Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1

Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
48


Regina Krieger Rom

N


ur ein paar Zeilen hat die Mitteilung. Es
ging darin weder um die Bilanz noch
um eine neue Kollektion von Prada. Der
Luxuskonzern habe die Produktion von
110 000 Gesichtsmasken und 80 000 Kitteln aufge-
nommen. Auf Bitten der Region Toskana würden
diese im einzigen noch nicht geschlossenen Stand-
ort Montone bei Perugia produziert.
In dieser Mitteilung zeigt sich die Dramatik und
Dimension der Corona-Pandemie für Italien. Kein
Land in Europa ist mehr getroffen – und schlechter
vorbereitet. Die Zahl der Infizierten und der Toten
will auch nach fünf Wochen nicht zurückgehen.
Unternehmen und Banken spenden in Millionen-
höhe, neue Intensivstationen und ganze Kranken-
häuser entstehen auf die Schnelle.
Die Regierung scheint überfordert. Das erste Hilfs-
paket hat ein Volumen von 25 Milliarden Euro, 1,4
Prozent des BIP. Das ist wenig im Vergleich zu dem,
was andere einsetzen, „eine Wasserpistole statt ei-
ner Bazooka“, meint ein Kommentator. Stefano
Manzocchi, Chefvolkswirt des Industrieverbands
Confindustria, schätzt, dass zehnmal so viel nötig
wäre. „Die 25 Milliarden waren nur die ersten Maß-
nahmen zum Auffangen des extremen Notstands.“

Italiens^


große


Pleite


Schlimmer geht es kaum:


Das Coronavirus trifft eine


Wirtschaft auf dem Weg in


die Rezession – und ein


Land mit hohen Schulden.


AP

Allerdings ist die Frage der Konditionalität nach
Einschätzung von Insidern keine unüberwindbare
Hürde. Schließlich müssten potenzielle Empfänger
wie Italien kein vollwertiges Programm wie Grie-
chenland oder Portugal beantragen, das umfassen-
de makroökonomische Auflagen nach sich ziehen
würde. Bei einer Kreditlinie, die Italien beim ESM
beantragen könnte, wäre es möglich, nur wenige
und begrenzte Auflagen zu erteilen. Diese könnten
sich auf den Gesundheitsbereich beschränken zur
Bekämpfung der Coronakrise. „Es käme nun wirk-
lich niemand auf die Idee, von Italien Reformen des
Rentensystems oder des Arbeitsmarktes zu fordern,
wenn es in der derzeitigen Lage wegen der Corona-
krise um Hilfe beim ESM bittet“, heißt es in Berlin.
Der Vorteil einer solchen ESM-Hilfe ist, dass da-
mit theoretisch auch Unterstützung der EZB mög-
lich wird, über deren sogenanntes OMT-Pro-
gramm. Dieses Programm hatte Draghi auf dem
Höhepunkt der Euro-Krise 2012 durchgesetzt.
Das Instrument erlaubt es, unbegrenzt Staatsan-
leihen eines bestimmten Landes anzukaufen. Es
wurde bislang aber nicht eingesetzt – auch weil
es vor allem in den nördlichen Euro-Ländern ex-
trem umstritten ist. Bei ihren bisherigen Pro-
grammen kauft die EZB Anleihen verteilt über al-
le Euro-Staaten nach dem sogenannten Kapital-
schlüssel auf, orientiert sich also an der Größe
der Volkswirtschaften. Allerdings weichte die EZB
am Donnerstag diese Beschränkungen ein Stück
weit auf.
Fakt ist: OMT könnte für nachhaltigen Ein-
druck bei Investoren sorgen. Schon die Ankündi-
gung der EZB vergangene Woche, dass sie ihre
Anleihekäufe mit ihrem neuen PEPP getauften
Programm massiv ausweiten könnte, trug ent-
scheidend zur Beruhigung bei. Vergangene Wo-
che herrschte in den Hauptstädten zeitweise Pa-
nik, man fürchtete, dass sich Investoren erneut
aus der Währungsunion zurückziehen könnten
und keine Staatsanleihen mehr von Euro-Län-
dern kaufen. Anzeichen dafür gab es. Doch seit
der EZB-Ankündigung habe sich die Lage nach-
haltig entspannt, der Markt für Euro-Anleihen sei
wieder liquide. „Der Druck ist erst mal raus“,
sagt ein Regierungsbeamter.
Das kann aber auch ein Nachteil sein. Denn
nun werden die Regierungen sich mehr Zeit las-
sen mit einer gemeinsamen Antwort, die drin-
gend notwendig, aber wegen der Blockadehal-
tung der beiden EU-Blöcke unwahrscheinlich ist.
Während die nordeuropäischen Länder beim
ESM-Einsatz bremsen, lässt vor allem Italien bis-
her keine Bereitschaft erkennen, ein offizielles
Hilfeersuchen beim Rettungsfonds zu stellen. Die
Italiener haben ein grundsätzliches Problem mit
den ESM-Hilfen: Denn mit dem Antrag ist eine
Stigmatisierung verbunden, Italien würde offiziell
als Krisenland gelten.
Einen Ausweg könnte ein besonderes Instru-
ment bieten. Beim Euro-Rettungsfonds ESM, Ge-
samtvolumen 410 Milliarden Euro, soll eine vor-
sorgliche Kreditlinie (Enhanced Conditions Credit
Line oder ECCL) eingerichtet werden für Staaten,
die mit der Coronakrise überfordert sind. Centeno
erklärte, der ESM könne bis zu zwei Prozent der je-
weiligen nationalen Wirtschaftsleistung als ECCL-
Kredit ausgeben. Das entspricht einem Betrag von
bis zu 240 Milliarden Euro für Länder der Wäh-
rungsunion. Staaten müssen beim ESM einen
ECCL-Kredit beantragen. Im Gegenzug kann der
ESM vom Empfängerland Strukturreformen verlan-
gen. Italien und Spanien wollen sich solche Vor-
schriften aber nicht machen lassen, bislang haben
sie keine Absicht erkennen lassen, den ESM um ei-
nen ECCL-Kredit zu bitten.
Die ECCL-Kreditlinien könnten womöglich einen
Weg zu einem Kompromiss öffnen. Zwar ist der
ESM kein Instrument für ein allgemeines europäi-
sches Stützungsprogramm und eine Änderung des
ESM-Vertrags würde viel zu lange dauern. Doch
möglicherweise könnten die ECCL-Kreditlinien in
der Öffentlichkeit als allgemeines Hilfsprogramm
wegen der Coronakrise verkündet werden. Recht-
lich bliebe es allerdings trotzdem dabei: Jedes Land
müsste individuell einen Antrag beim Rettungs-
fonds stellen.


Streitfall Coronabonds


Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung von
„Coronabonds“, also gemeinsame Anleihen der
Euro-Staaten ausschließlich zur Finanzierung des


Kampfes gegen die aktuelle Krise. Doch dafür gibt
es bisher keine konkreten Pläne. Auch die Regie-
rung in Rom soll dazu bisher nichts Konkretes vor-
gelegt haben. So ist komplett unklar, welche Insti-
tution solche Anleihen ausgeben sollte, wie sie be-
sichert würden und nach welchem Schlüssel die
Mittel dann verteilt würden. Eine Idee ist, dass der
ESM die Anleihen begibt. Ob das so einfach mög-
lich ist im bisherigen ESM-Regelwerk, da gibt es al-
lerdings starke Zweifel. Zudem würde die Schaf-
fung eines solchen komplett neuen Instruments
viel zu lange dauern. „Der ESM steht bereit. Wa-
rum nun über neue Mittel diskutieren?“, fragt man
sich in Berlin. „Wir brauchen jetzt Hilfsmittel und
nicht in ein oder zwei Jahren.“
Deshalb blockt auch Scholz die Diskussion um
die Coronabonds ab. Man solle mit einer solchen
Kontroverse nicht die Diskussion um die ESM-Hil-
fen erschweren, so die Warnung des Bundesfinanz-
ministers. Er fürchtet, dass die Niederlande, Öster-
reich oder Finnland sich komplett querstellen,
wenn nun noch über Coronabonds diskutiert wür-
de. Denn das könnte die Regierungen dort unter
Druck setzen, schließlich sehen viele Bürger dort
eine Vergemeinschaftung von Schulden ähnlich
skeptisch wie die deutsche Bevölkerung.
Das ist auch der Grund, warum die Bundesregie-
rung die Debatte um Euro-Bonds nicht führen will,
obwohl niemand bezweifelt, dass eine gemeinsame
europäische Staatsanleihe das effizienteste Instru-
ment im Kampf gegen Spekulationsattacken auf die
Währungsunion wären – selbst dann, wenn sie nur
einen Bruchteil der gesamten europäischen Staats-
schulden abdecken würde. In Berlin hält man das
allerdings für eine theoretische Debatte von Öko-
nomen, da die rechtlichen Hürde viel zu hoch sind.
Oder wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmai-
er, ein Vertrauter von Merkel, im Handelsblatt-In-
terview sagte: „Die Diskussion über Euro-Bonds ist
eine Gespensterdebatte.“
Im Kampf gegen den ökonomischen Absturz
bleibt also erst einmal jeder Euro-Staat auf sich ge-
stellt – abgesehen von den Aktionen der EZB. Doch
diese sieht sich mit ihrer durch Anleiheeinkäufe
inzwischen auf fünf Billionen Euro aufgeblähten
Bilanzsumme zunehmend überlastet. So ist es kein
Wunder, dass auch Lagarde dringend gemeinsame
Aktionen der Euro-Partner im Kampf gegen die
Coronakrise anmahnt. So soll die ehemalige IWF-
Chefin den Finanzministern der Euro-Zone am
Dienstag nahegelegt haben, ernsthaft die einmali-
ge Ausgabe gemeinsamer „Corona-Anleihen“ zu
erwägen.
Es war ein Notruf. Denn Lagarde weiß: Die 410
Milliarden des Euro-Rettungsfonds sind zwar eine
stattliche Summe – doch sollten mit Italien und
Spanien der dritt- und der viertgrößte Euro-Staat
am Ende doch beim ESM um Hilfe bitten, könnten
die Mittel schnell versiegen.
Lagarde dürfte die gleiche Erfahrung machen
wie ihr Vorgänger. Auch Draghi hatte die Politik ge-
betsmühlenartig gewarnt, dass die gewählten Re-
gierungschefs die Schuldenkrise lösen müssten, die
EZB sei damit überfordert. Es hatte nichts gehol-
fen, am Ende lag die Verantwortung fast ganz bei
seiner Behörde. Zwischen den Euro-Partnern man-
gelte es damals an Kraft und am Ende auch am Wil-
len zur Solidarität, um die Euro-Krise nachhaltig zu
überwinden. Heute befinden wir uns in einer ähn-
lichen Lage.

China und Russland greifen ein
Wenn es so etwas wie ein Symbol für den mangeln-
den Zusammenhalt in Europa gibt, dann ist das der
Mundschutz. Der Mundschutz ist nicht nur Symbol
für den grassierenden Mangel an medizinischer
Ausrüstung in dieser so existenzbedrohenden Pan-
demie.
Der Mundschutz steht auch für den ersten Sün-
denfall der größten Volkswirtschaft des Kontinents.
Deutschland war der erste Staat, der einen Export-
stopp verhängte, als die Krise in Italien schon dra-
matische Ausmaße erreicht hatte. Auch wenn die
Bundesregierung diesen Fehler einräumt und Ita-
lien inzwischen mit Lieferungen medizinischer Gü-
ter unterstützt – sind es jetzt vor allem Russland
und China, die sich in Italien als die großen Helfer
inszenieren. Fast täglich landen dort medienwirk-
sam die riesigen Transportflieger aus Moskau und
Peking. Es mag in Teilen Propaganda sein, aber es
ist vielleicht auch das sichtbarste Zeichen für das
Unvermögen Europas.
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