Berliner Zeitung·Nummer 72·Mittwoch, 25. März 2020–Seite 17*
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Feuilleton
„DieStimmungunsgegenüberwarfeindlich.“
ZumToddesehemaligenDefa-StudioleitersJochenMückenbergerSeite
„DiePolarisierungwirdzunehmen“
DerSoziologeSighardNeckelüberdieKrisenachderCoronakriseundwasdagegenzutunist
E
inWissenschaftler wieSig-
hardNeckelmussaucherst
einmal damit fertig wer-
den, plötzlich vielZeit zu
haben. DerBetrieb an derUniversi-
tätiststillgelegt,VorträgeundKonfe-
renzen sind abgesagt.EinInterview
zur Lage kommt demSoziologen,
der sich wiewenige mit demWech-
selspiel vonÖkonomie undKultur
beschäftigt,geradegelegen.
HerrNeckel,überdiegesundheitspo-
litischenSchreckensszenarienhinaus
zeichnet sich eineKatastrophe nach
der Katastrophe ab.Die Erschütte-
rungenandenBörsenlassenFirmen-
pleiten, Arbeitsplatzverluste und an-
dereexistenzielleGefährdungen er-
ahnen.WagenSieeinePrognose?
Manbraucht keinHellseher zu
sein, um mit einem ökonomischen
Schock zurechnen, der alleWirt-
schaftskrisen nach dem Zweiten
Weltkrieg in den Schatten stellen
kann. Wenn der Kollaps länger an-
hält, brechen dieweltweitenWert-
schöpfungsketten auseinander und
dieMärktefrierenein,weiles weder
AngebotnochNachfragegibt.
AberesgibtBörsianer,diegeradesehr
aktivsind.
Schwerreiche Hedgefonds wie
Bridgewater wissen schon, warum
sie mit Milliardensummen auf den
Absturzdes Aktienmarkts und den
Zusammenbruchvielerverwundba-
rerFirmen wetten. Hier deutet sich
eine Entwicklung an, die denCo-
rona-Schock möglicherweise von
anderen schweren ökonomischen
EinbrüchennachKriegenoderKata-
strophen unterscheidet.Daswaren
häufig Ereignisse,die aufgrundvon
Kapitalvernichtung und weil zu-
gleichdieNachfragewuchs,dieUn-
gleichheit insgesamt eher etwasre-
duzierthaben, wie Thomas Piketty
in seinenStudien gezeigt hat. Nach
Corona könnte eintreten, dass auch
unter den Großen nur diejenigen
überleben, deren hohesVermögen
auf Wertschöpfung nicht angewie-
sen ist, während ein langerShut-
down zu massenhaftenInsolvenzen
und Jobverlusten führt, weil die
Leute weder investieren noch kon-
sumieren noch arbeiten können.
Dersowieso schon bestehende
TrendzurPolarisierungderSozial-
strukturwürdedanndurchdieDe-
ckegehen.
Es war während der Finanzkrise
kaummöglich,dieWettenvonHed-
gefondsgegenWährungenoderKon-
zernezu verhindern.Dasscheintsich
nunzuwiederholen.Gibtes Mittelge-
gensolchzynischesMarktverhalten?
Natürlichgäbeessie,sieliegenin
unserer politischenHand. DieWet-
ten derHedgefonds operieren mit
sogenanntenLeerverk äufen,dieuns
schon bei derFinanzkrise 2008 mit
inden Abgrundgerissenhaben.Da-
beileihtmansichgegengeringeGe-
bührenbeiFondsgesellschaftenent-
sprechende Aktienpakete aus und
verk auftsieanderBörseindemKal-
kül,siezueinemspäterenZeitpunkt
viel günstiger wieder einzukaufen.
DaswirdLeerverk äufegenannt,weil
man Aktienverk auft, die man ei-
gentlich gar nicht besitzt, und die
nur fürWetten auf fallendeKurse
eingesetzt werden. Allein gegen
Dietmar Hopps Softwarekonzern
SAPsollen940MillionenEuroinAn-
schlaggebrachtwordensein.DieFi-
nanzminister der EU könnten das
verhindern.DochbereitsimGefolge
der Krisevon2008 wurden Leerver-
käufenurteilweiseundnurzeitwei-
liguntersagt.
Beider Finanz- und bei derFlücht-
lingskrise wurde stets bekräftigt, auf
europäischeLösungensetzenzuwol-
len.WarumistdieEUinderCorona-
KriseeinsolcherTotalausfall?
Ichweißnicht,obmandassoge-
nerell sagen kann.DieEuropäische
Zentralbank zumBeispiel hat nach
anfänglichem Zögerndas Richtige
gemacht und angekündigt, mit ei-
nem Notprogramm Anleihen im
Umfang von750 MilliardenEuro
aufzukaufen, um damit dieZinsen
zu drücken, zu denen sichStaaten
und Unternehmen verschulden
können.Entscheidendwirdsein,ob
man bei billigen Krediten für ein-
zelne Mitgliedsländer bleibt, was
aber deren Schulden erhöht und zu
einer neuenEurokrise führen kann.
Oder ob man denRettungsschirm
für alle Länder gemeinsam auf-
spannt. Undwas die gemeinsamen
Maßnahmen gegen diePandemie
betrifft,sofälltunsaufdieFüße,dass
diepolitischeIntegrationderEUzu-
letzt so unterBeschuss stand:Ge-
sundheitspolitikistnachwievordas
alleinigeHoheitsgebiet der einzel-
nenMitgliedsländer.Mankannsich
schlecht über die mangelndeKoor-
dination in derCorona-Krise be-
schweren,wenn man gesternnoch
dieEUamliebstenabwickelnwollte.
Kaumein WortwarinderDiskussion
über die wirtschaftlichenFolgen der
Corona-Krise zuletzt so oft zu hören
wie Daseinsfürsorge.Dahinter steckt
dieIdee,dassderStaatdieelementare
VersorgunginBereichenwieGesund-
heitundEnergiewiederübernehmen
müsse.WirderüberhauptinderLage
sein,diesukzessiveabgelegteVerant-
wortungwiederzuübernehmen?
DemStaat wir dwohlgar nichts
anderes übrig bleiben.Jetzt rächt
sich, dass öffentliche Güter wie die
Kliniken und Krankenhäuser in den
letztenJahrzehntenprivatisiertwor-
densind.SohatsichseitAnfangder
90er-JahredieZahlderKrankenhäu-
ser in Deutsc hland um fast 20Pro-
zentunddieZahlderKrankenhaus-
bettenumfast30Proz entverringert.
Gleichzeitig wuchsen dieBevölke-
rung und der Anteil der Älteren.Ih-
nen stehen aber insgesamt etwa 10
Proz entwenigermedizinischeKräfte
zurVerfügung, sodass die Kluft zwi-
schen derFallzahl in den Kliniken
unddemPersonalstetig gewachsen
ist.Dadurchkommt,dassselbstim
deutschen Gesundheitssystem die
BelastungsgrenzederIntensivmedi-
zinimFalleinersolchenPandemie
wiejetztCovid-19schnellerreicht
ist.NichtwenigeTotewerdennicht
einfach demVirus, sonderndem
Neoliberalismusgeschuldetsein.
Wieesaussieht,stelltdasVirusgerade
die Systemfrage. Trauen Siedem
MarkteineRegenerationzuoderdro-
henhandfestegesellschaftlicheKon-
flik te?
DiefreigesetztenMarktkräfteha-
benzueinerdrastischenFehlbewer-
tung gesellschaftlicher Aufgaben
und wirtschaftlicher Leistungen ge-
führt. Daswirdunsjetztimsozialen
AusnahmezustandvonTag zu Tag
klarer .Aus de mNiedriglohnsektor
wurde buchstäblich überNachtder
Garant der kritischenInfrastruktur.
Unterbezahlte Kassiere rinnen, die
kürzlichnochwegenPfandbonsvon
ein paar Eurosfristlos gekündigt
werden konnten, bekommen plötz-
lich allerorts gesellschaftliche Aner-
kennung ausgesprochen, wassich
nach Corona ho ffentlich indeutli-
chen Lohnerhöhungen nieder-
schlägt. Prekär Beschä ftigte wieZu-
stellerundLagerarbeitersicherndie
Versorgung auch derWohlhaben-
den.BedienstetewiePoliz isten,Pfle-
gekräfte oder kommunale Ange-
stellte halten Grundfunktionen auf-
recht,fü rdiesichdieMärkten urals
kostengünstigeMitnahmeeffektein-
teressieren. Damit sollte Schluss
sein.Ja,wirbraucheneineArtInfra-
struktursozialismu s, der nicht nur
dieelementaren Funkti onen als
hochwertigeöffentliche Güterbe-
treibt .Ja,wirb raucheneineUmwer-
tungder ökonomischen Werte. Die
NützlichkeitundUnverzichtbarkeit
gesellschaftlicherLeistungen muss
in derStaffelungvon Erträg en vor-
rangigsein.Wirkönnenziemlichsi-
cherau fetlicheConsultantsundDe-
rivatehändlerverzichten, aber auf
keine einzige Pflegekraft imKran-
kenhaus .Daher brauchen wirnicht
nurganzandereMindestlöhne,son-
dernvor allemverbindlicheRege-
lungen für Maximaleinkommen.
Wenn wir dieseHeimsuchung eines
Tages durchstanden haben, wird
sich niemand mehr darüber aufre-
gen können,weniger als eine halbe
Millionim Jahrzu verdienen.
DasGesprächführteHarryNutt.
DER AUTOR
Sighard Neckelist Professor für Gesellschaftsanalyse an der Universität Hamburg.Ins einen
Publikationen hat er sich wiederholt mit der Kultur des Kapitalismus beschäftigt, u.a. in den
Bänden „Kapitalistischer Realismus“ und „Die globaleFinanzklasse“ (beide bei Campus).
Zahlen lügen nicht. Aber wie sind sie zu lesen? IMAGO
NACHRICHTEN
Eric Clapton verschiebt
Tournee um ein Jahr
EricClaptonverschiebtwegender
Corona-KriseseineEuropa-Tournee
unddamitauchseinedreiKonzerte
inDeutschland.Ursprünglichsollte
eram31.MaiinM ünchenauftreten
unddanachinStuttgartundDüssel-
dorf. JetztsollseinAuftrittinMün-
chenaufden21.Mai2021verscho-
benwerden,in Stuttgartwirderam
6.JuniundinDüsseldorfam8.J uni
2021aufderBühnestehen.DieTi-
cketsbehaltenihreGültigkeit.(dpa)
Jazzmusiker Manu Dibango
mit 86 Jahren gestorben
DerSaxofonistundAfro-Jazz-Star
ManuDibangoistimAltervon
JahrenandenFolgeneinerInfektion
mitdemCoronavirusgestorben.Di-
bangoseiamfrühenDienstagmor-
genineinemfranzösischenKran-
kenhausandervondemVirusaus-
gelöstenLungenkrankheitCovid-
gestorben,sagteThierryDurepair e,
derSonderausgabenvonDibangos
Musikherausgebrachthatte.Mit
demSong„SoulMakossa“feierteer
inden70er-Jahreneinenweltweiten
Hit.(AFP)
Der Saxofonist undVibrafonist
Manu Dibango (1933–2020) AFP
Senator Lederer:Kultur ist
zentral für die Gesellschaft
BerlinsKultursenatorKlausLederer
sorgtsichangesichtsderCorona-
kriseumdenErhaltderkulturellen
Infrastrukturundfordertähnliche
AnstrengungenwiebeiderBanken-
krise .„DiekulturelleInfrastrukturist
zentralfürdasFunktioniereneiner
demokratischenGesellschaft.
waresbinnenwenigerTagemöglich,
mehrstelligeMilliardenbeträgefür
dieRettungvonBankenbereitzu-
stellen.Dannmussesjetztmöglich
sein,dieseexistenzielleKulturinfra-
strukturzusichern“,sagteerimdpa-
Gespräch.„GeradeimKulturbereich
lebenMenscheninbesonderer
WeiseinprekärenVerhältnissen,
daraus resultiertebenaucheinebe-
sondereVerpflichtungderöffentli-
chenHandvonBundundLändern,
sichumdieseMenschenzuküm-
mern.“(dpa)
Förderprogramm für
Museumskuratoren
ZurUnterstützungfreiberuflicher
MuseumswissenschaftlerinderCo-
ronakriselegtdieErnst-von-Sie-
mens-KunststiftungeinFörderpro-
grammauf.Damitsoll Restaurato-
renundWissenschaftlernunbüro-
kratischgeholfenwerden,wiedie
StiftungamDienstaginBerlinmit-
teilte.Jen achProjektwilldieStiftung
zwischen2000und25000Euro„für
begrenzteRestaurierungsprojekte
unddiewissenschaftlicheArbeit“
beisteuern.(dpa)
Triftige
Gründe
C
orona kommt aus dem Lateini-
schen und bedeutet „Krone“.
Wissenschaftler haben die in den
60er-Jahren entdecktenVirensog e-
nannt, weil ihr eFormunter dem
ElektronenmikroskopaneineKrone
erinnert.
Außer unsMenschen kontami-
niertdas Virusjetzt in gewissem
Sinne auch zwei bekannteMarken.
Diemeisten haben beiCorona bis
vorwenigen Wochen vorallem an
das mexikanischeBier gedacht. Es
wirdseit1925gebraut,istabererstin
den letzten 15Jahren zu einer der
führenden Biermarken geworden.
NunleidetesunterdemüblenVirus:
DerAbsatzistdeutlichzurückgegan-
gen. DieErfinder desNamens woll-
tendamitdasspanischeKönigshaus
ehren, dessen Krone dasFlaschen-
etikettbisheuteziert,dieinMexiko-
Stadt ansässige Brauerei gehört
schon lange dem belgischenKon-
zern Anhe user-B usch. Undesg ibt
denToyotaCorona,einesdermeist-
verk auftenModelledesjapanischen
Konzerns und das erste,mit dem
dieserEndeder60er-JahreinE uropa
und den USAFußfassten. 2001 en-
dete seine Produktion, doch der
NameistnochimmerengmitToyota
verbunden.
Wird Corona nun das Jahr des
Wortes2020?Esliegtnahe,zun ahe.
In Deutschland aber hat mit derVi-
ruskriseeinbislangweniggebrauch-
tes Wort Karrier egemacht: triftig.
Manbrauche triftigeGründe,um
noch auf dieStraße zu gehen, heißt
esindenNotverordnungen.Esklingt
wieein Zauberwort,mitdemsichdie
neuen Beschränkungen imZweifel
überwindenlassen.
Weraufdie Ideegekommenist,es
für diesenZweck einzusetzen, lässt
sich wohl nicht mehr nachvollzie-
hen. Manhätte ja auch einfachvon
„wichtigen“ oder „schwerwiegen-
den“ Gründen sprechen können.
Triftig klingt noch einwenig ver-
zwickter,soe infachsollesnichtsein,
ist die Botschaft. Triftig ist ein altes
deutschesAdjektiv.Esl eitetsichlaut
Grimm’schen Wörterbuch aus dem
Mittelhochdeutschen und demVerb
treffen her:Ein Ziel erreichend, tref-
fend,triftig.Seitdem17.Jahrhundert
findetessichheutevorallemimjuris-
tischen Sprachgebrauch.So tauchen
die „triftigenGründe“ an manchen
Stellen im BürgerlichenGesetzbuch
auf.DasdürfteauchderGrundfürdie
Wahldes WortesindenaktuellenVer-
ordnungensein.Nunaberistesinal-
lerMunde,unddahereinguterKan-
didatfürdasWortdesJahres .Imv er-
gangenenJahr war das „Respekt-
rente“.DaswarenandereZeiten.
Sprache
HolgerSchmale
denktüberdieWortwahlin
ZeitenvonCoronanach.
Ehrtdas spanische Königshaus: das me-
xikanische Corona-Bier DPA