch, die Saison zu Ende
zu spielen, „die „sportliche Integrität infra-
ge“ stellen. Was zurück zum Stichtag führt,
zum 30. Juni. Denn mit Blick auf die Ver-
tragssituation ginge es wohl erst recht um
Fragen der sportlichen Integrität.
Laut Branchendienst Transfermarkt.de
sitzen 72 von rund 600 Lizenzspielern der
Fußballbundesliga auf Verträgen, die im
Juni enden; derSpiegelberichtet, die echte
Zahl liege in der ersten und zweiten Liga
bei jeweils 200. Die Differenz kann auch da-
her rühren, dass einige Vereine per Option
Verträge verlängern können beziehungs-
weise eine Reihe von Leihspielern wie Phi-
lippe Coutinho (eigentlich FC Barcelona,
derzeit FC Bayern) nicht berücksichtigt
sind. Es sind eine Reihe von Leistungsträ-
gern wie Charles Aránguiz (Bayer 04 Lever-
kusen), aber auch viele Mitläufer darunter.
Die Vereine mit den meisten auslaufenden
Verträgen in ihren Reihen sind laut Trans-
fermarkt.de Fortuna Düsseldorf mit zehn
und der 1. FC Union Berlin mit elf Spielern.
Wie stünde es um die sportliche Integrität,
wenn eine Saison ohne die Spieler beendet
werden müsste, mit der sie begonnen hat-
te? Rechtlich scheint die Lage klar zu sein:
Wenn ein Spieler nach dem 30.6. weg will,

kann man ihm das kaum verwehren. Und
manch ein Klub wird von sich aus gezwun-
gen sein, Spieler zu verkaufen, um nach
dem Corona-Schock liquide zu bleiben.
Mutmaßlich zu fallenden Preisen.
Und womöglich nach zumindest vorläu-
figen Regeländerungen. Nachdem diverse
Verbände mit der Idee eines einstweiligen
Transferverbots um die Ecke kamen, teilte
der Weltverband Fifa am Mittwochnach-
mittag mit, dass Änderungen oder vorüber-
gehende Ausnahmen der geltenden Trans-
ferbestimmungen geprüft werden.
Oliver Mintzlaff, Geschäftsführer des
Bundesligaspitzenklubs RB Leipzig, ist
sich jetzt schon sicher: „Es wird im Som-
mer kein Transferfenster wie in der Vergan-
genheit geben.“ javier cáceres

von johannes aumüller

Bellinzona/Frankfurt– Der Ort, der ver-
sprach, die dunklen Geheimnisse des Som-
mermärchens aufzuklären, sieht schon trü-
gerisch aus. Von vorne wirkt das Bundes-
strafgericht in Bellinzona durchaus wie ein
prächtiges Gebäude. Wer sich aber von der
Seite nähert, der sieht, dass sich hinter der
Front mit seinen auffälligen Rundbögen
nicht viel Fläche verbirgt. Es sei nur eine
Fassade wie in einem schlechten Film, lau-
tet dazu der Standard-Spott von langjähri-
gen Beobachtern der Schweizer Justiz. Und
es wirkt nun auch so, als liefe in diesem Ge-
bäude rund um die ungeklärten Millionen-
Zahlungen vor der deutschen Fußball-WM
2006 ein schlechter Film.
Am Dienstagabend teilte das Gericht
mit, dass es den ohnehin unterbrochenen
Prozess bis 20. April aussetzt. Bereits am


  1. April verjährt das Delikt. Der formale
    Grund für die Vertagung sind die vielfälti-
    gen Folgen der Corona-Krise und das Not-
    standsdekret in der Schweiz. Aber tatsäch-
    lich verbirgt sich in diesem Beschluss noch
    etwas Gravierenderes: Das Betrugsverfah-
    ren gegen die früheren DFB-Funktionäre
    Theo Zwanziger, Horst R. Schmidt und
    Wolfgang Niersbach sowie gegen den ehe-
    maligen Fifa-Generalsekretär Urs Linsi ist
    auch inhaltlich explodiert. Weil das Ge-
    richt die Arbeit der Ermittler der Bundesan-
    waltschaft (BA) vernichtend beurteilt und
    gravierende Mängel attestiert.
    Der zentrale Grund dafür ist das innige
    Verhältnis des BA-Chefs Michael Lauber
    zum Fußball-Weltverband und zum Fifa-
    Präsidenten Gianni Infantino. Anfang
    März publizierte die Aufsichtsbehörde der
    Bundesanwaltschaft den Bericht zu einem


Disziplinarverfahren gegen Lauber. Nun
teilte das Gericht in Bellinzona in einer et-
was umständlichen Juristenprosa mit, die-
ser Bericht hätte „Umstände zu Tage (ge-
bracht), die umfassende Beweisverwer-
tungsverbote zur Folge haben könnten“.
„Umfassende Beweisverwertungsverbo-
te.“ Anders gesagt: Viele Ermittlungsschrit-
te wären nichtig, auch wenn das Gericht
nicht genau mitteilt, um welche konkret es
sich handelt. Noch anders gesagt: BA-Chef
Lauber und Fifa-Boss Infantino haben mit
ihrem Verhalten das Sommermärchen-Ver-
fahren abgewürgt. So wie dies auch schon
mit anderen Verfahren im sogenannten
Fußball-Komplex passiert ist.
Der Fall, der einmal das große Prestige-
projekt Laubers und seiner Behörde war,
erweist sich nun als einziges Debakel.

Es ist bis heute das große Rätsel, warum
sich Lauber auf ein derart enges, zerstöreri-
sches Band mit Infantino eingelassen hat.
Die Fifa ist im Sommermärchen-Verfah-
ren und in allen anderen Fällen des Fuß-
ball-Komplexes Privatkläger. Dennoch ka-
men Lauber und Infantino regelmäßig zu
nicht protokollierten Geheimtreffen zu-
sammen. Mindestens drei Zusammen-
künfte mitsamt ihrer jeweiligen Gefolgs-
leute gab es. Ein besonders merkwürdiges
Treffen ereignete sich im Juni 2017 – alle
Teilnehmer vergaßen es kollektiv.
Seine Wiederwahl konnte Lauber gera-
de so erreichen, aber auf die Verfahren hat-
te das Ganze großen Einfluss. Das steigerte

sich, als die Aufsichtsbehörde am 2. März
ihren 48-seitigen Disziplinarbericht zu
Lauber publizierte. Der war zwar teilweise
geschwärzt, brachte aber trotzdem neue Er-
kenntnisse. Zum Beispiel tauchte im Um-
feld des Treffens im Juni 2017 noch eine
fünfte Person auf, ohne dass diese mit Klar-
namen bekannt war. Die Anwälte der Be-
schuldigten forderten das Gericht auf, das
Original zu besorgen, und am zweiten Ver-
handlungstag erhielten sie tatsächlich ei-
ne andere Version des Berichtes.
Die ist dem Vernehmen zwar immer
noch an zahlreichen Stellen geschwärzt,
unter anderem an der zum ominösen fünf-
ten Mann. Aber andere brisante Passagen
sind es nach SZ-Informationen nicht
mehr. So soll es etwa heißen, dass die Fifa
aufgrund einer Vereinbarung aus der An-
fangszeit der 2015 begonnenen Ermittlun-
gen „eine faktische Mitherrschaft über das
Verfahren“ inne habe. Auch hätten „zweier-
lei Aktenkategorien“ existiert.
Das Bundesstrafgericht moniert die Ar-
beit der Ermittler noch aus einem anderen
Grund. Die beschuldigten Ex-DFB-Funkti-
onäre Zwanziger und Schmidt waren we-
gen ihres Gesundheitszustands gar nicht
zur Prozesseröffnung vor einer Woche ge-
kommen. Noch hat das Gericht nicht ent-
schieden, ob es das Fehlen als entschuldigt
wertet oder nicht. Nur ist das auch nicht
mehr so relevant. Denn es kann gegen Per-
sonen, die unentschuldigt fehlen, zwar ein
Verfahren in Abwesenheit geben – aber
nur, wenn bestimmte Voraussetzungen er-
füllt sind. Und das „scheint nicht der Fall
zu sein“, wie das Bundesstrafgericht in sei-
nem Beschluss festhält.
Schmidt habe im Verfahren keine Gele-
genheit gehabt, sich zu äußern. Bei Zwanzi-

ger sei die Beweislage „hinsichtlich der sub-
jektiven Tatseite“ diffus. Denn er bestreite
die Vorwürfe, und „die belastenden Aussa-
gen Dritter (insbesondere Schmidt)“ seien
nicht verwertbar. Sollte der Prozess doch
noch weitergehen, kann es also sein, dass
es weniger Beschuldigte gibt. Dies sind be-
merkenswerte Einlassungen des Gerich-
tes. Aber warum gelangt es erst jetzt zu die-
ser Ansicht? Immerhin lag ihm die Ankla-
ge seit August zur Prüfung vor. Es ließ sich
viele Monate Zeit und hielt nach der Eröff-
nung in der Vorwoche ein paar skurrile Ver-
handlungstage ab, an denen es fast nur
ums Coronavirus und Arzt-Atteste ging.
So ein Finale passt freilich gut zum Ab-
lauf des Verfahrens. Die Kernfigur der Affä-
re ist ja der damalige WM-Chef Franz Be-
ckenbauer, doch das Verfahren gegen ihn
wurde abgetrennt. Vor Gericht stehen nur
die vier kaiserlichen Ausputzer, die ihre Un-
schuld beteuern. Sie sollen den DFB ge-
schädigt haben, als 2005 im April 6,7 Millio-
nen Euro via Fifa an den früheren Adidas-
Chef Robert Louis-Dreyfus flossen. Dieser
hatte das Geld drei Jahre zuvor Beckenbau-
er geliehen, das mit bis heute ungeklärtem
Zweck beim Fifa-Skandalfunktionär Mo-
hammed bin Hammam in Katar landete.
Möglicherweise ruft das Gericht die Be-
teiligten noch einmal zusammen, wenn
sich bis zum 20. April die Corona-Lage im
Tessin geändert haben sollte. Möglicher-
weise verschiebt sich sogar das Verjäh-
rungsdatum ein wenig, weil einige Schwei-
zer Juristen wegen des herrschenden Not-
stands-Dekrets die Fristen verändern wol-
len. Aber selbst falls es weitergeht, wäre we-
gen des Verhaltens der Bundesanwalt-
schaft nur noch die Fortsetzung eines
schlechten Films zu erwarten.

SPORT


Die Welt, sagt Löw, habe „einen
kollektiven Burnout erlebt“

Fifa genehmigt


Verlegung der EM


IOC

Der Chor


wird lauter


„Diese Krise“, sagt Hayley


Wickenheiser, „ist größer


als die Olympischen Spiele.“


Thomas Bach wirkt,


als halte er das Olympiageschäft


für größer als einen Virus


Der verzwickte 30. Juni


Im Sommer steht wieder der berühmteste Stichtag der Fußballvertragswelt an – angesichts Corona ist diesmal vieles unklar


Debakel in Bellinzona


Der Schweizer Sommermärchen-Prozess um die ungeklärten Millionenzahlungen vor der WM 2006 ist
nicht mehr zu retten. Das Gericht kommt zu einer vernichtenden Bewertung für die Arbeit der Strafermittler

„Beweisverwertungs-Verbote“
drohen – wegen der engen Bande
zwischen Lauber und Infantino

Löw verzichtet


auf Gehalt


Nationalspieler spenden –
ernste Worte des Bundestrainers

Leihspieler von Bayer 04 Leverkusen:
Charles Aránguiz. FOTO: JAN HUEBNER / IMAGO

Leihspieler des FC Bayern München: Phi-
lippe Coutinho. FOTO: PHILIPPE RUIZ / IMAGO

Die Kernfigur der WM-Affäre, Franz Beckenbauer (links), stand gar nicht vor Gericht – der frühere DFB-Grande Horst R. Schmidt schon. FOTO: B. SETTNIK / DPA
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