Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH,25. MÄRZ2020·NR.72·SEITE N3


Die Zweiheit einer Zusammenkunft
reichtaus,damiteinGottsichdazuge-
sellt.„Denn wo zwei oder drei in mei-
nem Namen versammelt sind, da bin
ichmitten unter ihnen“,heißt es beim
EvangelistenMatthäus (Kapitel 18,
Vers 20). Somitkollidieren die neues-
tenstaatlichenVorgaben, sichaußer-
halb des eigenen Hausstandes nur
nochzuzweit in der Öffentlichkeit zu
versammeln, nicht mit dem bibli-
schen Minimum derReligionsfreiheit.
Wenn es um den Gottesdienstimsa-
kramentalen Sinnegeht, um dieFeier
der Eucharistie,kann das Minimum
sogar auf einePerson, den Priester in
Einzelzelebration, begrenzt werden.
Das sei zwar nicht ideal, betont das
ZweiteVatikanischeKonzil, wenn es
im Liturgie-Schreiben „Sacrosanctum
Concilium“ (Artikel 27) erklärt, dass
die Feier der Messe„in Gemeinschaft
–imRahmen des Möglichen–der
vonEinzelnengleichsam privatvoll-
zogenenvorzuziehen ist“.Vorzugs-
würdig je nachMöglichkeit –das
meint imUmkehrschlussaber gerade
kein Verbotder Einzelzelebration.
Wieauch? Wäre sie unerlaubt oder
auchnur in einemstrengen Sinne in-
adäquat, widerspräche das der meta-
physischenKonzeption der Messfeier,
der zufolge„vommystischen Leib
Christi, das heißt dem Hauptund den
Gliedern, der gesamte öffentliche
Kult vollzogen“ wird(Artikel 7). So
kann es die Privatmesse als theologi-
schen Begriff garnicht geben. Privat
heißt hier immer nur „gleichsam pri-
vat“ (siehe oben Artikel 27), insofern
bei jeder soziologischgesehen „pri-
vat“gefeiertenMessedie Kircheini h-
rerGesamtheit agiert, das heißt ih-
remtheologischen,vomZweitenVati-
kanischen Konzil festgehaltenen
Selbstverständnisfolgend: die Kirche
inihrerirdischenwiehimmlischenDi-
mension denKult vollzieht.
So gesehen,fährtder me taphysi-
scheAnspruchdiephysischenKontak-
te herunter,nicht hoch, macht sie ent-
behrlichauchdort, wo sie wünschens-
wertbleiben, wie das gültigeKirchen-
rech tunter streicht, wennesdieMesse
als Erlösungsgeschehen beschreibt
(CodexIuris Canonici, Canon 904):
„Immer dessen eingedenk,dasssich
imGeheimnisdeseucharistischenOp-
fers das Werk der Erlösungvollzieht,
haben die Priesterhäufig zu zelebrie-
ren; ja die täglicheZelebration wird
eindringlichempfohlen, die, auch
wenn eineTeilnahmevonGläubigen
nicht möglichist,eine Handlung
Christi und der Kircheist,durch de-
renVollzug die Priester ihrevor-
nehmste Aufgabe erfüllen.“
Waspasst,sosollteman meinen,
alsoauchtheologischbesser inunsere
momentaneZeit, und sei es nur auf
die nächstenzwei, dreiWochen,als
ein Gottesdienstverständnis, das
nicht zwingend aufVersammlung an-
gewiesenist?DassehendreiProfesso-
render Liturgiewissenschaftanders.
Unterder Überschrift„Privatmessen
passen nicht zum heutigenVerständ-
nis vonEucharistie“ fragen Albert
Gerhards (Bonn), Benedikt Krane-
mann (Erfurt) undSte phan Winter
(Münster) imPortal katholisch.de, ob
die traditionell „missa sine populo“
(Messe ohneVolk) genannteFeier
nochzeitgemäß sei, und antworten:
„Eindeutignein.“Daserwähntekonzi-
liareSchreiben „Sacrosanctum Conci-
lium“ (Artikel 7) habeverdeutlicht,
„dassLiturgievonallen Getauften ge-
meinsam und öffentlichvollzogen
wird“. Ja, aber eben doch, wiegese-
hen, in einem metaphysischen, nicht
soziologischenSinn.NachdiesemVer-
ständnis sind bei jeder Messfeier in
der Tatalle Getauftenanwesend,qua
mystischer Leib Christi, ohne als phy-
sischversammelteGemeindebeziffer-
bar sein zu müssen.
Aufder Linie dieserUnterschei-
dung stellt derevangelischeGöttinger
Staats- und Kirchenrechtler Hans Mi-
chael Heinig im „Verfa ssungsblog“
vom17. Märzklar:„Verboten sindge-
radenicht ,Gottesdienste‘,sondern
,Zusammenkünfte‘.“ Woraus kir chli-
cherseits kein Stillhalteabkommen
mit einem Präventionsstaat abzulei-
tenist.Ungern, so Heinig,„befände
man sichineinigenWochen in einem
Gemeinwesen wieder,das sic hvon ei-
nem demokratischenRechtsstaat in
kürzester Fristineinen faschis toid-
hysterischen Hygienestaat verwan-
delt hat“.
Die stellvertrete nde Funktion des
Priestersist,sei es in Einzelzelebrati-
on oder im gut besetzten Gotteshaus,
eine geistliche. Sie beanspruchtkei-
neswegs, die GemeindevorOrt obso-
letzumachen, wie das die drei Litur-
giewissenschaftler nahelegen,wenn
sie erklären: „DieStellvertretung von
Gemeinschaftlässt sichjedenfalls
nicht durch eineeinzige Personglaub-
würdigrepräsentieren.“ Nach Mög-
lichkeit nicht. Im Ausnahmefall aber
schon. Oder,wie der FreiburgerDog-
matiker Helmut Hoping in seinerRe-
plik auf die Liturgiewissenschaftler
im selbenPortal schreibt:Die „missa
sine populo“ sei „nicht die Grund-
formderMessfeier,sieis tfürdas Kon-
zil aber eine legitimeForm“. Privat-
messen,wenn man denn so will, sind
keineFragevonGlaubwürdigkeit,son-
dernvon Glauben und Infektions-
schutzgesetzen. CHRISTIANGEYER

N

icht mehr die Leiden-
schaf tist es, sonderndie
Arbeit, das heißt die
Handlung des Men-
schen, welche sichdas
Kino als Themagewählt
hat.“ DerFilmk ritiker Maurice Schérer,
der diesen Satz 1951 in derZeitschrift
„CahiersduCinéma“ schrieb, wurde als
FilmregisseurunterdemNamenEricRoh-
merberühmt–mit Filmen,derenProtago-
nistentypischerweise Ferien machen, am
Strand oder am Ufer eines Sees, oder je-
denfalls für dieZeit der Filmhandlung so
viel Zeit haben, dasssie ausgiebig über
sichund ihr eBeziehungenreden können.
In dem zitiertenAufsatz, der alsTitel
dasPascal-Zitat„Wieeitelistdochdie Ma-
lerei“ trägt, setztRohmer dieFilmkunst
vonderLiteraturab,derenklassischerGe-
genstand die menschliche Innenwelt is t.
Das Kino solltesichlaut Rohmer hier
nicht in einenWettbewerb begeben,weil
esseinenStof finderAußenwelt findet,ei-
ner Welt vonKörpern, Dingen, die sich
durch den Raum be wegen. Dassder Film
Gefühle darstellt, is tnur denkbar,wenn
er sie selbstals Dingebetracht et,nämlich
als UrsachenvonGestenoder mimischen
Regungen. Die so betrachteten Gefühle
„diktieren“ diekörperlichen Bewegungen
„in jedem Moment“. DerFilm „zeichnet
sichnur insofernimMalen vonGefühlen
aus, als sie aus unseren unaufhörlichen
Beziehungen zu den Dingen entstehen“.
Rohmersetztalsoein naturalistisches Mo-
dellvonKausalitätvoraus,eingeschlosse-
nes mechanistischesWeltbild.
Als schönstenFilm überhauptrühmt
Rohmer in seinemAufsatz denStumm-
film „Nanook of theNorth“ von1922. In
dem Dokumentarfilm des amerikani-
schenRegisseursRobertJ.Flaherty se-
henwireinenEskimobei derArbeit.„Na-
nuk baut seine Behausung, jagt,fischt, er-
nährtseine Familie.“Die„Schönheit“ sei-
ner Verrichtungen erschließt sichlaut
Rohmer mit derZeit, indem wir sie „lang-
sam kennenlernen“. InRohmersAugen
istder Jäger,Fischer und Ernährer,den
FlahertysFilm zeigt, noch schöner als die
Krieger,von denen epische Dichter sin-
gen. „Denn im Gegensatz zu den epi-
schen Helden erfahren wir die Größe un-
seres Helden imVerlauf seinesKampfes,
und nicht aufgrund eines Sieges, also ei-
ner er worbenen Sache.“
Hier erweistsichdie „gefährliche Da-
seinsbedingung“ desFilms, nur Dingeins
Bildrückenzukönnen, alsVorteil.DieLi-
teratur is tein Sy stem vonVerweisen.
Dassder Kampfdie Mühe und Gefahr
wertsein soll, istnicht offensichtlich.Auf
den Sieg musszusätzlichdie Rede kom-
men, die Schönheit des Preises musssich
aufden Kampfübertragen, bleibtaberBe-
hauptung. Literarisches Erzählen istindi-

rekt, schiebt auf undgreiftzurück. Das,
wovonjeweils dieRede handelt, istZei-
chen füretwa sanderes. Demgegenüber
postuliertRohmer,dassFilme „in ihren
bestenAugenblickenimmer das zum Ge-
genstand“ haben, „was entsteht“, und
nicht Konsequenzen undResultate, „Zu-
stände desTriumphes oder derTrauer“.
Charlie Chaplin und BusterKeaton, der
GangsterScarface und der Detektiv Mar-
lowe,„alle sind siegeschicktewie unge-
schickteHandwerker, diewir jenachAus-
führung derWerkebeurteilen“ und nicht
nachderen Erfolg. Das soll auchfür den
Charakter desVerführer sgelten.
Das Handwerkdes Filmem acher sist
die Perspektive, die Blickführung. Die
Schönheit derPassageinFlahertysFilm,
„woman den Eskimo, der einer Seehund-
herde auflauert, die auf dem Eisrand ein-
geschlafen ist, in die Ecke des Bildfeldes
gedrückt sieht“, beruht lautRohmer dar-
auf,dassderBlickwinkel derKamera„we-
der mit dem der Akteureindiesem Dra-
ma nochüberhauptmit dem eines
menschlichenAugesidentischist“. Ein
Romanautor,behauptetRohmer,hätte
NanuksWartennicht beschreibenkön-
nen, ohne entweder für den Jäger oder
die GejagtenPartei zu ergreifen. Anders
derFilm.Er kann dasWartenzeigen,weil
er selbstwartenkann. „Nicht das Ergrei-
fendederHandlung,sonderndasGeheim-
nis derZeit selbstrufthier unsereängst-
liche Anspannung hervor.“
Der Verführergeht nicht andersans
Werk als der FamilienmenschNanuk.
„Das Thema des Begehrens istfilmisch
eins der ergiebigsten, denn zu seiner Dar-
stellung mussvor unserenAugendie gan-
ze Dis tanz ausgebreitet werden, die zeit-
lichwie räumlichJäger und Beutevonein-
ander trennt.“ Ängstliche Anspannung
wandelt sichinLust. „Das Lauernist an
sichgenussvoll, und das zärtliche Leuch-
teneines Nack ens oder wie inStroheims
,Greed‘ das Glitzernvon Goldfärben sich

für das ohnmächtigeVerlangen mit im-
mer wieder neuerVerführungskraft.“
Eine solche Szene markiert, literarisch
gesprochen, den Wendepunkt in Roh-
mersFilm „Pauline amStrand“ von1983.
Der PhilosophVittorio Hösle beschreibt
das Arrangement in seiner 2016 bei
Bloomsburyinder Reihe „Philosophical
Filmmakers“ erschienenen, 2018 beiFink
insDeutsche übersetztenRohmer-Mono-
graphie. „Pauline schläfttief, und man
musszugeben: Ihr Bild, wie sie nur mit
kur zer Unterwäsche bekleidetbarbusig
daliegt, zählt zu den erotischs tenBildern
in RohmersŒuvre.“
Die Titelheldin (Amanda Langlet) ist
eine Fünf zehnjährige. Sie hat dieNacht
im Gästezimmer des HausesvonHenri
(FéodorAtkine)verbracht, dem Mann,
der mit ihrer Cousine eineUrlaubsliebe
angeknüpfthat.HenriistEthnologe,soet-
waswie ein Kollegedes Eskimoforschers
Flaherty,spezialisiertauf das Studium
der nomadischen Lebensform, die er
selbstkultiviert. Jetzt isterkurzsesshaft
geworden. Er sitzt amFußvon Paulines
Bett, dochersitzt nichtstill. HöslesNach-
erzählung: „Henribeginnt ihreFüße zu
küssen und bewegtsic hweiter nachoben,
bis sie erwachtund ihnwegtritt.“
Hösle istwie RohmerKatholik,und
ihn erinnertdie transgressiveGeste des
Fußkusses an die traditionell demPapst
geschuldete Ehrenbezeigung.Wenn das
eine Anspielung ist: Wassoll sie bedeu-
ten? Hösle fragt:„Dochwer is tder
Papst?“ Undgibt die Antwort: „Der Stell-
vertreterChristi.“Vordem Auge des ge-
lehrtenDeuter sfällt, wie er selbstsagt,
„der Vorhang“: Paulinesfast nackterKör-
per ähnelt demtotenChristus auf dem
Grabtuch, und Hösle schlägt sogar ein
Vorbild aus der bildendenKunstvor,das
GemäldevonPhilippe de Champaigne im
Louvre.Nunpasstalles ins Bild:Pauline,
die ihrem verhindertenVerführer so-
gleichverzeiht,verkörper tinder gefalle-

nen Welt desFilms diereine Güte, und
der Tritt der Erwachten gleichAufer stan-
denen „korrespondiertmit ChristiTri-
umph über denTod“.
Hösle hält „die ikonologische Anspie-
lung“ für „offensichtlich“, sobald man sie
bemerkt hat.Aber dieIkonologie,derver-
steckt eSymbolismus,istderParadefallei-
nerliterarischenTechnikderBedeutungs-
erzeugung durch Verweis aufAbwesen-
des, die das Kino nachRohmersLehre
nicht nötig hat.Damit wir inPaulines
halbnacktem Leib ein Christussymbol er-
kennen, istsogareine doppelteErsetzung
oder Stellvertretung erforderlich, mit
dem Zwischenglied desPapstes.
Mag hier mit dem professionellenZei-
chenjäger der fromme Eifer durchgegan-
gensein, so istesgleichwohl nicht abwe-
gig, derwortlosen BegegnungvonHenri
und Pauline, einer Slapstick-Einlagein
der Komödie desverführerischenRede-
schwalls, eine metaphysische Bedeutung
beizulegen. Man mussnur näher bei dem
bleiben,wasman sieht. Marco Grosoli
hat in seinem 2018vonAmsterdam Uni-
versity Pressverlegten Buch„Eric Roh-
mer’s FilmTheory“ dargelegt, wie der
Filmkritiker sichvon Sartre zuKant be-
kehrte.Rohmer hat selbstvon einerKon-
version gesprochen, die er beim Betrach-
tenvon Roberto RossellinisFilm„Strom-
boli“ erlebt haben will.Wo Sartr eden er-
zählenden Künstenaufgegeben habe,
nachdem Vorbild derRomane Faulkners
und Hemingwaysdie Spur einesvonder
Übermacht der Dingwelt erdrückten In-
nenlebens zuverfolgen, auchwenn die
Freiheit für ihnkontrafaktisches Projekt
gewesen sei, da habeRohmer,soGrosoli,
dem Filmzugetraut, die Schönheit einer
Natur sichtbar zu machen, die wir uns nur
als vollständig gesetzmäßig determiniert
vorstellen könnten. ImVorstellungshaus-
halt einerWelt ausKörpernbleibt die
Freiheit derFremdkörper.
Pauline wehrtHenrilaut Hösle „mit
dem elegantestenTritt der Filmg eschich-
te“ab. Worinliegt die Eleganz?Pauline
nimmt Henriseinen Übergriffnicht übel,
weil kein böser Gedanke, aber auchkein
GefühlihrBeinin Bewegung versetzt hat.
Sie bleibt unbelastet, und als bloßerRe-
flex istdieseAktionsozusageneinGe gen-
stück zuKants guterTat: Wo Kant die
Durchbrechung des Determinismus unter
dem Namen einerKausalität ausFreiheit
postuliert, da zeigt derFilm in diesem ei-
nen Moment soetwa swie eineFreiheit
aus Kausalität.Zwischen Pauline und
dem Verführer mussder Zuschauer nicht
Partei nehmen; auchdiese Entscheidung
erübrigt derTritt.Denn nicht auf dessen
Erfolg, sondernauf die Ausführung
kommtes an,gemäßderFragedesAu fsat-
zes von1951: „Welchen besseren Richter
gibt es für dieAuthentizität der Geste als
ihreWirksamkeit?“ PATRICKBAHNERS

Wemwirft Eric Rohmer (21. März1920 bis 11. Januar 2010) in „Pauline amStrand“ denRettungsring zu?Vielleicht demvonder IkonologieverführtenDeuter. FotoUllstein

Jetztganz


zeitgemäß


Die MesseohneVolk


DerTritt


In einem anderenFilmwirdder Malergenannt, also könnteRohmer das Bild im Sinngehabt haben: Dertote ChristusvonPhilippe de Champaigne hängt im Louvre. FotoArchiv

„Italia spezzata“ titelte„La Repubbli-
ca“ am Samstag: Italien zerbrochen.
Das bezog sichkonkretauf wenig ab-
gestimmteVerordnungen, Maßnah-
menundZeitpläne,dievonRegionen
und Kommunen imKampfgegen Co-
vid-19 erlassen wurden–und meinte
zugleichdie Tragödie des Landes.
Warumgerade wir? DieseFragestel-
len sichdie Italiener immer wieder:
Warumtraf dasVirusuns zuerst und
bisher in Europa amstärksten? War-
um haben wir die meistenToten zu
beklagen–seit vergangenem Don-
nerstag mehr als China?
ZurErklärung wurden bishervor
allem vier Gründe angeführt. Ers-
tens: Italien istdas Land mit der
zweitältestenBevölkerung derWelt,
23 Prozent der Einwohner sind mehr
als 65 Jahrealt;nur in Japan istder
Anteil nochhöher (28 Prozent), in
Deutschland sind es 21, in denVerei-
nigtenStaatensechzehn,in China
zwölf Prozent.Zweitens: DasZen-
trum der Epidemie liegt in derPo-
Ebene, dem dichtbesiedelten wirt-
schaftlichenZentrum des Landes,wo
die Luftverschmutzung besonders
hochist und viele Menschen unter
Atemwegsbeschwerden leiden. Drit-
tens: Italien hat als erstes europäi-
sches Land die direkten Flugverbin-
dungen nachChina schon am 31. Ja-
nuar untersagt;dochdas Verbotwur-
de zum Bumerang, da vielePassagie-
re daraufhin über andereLänder ein-
reistenund bei der AnkunftinItalien
nicht einmalgetestet wurden.Vier-
tens:Dasöffentliche Gesundheitssys-
teminder Lombardei isteines der
bestenimLand,dochwurdendie Mit-
telfür Forschung in denvergangenen
zehn Jahren um 21 Prozentgekürzt.
In einerStudie,die am Leverhulme
Centrefor Demographic Science der
Universität Oxforderarbeitet wurde,
hat eineForschergruppe um die De-
mographinundEpidemiologinJenni-
ferBeam Dowd nun eineReihe von
demographischen,sozialenundfami-
liären Strukturen,die Norditalienprä-
gen, mitdemVerlaufundderAusbrei-
tung desVirusinBeziehunggesetzt.
Das hohe Durchschnittsalter wird
mit der oftgroßen und intensiven
Nähe inZusammenhang gebracht,
dievieleItalienerzuihrenEltern,Ge-
schwistern und Großelternhaben.
Selbstwenn sie nicht mehr unter ei-
nem Dach leben,wohnen sie oftin
derNachbarschaftundsehen sichtäg-
lich. Der Generationenkontakt ist
eng,Umarmungen undWangenküsse
sind selbstverständlich. Dabei sind,
so die neuestenDaten desNationa-
len Instituts fürStatistik ,mehr als die
Hälfte der Arbeitnehmer inNordita-
lien Pendler:Von ihren Heimatorten
imGroßraumMailandfahrensiemor-
gensindieStadt,wo sieKontaktzuei-
ner internationalencommunityha-
ben, und abends wieder nachHause.
„DieseWechs elwirkungen,Nach bar-
schaftsverhältnisse undPendlermus-
terdürften“, soformuliertdie Studie
vorsichtig, „denAusbruc hbeschleu-
nigt haben.“ Dasssie die Älteren an-
stecken, hätten die Jüngeren, da sie
keine Symptome zeigten,garnicht
mitbekommen.
Die Hypothese würde aucherklä-
ren, warumdie er sten Fälle nicht in
Mailand, sonderninder Pr ovinz
Lodi, in und um die Kleinstadt Codo-
gno, auftraten. Besonderskritischse-
hen dieForscher die „Sandwich-Ge-
neration“ derVierzig- bisFünfzigjäh-
rigen,die sowohlfür ihrealtenEltern
als auchfür ihr eKinder sorgen(müs-
sen): Da sie sichnachbeiden Seiten
schwertun, soziale Distanz zu halten,
würden sie leichtÜbermittler desVi-
rus. Auch dasssichdas Epizentrum
der PandemievonLodi in dieNach-
barpr ovinz Bergamo verlager te und
dortschonam13.Märzmehralsdop-
pelt so vieleFälle (2368 zu 1133)re-
gistriertwurden, kann die Studie
plausibel machen: Während Codo-
gnoam 23.Februar zurrotenZone er-
klärtwurde, galt die Ausgangssperre
in Bergamo, obwohl dieFallzahlen
seit dem 24.Februar sprunghaftan-
stiegen, erst vom8.Märzan, als sie
auf dieganze Lombardei und vier-
zehn weiter eProvinzen ausgedehnt
wurde. DieNach richtsickertebereits
am Vorabend durch,und soflohen
mehreretausendStudentenkur zent-
schlossen aus demNord en und fuh-
renzuihren Familien in den Süden.
In derAbsicht, sichinSicherheit zu
bringen, brachten sie ihreNächs ten
in Gefahr.Ein hoher Anteil der Infi-
zierteninApulien sind, so wurde in-
zwischenfestgestellt, Elternvon Kin-
dern, die in der Lombardei undVene-
tien studieren.
„Istdie Familie, die den Sozial-
staat ersetzt,die Achillesferse Ita-
liens?“ DieseFragewurde Valentina
Rotondi ,die als Post-Doc in Oxford
forschtund an derStudie mitgearbei-
tethat, in einem Interviewdes
WDR-ProgrammsRadio Coloniage-
stellt.Die Antwortder Soziologin
aus der Lombardeiwareindeutig:
„Ja! DieFamilie istein ganz großer
Reichtum für die Italiener.Aberein
stärkererSozials taatkönnte eine
Chance sein.“ ANDREASROSSMANN


Wiesollman sic heine philosophische


Anspielung im Werkvon EricRohmer


vorstellen, wenn derFilm na ch seiner


Überzeugungohne Verweise au skommt?


Warum


Italien?


Eine OxforderStudie


versucht eine Erklärung

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