Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 FORSCHUNG UND TECHNIK


der medikamentösen Drosselung der
Immunantwort keinen Erfolg gebracht.
Das stimmt nicht gerade optimistisch.
Das ist leider so. Aus Spanien haben
wir aber Berichte erhalten, die klinisch
eineWirkung vonActemra beobachtet
haben.

Eineweitere Strategie ist der Einsatz
von Serum von genesenen Covid-19-
Patienten.Können die aus dem Blutge-
wonnenen Antikörper schwer Erkrank-
ten helfen?
Ich kann mir sogar vorstellen, dass das
besonders wertvolle Medikamente sein
werden. Denn siekönnen dieVirusrepli-
kation spezifisch verhindern.

Verwenden Sie diesen Ansatz inBasel?
DieKollegen des Blutspendezentrums
sind daran, Blutseren von Spendern zu
gewinnen.Wir hoffen, dass wir in ein bis
zweiWochen die erstenPatienten damit
behandelnkönnen.Auch dieseTherapie
wollen wir nicht spät im Krankheitsver-
lauf geben, sondern in dem Moment, wo
sicheineVerschlechterung ankündigt.

Was für Spender nehmen Sie?
Schwer Erkrankte sind ungeeignet.
Denn ihr Immunsystem hat zu schwach,
zu spät oder nicht spezifisch genug auf

dasVirusreagiert.Wir nehmen deshalb
jüngerePersonen, die die Infektion ohne
grössere Probleme überwundenhaben.
Bei solchenPatientenkonntenForscher
nachweisen, dass dieVirusreplikation
imKörper innerhalb von 7 bis 14 Tagen
massiv heruntergedrückt wird undkein
kultivierbaresVirus mehr vorhanden ist.

Wie kommen Sie zu Ihren Spendern?
Personen, die sich bei uns auf Sars-
CoV-2 testen lassen, werden darüber
informiert, dass sie nach durchgemach-
ter Erkrankung möglicherweise für eine
Blutspendeangefragt werden.

Setzen Sie inBasel die experimentel-
len Therapien bei Covid-19-Patienten
im Rahmen von Studien oder als indi-
viduelle Heilversuche ein?
Solange es noch keine Studienpro-
tokolle gibt, geben wir die Mittel auf
derBasis des einzelnenPatienten.Das
haben wir auch zu Beginn von Aids so
gemacht. Wir können nicht auf Studien
warten.Aus medizinethischer Sicht sind
wir verpflichtet, aufBasis von Analo-
gi eschlüssen undLabordaten diejeni-
gen Medikamente einzusetzen, die
einen Nutzen versprechen.Wichtig ist
aber, dass wir von Anfang an bei den
Behandelten allerelevanten klinischen
und labortechnischenDaten in anony-
misierter und aggregierterForm aufneh-
men. Nur sokönnen wir es sehen, wenn
eine Substanz besseristals eine andere.

Was Sie fürBasel skizziert haben:
Gilt das auch für andere Schweizer
Universitätsspitäler?
Wir benützen die gleichen,von der
Schweizerischen Gesellschaft für Infek-
tiologie herausgegebenen Behandlungs-
richtlinien. Zudem tauschen wir unsregel-
mässig inTelefonkonferenzen über unsere
Erfahrungen und weltweite Studien aus.

Die Weltgesundheitsorganisation will
eine Studie namens «Solidarity» star-
ten. Damit sollendie vier vielverspre-
chendsten Therapienrasch anTausen-
den Patienten geprüftwerden. Werden
die Schweizer Spitäler da mitmachen?

Bestimmt,ich unterstütze diese Initia-
tive sehr.

Die Studie sieht keine Placebo-Gruppe
vor. Damit genügt sie nicht den höchs-
ten wissenschaftlichen Standards. Ist das
ni cht problematisch?
Es ist das einzig richtigeVerhalten. Denn
wir müssenjetzt versuchen, Leben zuret-
ten.Wenn wir jetzt extrem formalistisch
sind, dannkommen wir nicht schnell
genug voran. Bedenken Sie, dass auch
di e randomisierte, kontrollierte Studie
mit Placebo-Arm als höchster wissen-
schaftlicher Standard nicht frei von Pro-
blemen ist. So gibt es neben Einschluss-
auchAusschlusskriterien.Das heisst, Sie
müssen diePatienten selektionieren.Da-
durch verlieren Sie einenTeil der Gene-
ralisierbarkeit.

Neben der WHO haben auch dieFran-
zosen eine Grossstudie für europäische
Spitäler geplant. Sollte man sich nicht
besser auf eine Initiative einigen?
Es ist wichtig, möglichst viele Initiati-
ven zu haben. Das erhöht die Chancen,
dass etwas für diePatienten Gutes her-
auskommt.Auch in der HIV-Forschung
gab es neben grossen, weltweitenStu-
dien immer auch andere Initiativen wie
die der schweizerischen HIV-Kohorten-
studie. Mit einer Beobachtungsstudie
konnten wir1997 erstmals zeigen, dass
sich die Mortalität unter antiretroviraler
Kombinationstherapie um siebzig Pro-
zentreduziert.

Etwas ganz anderes: Der gegenwärtige
Covid-19-Ausbruch wird irgendeinmal
vorbei sein.Doch das Virus könnte im
Spätherbstin einer zweitenWelle zu-
rückkommen.Was müssen wir tun, da-
mit wir einen zweiten wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Shutdown ver-
hindern können?
Wir sollten dann möglichstviel tes-
ten, auch um zu wissen, wie dieDurch-
seuchung in der Bevölkerung ist.Das
sollte mit den neuen Schnelltests, die
schon bald auf denMarktkommen
dürften, einfacher werden. Mit einem
konsequenten Contact-Tracing sollten

neueAusbruchsherderasch identifi-
ziert und eingedämmt werdenkönnen.

Sollten wir für das Contact-Tracing
auch Handydaten einsetzen?
Wir sollten alle uns zurVerfügung ste-
henden Mittel ausschöpfen. Schon heute
sollten wir digitale Monitoring-Instru-
mente verwenden. Denn sie helfen uns,
schneller zureagieren.

Könnte das nicht dieTür Richtung Über-
wachungsstaat öffnen?
Dahabe ichkeine Angst. In der Schweiz
wird die Bevölkerung in die Entscheidung,
ob wir solcheTechnologien einsetzen
wollen, einbezogen.Wenn solcheDaten
einem guten Zweck dienen, dann sehe ich
keine Probleme, zumal es ja für das Moni-
toring anonymisierteSysteme gibt.

Sie haben kürzlich im Fernsehen gesagt,
Bilder wie jene aus den Intensivstatio-
nen Norditaliens hätten Sie in Ihrer ge-
samtenBerufskarriere noch nie gesehen.
Werden wir mit den ergriffenen Mass-
nahmen solche Bilder in der Schweiz
verhindern können?
Ich habeVertrauen, dass wir das schaf-
fen werden. Denndie Intensivmediziner
leisten in der Schweiz hervorragende
Arbeit.Auch die Kapazität der Intensiv-
plätze ist auf einem hohen Niveau und
wird laufend ausgebaut. In vielen Kan-
tonen gibt es ausserdem Initiativen, mit
denen sehrrespektvoll in dieWege ge-
leitet wird, dass sich hochbetagte Men-
schen überlegenmögen,ob Sie bei einer
schweren Erkrankung noch intensiv-
medizinischbehandelt werden möchten.

Ist das ein Plädoyer für diePatienten-
verfügung?
Wir sollten den Menschen die Möglich-
keit geben, sichrechtzeitig zu äussern,
was sie im Ernstfall wünschen.Das ist
nicht nur aus ethischer Sicht geboten.
Es erlaubt auch einen sinnvollen Ein-
satz derRessourcen. Sokönnen wir es
hoffentlich vermeiden, in die Situation
zukommen, dass wir einzelnenPatien-
ten die intensivmedizinische Behand-
lung verwehren müssen.

Wer nach einer Infektion mitSars-CoV-2 an einer Lungenentzündung erkrankt, braucht Spitalpflege. Ansichtaus der Intensivstation desTriemlispitals in Zürich. SIMONTANNER / NZZ

Arzt und


Virusspezialist


ManuelBattegay (60) ist
Chefarzt der Klinik für
Infektiologie und Spital-
hygiene am Universitäts-
spitalBasel. Der inBasel
aufgewachsene Mediziner
undForscher beschäftigt
sich seitJahren mitViruserkrankungen.
So trägt schon seine Habilitationsschrift
von 1997 den Titel «Immunbalance
und dieVirus-Wirt-Interaktion». Beim
Thema HIV/Aids hat er auf europäi-
scherEbene massgeblich an den Be-
handlungsrichtlinien mitgearbeitet.

Ozonlochüber


der Arktis ist so


gross wie noch nie


Stärke und Dauer
des Polarwirbels als Grund

SVEN TITZ

Über der Arktis hat sich in denletz-
ten Monaten das erste Mal ein echtes
Ozonloch aufgetan.Das zeigen euro-
päische und amerikanische Satelliten-
messungen.Für die Arktis wurde da-
mit ein neuerRekorderreicht. Die Ur-
sachen sind einextrem starker und
beständigerPolarwirbel in der Strato-
sphäre und die nach wie vor erhöhte
Konzentrationvon ozonzerstörenden
Substanzen in der Atmosphäre.
Wissenschafter beschreiben die Di-
cke der Ozonschicht anhand der «Dob-
son-Einheit». Sie repräsentiert die
Menge an Ozonin einer vertikalen
Luftsäule. In diesemWinter sei in der
Arktis erstmals flächig und über meh-
rereTage der Schwellenwert von 220
Dobson-Einheiten unterschritten wor-
den,berichtet Martin Dameris vom
Institut für Physik der Atmosphäre in
Oberpfaffenhofen, das zum Deutschen
Zentrum für Luft- undRaumfahrt ge-
hört. In den früherenRekordjahren
1997 und 2011 sei das nuran einzelnen
Punkten undTagen derFall gewesen.

Kollapsdes Polarwirbels


Der gegenwärtige Ozonabbau über der
Arktis erinnert eher an das Ozonloch
über der Antarktis. Die Unterschrei-
tung des Schwellenwerts ist auch des-
halb so bedeutsam, weil er zur Defini-
tion des südpolaren Ozonlochs verwen-
det wird: Liegt die Ozonmenge unter
220 Dobson-Einheiten, sind ungefähr
30 Prozent des Ozons verschwunden.
Ausschlaggebend für den ausser-
gewöhnlich starken Ozonabbau in die-
semWinterhalbjahr war lautDameris
die Stärke undDauer desPolarwirbels
über der Arktis.Seit AnfangJanuar
habe derWirbel zentriert über dem
Nordpol gelegen und die Luftvon der
Wärme ringsum isoliert. In derPolar-
nacht sank dieTemperatur in 20 Kilo-
meter Höhe dann allmählich bis auf
minus 80 Grad Celsius. Das ist der
Schwellenwert,ab dem sich die optisch
reizvollenPerlmuttwolken bildenkön-
nen. In diesenWolken wird das Ozon
chemisch vernichtet, sobald die Sonne
wieder den Horizont überschreitet.
In spätestens zehnTagen, sagtDame-
ri s, werde derPolarwirbel nicht mehr zu
sehen sein.Das geht ausVorhersagen
des stratosphärischenWetters hervor.
DerPolarwirbelkollabiert typischer-
weise imLaufe desFrühlings. Dann ver-
mischt sich die wärmere Luft niedriger
Breiten mit der kalten Luft im hohen
Norden, und die Bedingungen für Ozon-
abbau sind nicht mehr erfüllt.
Eine Gefahr für die Menschen geht
von demarktischen Ozonloch nicht
aus. Dafür sind die Gebiete mit stark
geschwächter Ozonschicht in derRegel
viel zu weit von Siedlungen entfernt.

Die Rolledes Wetters


Forscher hatten damit gerechnet, dass
selteneWetterbedingungen über der
Arktis gelegentlich zu einem starken
Ozonverlust führenkönnen.Tr otzdem
kam die Stärkedes Ozonlochs fürDa-
meris in diesem Jahr überraschend.
Denn seit demJahr 20 00 ist dieKon-
zentration ozonzerstörender Substan-
zen in der Atmosphäre um 20 Prozent
zurückgegangen. Dass trotzdem ein
neuerRekorderreicht wurde, demons-
triert, wie stark die aussergewöhnlichen
Wetterbedingungen zudem diesjährigen
Ozonabbau beigetragen haben.
Dank dem MontrealerProtokoll
von 1987 und den Nachfolgeabkom-
men zum Schutz der Ozonschicht
dürfte der Gehalt an ozonzerstören-
den Substanzen in Zukunft weiter sin-
ken. Zu den wichtigsten dieser Sub-
stanzen zählen die Fluorchlorkohlen-
wasserstoffe. Das aktuelle Phänomen
zeigtallerdings: Noch über mehrere
Jahrzehnte wird bei extremenWet-
terbedingungen ein starker Ozonabbau
über der Arktis möglich bleiben.

«Wir sollten


den Menschen


die Möglichkeit geben,


sich mittels ei ner


Patientenverfügun g


rechtz eitig zu äussern,


was sie im Ernstfall


wünschen.»


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