EinJahroderlänger
Vielefragensich,wanndieCorona-Pandemieendlichvorbeiistundwasunsnochalleserwartet.ForscherhabenModell-Szenariendafürentwickelt
VonTorsten Harmsen
G
ehtdasjetztnochmona-
telangsoweiter?Wannist
die Corona-Krise endlich
vorbei? Dasfragen sich
vieleLeuteindiesenTagen.Unddas
ist verständlich. Nicht nur ,weil
Ängste undUngewissheit viele pei-
nigen. Sondernauch wegen der be-
reits jetzt spürbaren Einbrüche.
Hunderttausende Unternehmen,
Geschäfte undFreiberufler bangen
umihr eExistenz.NiemandinPolitik
undWirtschaft kannPrognosen ab-
geben, wann die hartenMaßnah-
men wieder gelockertwerden kön-
nen. Deshalb schaut man gespannt
aufdie Wissenschaft.
Indenverg angenenTagenhaben
Forscher mathematische Modell-
Szenarienvorg estellt,umdiemögli-
chen Entwicklungen zu beschrei-
ben. Sieentstanden unter anderem
inTeamsvonEpidemiologendesRo-
bert-Koch-Instituts (RKI) und der
DeutschenGesellschaft fürEpide-
miologie(DGEpi)sowiedesImperial
CollegeinLondon.
On-off-Strategie wäremöglich
Unabhängigvonden einzelnenEr-
gebnissenzeigen dieModelle eines:
DieEpidemie wirddie Gesellschaft
noch über vieleMonate beschäfti-
gen,wahrscheinlichbisinsJahr
hinein.Ganzgrob zeigtsich: Je stär-
ker die Maßnahmen, desto wir-
kungsvoller die Eindämmung der
Corona-Welle.Vor allem ein soge-
nannter Lockdown mitKontaktver-
boten,wieergeradeumgesetztwird,
wirktsichindenModellrechnungen
rechteffektivaus.Zugleichaberwird
die Epidemie gestreckt, denn nur
wenigeMenschenerreichenaufdie-
sem Wegdie für einEnde der Co-
rona-WellenotwendigeImmunität.
DieForscher berechneten ge-
nauer,was passieren würde,wenn
mandemVirusind erungeschützten
Bevölkerung freien Lauf ließe.Die
Modelle zeigen, dass bisJuni/Juli in
Deutschland gleichzeitig acht bis
zehn Millionen Menschen erkran-
kenwürden.DieWelledauerteetwa
vier Monate und wäreverheerend.
DieRKI-EpidemiologenMatthiasan
derHeidenundUdoBuchholzneh-
meninihrenBeispielszenarieneine
Sterblichkeitvon0,56Proze nt an.
Diese liege „eher am unterenRand
bestehender Schätzungen“, schrei-
ben sie .ImS ommer könnten also
rein rechnerisch bis zu 56000Men-
schen sterben.Wahrscheinlich wä-
renesw ohl Hunderttausende,weil
das System zusammenbräche.Bei
28000 Intensivbetten inDeutsch-
land könnten auch alle anderen le-
bensbedrohlichen Fälle nicht be-
handeltwerden, zumBeispiel In-
farkte ,SchlaganfälleundUnfälle.
DieRKI-Forscherbezieheninihre
Modellemitein,dasseseinegewisse
Saisonalität geben könnte,also eine
AbschwächungderCorona-Welleim
Sommer.Dann würde sich die epi-
demischeWelleaufdenHerbst,viel-
leicht sogar auf dasFrühjahr 2021
verschieben–jen achdem, wie aus-
geprägtdieSaisonalitätwäre.Andere
Modellrechnungen deuteten aber
bereits darauf hin, dass derEinfluss
sehrgeringseinkönnte.
DieRKI-Epidemiologenzeigen,
dass die wirksamsteStrategie gegen
Covid-19 einMixaus drei Maßnah-
men ist: 1.IsolierungErkrankter,2.
AbsonderungvonKontaktpersonen
und 3. Kontaktreduktion in derGe-
samtbevölkerung.Würdeunterdem
Motto „Flatten theCurve“ nur ein
Teildavonumgesetzt,kämeeseben-
falls zumKollaps desGesundheits-
systemsmithohenTodesraten.Eine
Studie desImperial College in Lon-
don untersuchte amBeispiel von
Großbritannien und den USA, was
passierte,wennesnurbeifolgenden
Maßnahmen bliebe:IsolierungInfi-
zierter ,Heimquarantäne derFami-
lienundDistanzierungderüber70-
Jährigen.DasErgebnis wäre, dass
manachtmalsovieleFällehätte,die
manbeatmenmüsste,alsmanbeat-
menkönnte.
„ErsteineSenkungdereffektiven
Reproduktionszahl in denBereich
von1bis1,2würdeeinenVerlaufin-
nerhalb dervorhandenenKapazitä-
tendes Gesundheitssystemermögli-
chen“, schreiben dieAutoren der
DGEpi-Erklärung. Dasbedeutet:Ein
Infizierter steckt einenweiteren an.
Es gäbe dann keine exponentielle
Ausbreitungmehr,sonderneinenli-
nearen Anstieg.Eine wirklicheEin-
dämmung der Epidemie ist nach
AussagenderAutorenabernurdann
zu erreichen,wenn weniger ange-
steckt werden, als esInfizierte gibt.
DereinzigeWegdahinsei„eineEin-
schränkung der sozialen Kontakte
aufdas Notwendigste“.Alsodas,was
zurzeit in Deutschland passiert, bis
hinzur Ausgangssperre.
„Wir gehen davon aus,dass die
bisher getroffenen Maßnahmen
schon eineSenkung der effektiven
Reproduktionszahl bewirkt haben“,
schreiben die DGEpi-Autoren.Die
Effektewerdensichindenkommen-
den Wochen zeigen. Aber damit ist
dieEpidemielängstnichtvorbei.Die
Wissenschaftler rechnen damit,
„dass diese Einschnitte über die
nächstenMonate aufrechterhalten
werden müssen, um zu einer völli-
gen Eindämmung der Infektions-
ausbreitungzuführen“.InderFolge
müssten neu vonaußen einge-
schleppte und auftretendeEinzel-
fälle„durcheinebreitangelegteTest-
strategie schnell identifiziertund
isoliertwerden“.
DasgroßeProblemist:Sobalddie
Kontaktverbot-Maßnahmen wieder
gelockertwerden,erhältdasViruser-
neut die Chance,sich exponentiell
auszubreiten.DasGesundheitssys-
tem droht erneut zusammenzubre-
chen. Je flacher dieKurvewerde,
„umsolängermüssenwirdurchhal-
ten,bevoreinsubstanziellerTeilder
Bevölkerung aufgrund einer durch-
gemachtenInfektioneinenImmun-
schutz gegenSars-CoV-2 erworben
hat“,schreibendieRKI-Autoren.So-
zusagen tröpfchenweise.Ein ande-
rerWegsind Massenimpfungen,um
bei 60 bis 70Proz ent der Bevölke-
rung die sogenannteHerdenimmu-
nität gegen dasViruszue rreichen.
Doch auch bei großerBeschleuni-
gung vonTests undZulassungsver-
fahren wirdesE xperten zufolge ei-
nen massentauglichenImpfstoff in
diesemJahrwohlnichtmehrgeben.
EskönntealsoeinJahrlang,viel-
leicht sogar 18Monate dauern, bis
ein Immunschutz in derBevölke-
rungbesteht.AberkannmandieGe-
sellschaftsolangeimgegenwärtigen
Zustand halten?Diese Frage stellen
sichauchdieWissenschaftler.Ini h-
renModellsimulationen kommen
Forscher umNeil Ferguson amIm-
perial College London zu demEr-
gebnis,dass vielleicht eine„On-off-
Strategie“ ausreichen könnte,um
dasCoronavirusinSchachzuhalten.
Sobalddie Infektionszahlendeutlich
zurückgingen,könntemandieKon-
taktverbote lockern,Unternehmen,
Schulen und das öffentliche Leben
wieder inGang bringen.Sobald die
Patientenzahlen in denIntensivsta-
tionen wieder zunähmen, müssten
die allgemeinen Kontaktverbote
wieder greifen. Doch auch die„On-
off-Strategie“würdewohldieGesell-
schaftschwerbelasten.
Es gibt aber nochweitereFakto-
ren, die dieEntwicklung beeinflus-
senkönnten.Sokönntensichbereits
viele Kinder symptomlos infiziert
haben und damit zur sogenannten
Herdenimmunitätbeitragen,wieVi-
rologen vermuten .Die RKI- Autoren
rechneninihren„Beispielszenarien“
auch mit der Möglichkeit, dass ein
Teilder Bevölkerungbereitsimmun
gegen Sars-CoV-2 ist.So könnte es
beiKinderneineKreuzimmunitätzu
anderenmenschlichenCoronaviren
geben.DieForscher rechnenmit Im-
munitäts-Wertenvonnullbis mehr
als30 Proz ent.Im bestenFallmüss-
ten „nur“ noch 44Millionen Deut-
sche gegen dasVirusimmun wer-
den,bevordieEpidemiebeendetist.
ImschlimmstenFallwürdensichbis
zu65 Millioneninfizieren.
AllesläuftaufeingebündeltesPa-
ket vonMaßnahmen zu.Eine „On-
off-Strategie“hatnurSinn,wennsie
auch mit einem flächendeckenden
Testprogrammverbunden ist.Nicht
nurzur IsolationvonInfiziertenmit
QuarantänevonKontaktpersonen.
Nein,ohneTestsgibtesauchkeinen
Überblickdarüber,wersichbereits–
möglicherweiseohneeszumerken–
infizierthatundinzwischenimmun
ist. Dafür arbeitenForscher an ein-
fach und massenhaft einsetzbaren
Tests, die Antikörper imBlut nach-
weisenkönnen.
Veränderungen desVirus
DieMaßnahmen hängen auch da-
vonab,obes gelingt,antiviraleThe-
rapien zu finden, um dieZahl der
schweren VerläufeundTodesf ällezu
vermindern.Dafür werden bereits
zugelasseneWirkstof fe geprüft. Es
gibtsogarersteAnsätzefürsc hneller
einsetzbareImpfungen. So haben
Berliner Forscher einen Tbc-Impf-
stoffmitentwickelt,deroffenbardas
Immunsystem gegen dieInfektion
aktiviertunddenmanjetztangröße-
renGruppen testen will. Hinzu
kommt, dass man nichtweiß, wie
sich das neuartigeCoronavirus ver-
ändert, ob es gar mutiert–mögli-
cherweise zumNachteil desVirus
selbst. Dann könnte dieEpidemie
auchfrüherzumStillstandkommen.
Ausdiesem GrundwirdSars-CoV-
vonVirologenständigbeobachtet.
EineskannmanaufalleFällesa-
gen:DieEpide miew irdwohlbisins
nächsteJahr hi nein ein „dynami-
sches Geschehen“ bleiben, wie die
Wissenschaftleresnennen.Sieerfor-
dert eine unablässigeKooperation
vonForschern,Politikernundande-
ren,umschnellaufWandlungen rea-
gierenzukönnen.Dasbetrifftgewiss
auch ein abgestimmtesHandeln in
Europa.DennkeinLandalleinkann
einePandemiebewältigen.
Wie aus einem Katastrophenfilm: Männer in Schutzkleidung stehen an der deutsch-polnischen Grenze in Görlitz, um die Körpertemperatur von Einreisenden zukontrollieren. FLORIAN GAERTNER/PHOTOTHEK
Torsten Harmsen
hofft darauf, dass alles
glimpflich abgeht.
Die epidemischeWellewürde im Sommer ihren
Höhepunkt erreichen. Bis zu 10 Millionen Men-
schen gleichzeitig wären infiziert. Hunderttau-
sende müssten auf die Intensivstation–bei
28 000 Intensivbetten. Es gäbe möglicherweise
56 000Tote, wahrscheinlich aber einVielfaches
davon. DieWelle dauerte etwa vier Monate.
EineAbflachung der Kurveund eineVerlänge-
rung derWelle wird durch Maßnahmen erreicht
wie: Isolierung Erkrankter,Familien-Quaran-
täne, Ermittlung undAbsonderungvonKontakt-
personen, SchutzvonRisikog ruppen. Dennoch
würde Modellen zufolgeauch hier die Kapazität
der Intensivstationen überschrittenwerden.
Erst alle MaßnahmenzeigenWirkung.Vor al-
lem eine Kontaktreduktion in der Gesamtbevöl-
kerung hält die Zahl der Neuinfektionen niedrig
und entlastet die Intensivstationen. Stichwort:
Kontaktverbot,Ausgangssperre.Werden die
Maßnahmengelockert, schießen die die Erkran-
kungszahlen wieder nach oben.
Eine flexible Strategiekönnte über Monate die
Ausbreitung desVirusunter Kontrolle halten.
Maßnahmen wie SchließungenvonSchulen und
Unternehmen, Kontaktverbote usw. werden im-
mer wieder aufgelockert. Ende erst,wenn 44 bis
65 Millionen Menschen infiziertsindoder ein
Impf stoff zurVerfüg ungsteht. Dauer:bis 20 21
Zeit
Anzahl Infizierter
Zeit
Anzahl Infizierter
Corona-was kommt auf uns zu?
Wenn wir nichts tun würden Flatten the Curve Vollständiger Lockdown Wellenförmiger Verlauf
BLZ/GALANTY (4); QUELLE: QUARKS, WDR
Stand heute
Kapazität des
Gesundheitssystems
inDeutschland
Kapazität der
Intensivbetten
in Deutschland
Zeit
Anzahl Infizierter
Zeit
Anzahl Infizierter
MASSNAHMEN
Kapazität der
Intensivbetten
inDeutschland
Kapazität der
Intensivbetten
in Deutschland
Wissenschaft
8 Berliner Zeitung·Nummer 72·Mittwoch, 25. März 2020 ·························································································································································································································································································