Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
Unsere Welt ist eine, in der es Fußballnatio-
nalmannschaften und Frauenfußballnati-
onalmannschaften gibt. Eine, in der
Schutzmasken nicht richtig über die Ge-
sichter von Frauen passen und Sicherheits-
gurte nicht richtig über Brüste, in der
Spracherkennungssoftware hohe Stim-
men schlechter versteht, in der Smart-
phones sich mit kleinen Händen schwieri-
ger bedienen lassen. Eine, in der Frauen
mit Herzinfarkt schlechter behandelt wer-
den, weil sie oft untypische – das heißt,
nicht-männliche – Symptome zeigen.
Schon in guten Zeiten werden Frauen
zu oft übersehen. In Krisen wächst ihre Un-
sichtbarkeit, weil ein altes Vorurteil umso
berechtigter erscheint: Erst einmal gehe
es um Menschenleben, dann um Ge-
schlechtergerechtigkeit. Die Rechte der
halben Bevölkerung werden als Interesse
einer Minderheit missverstanden. Dabei
zeigen die wenigen Daten, die wir haben,
dass Frauen überproportional betroffen
sind von Konflikten, Naturkatastrophen –
und Pandemien. In Pandemien sterben ge-
nerell mehr Frauen als Männer. Laut WHO
kann die Überzeugung, Geschlecht sei un-
bedeutend, Präventions- und Eindäm-
mungsmaßnahmen behindern und Ver-
breitungswege verschleiern. Frauen küm-
mern sich zuhause häufiger um Kranke
und stellen auch in Kliniken den Großteil
der Pflegerinnen sowie Putz- und Wasch-
kräfte, die weniger Schutz und Unterstüt-
zung erfahren als (traditionell männliche)
Ärzte. Vielerorts bereiten Frauen die Leich-
name auch Infizierter für Beerdigungen
vor. Frauen können nicht immer autonom
entscheiden, Gesundheitsratschlägen zu
folgen. Inmitten von Chaos und gesell-
schaftlichem Zusammenbruch verstärkt
sich die Gewalt gegen Frauen.
Manchmal ist es schwierig, zu erklären,
warum es Feminismus noch braucht; war-
um auch die Sache mit den Fußballnatio-

nalmannschaften keine Kleinigkeit ist,
sondern Ausdruck eines fundamentalen
Problems. Das fundamentale Problem:
Frauen sind keine Abweichung, und sie
sind auch keine kleinen Männer; sie ma-
chen die Hälfte aller Menschen aus und
sollten auch so behandelt werden.
Es war schwierig, das zu erklären. Dann
erschien Caroline Criado-Perez’ Buch „Un-
sichtbare Frauen. Wie eine von Daten be-
herrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung
ignoriert“, dem die obengenannten Infor-
mationen entnommen sind. 2019 kam es
auf Englisch heraus, im Februar 2020 in
der deutschen Übersetzung von Stephanie
Singh. Die Autorin und Aktivistin be-
schreibt verständlich und überzeugend,

wie Frauen im Alltag und im Beruf, in De-
sign und in der Medizin, im öffentlichen
Leben und in Krisen benachteiligt wer-
den, weil Daten über Männer den Großteil
unseres Wissens ausmachen. Frauen sind
unsichtbar – außer, wenn es um Sex und
Care-Arbeit geht. Criado-Perez plädiert
für einen Systemwandel; sie zeigt, dass
Frauen nicht vergessen werden, wenn sie
in der Forschung, in Unternehmen und in
der Politik vertreten sind. „Unsichtbare
Frauen“ stand in Großbritannien 16 Wo-
chen auf der Bestsellerliste, gewann zwei
Preise und wurde mittlerweile in 13 Län-

der verkauft. Das Buch ist ein Mammut-
werk, ambitioniert, akribisch recher-
chiert, voll entsetzlicher, nützlicher Stu-
dien und Statistiken; eine Fundgrube an
Argumenten für Feministinnen und Femi-
nismus.
Dabei lässt sich einiges gegen das Buch
einwenden. Criado-Perez betont, dass es
fundamentale biologische Unterschiede
zwischen Männern und Frauen gibt, und
übersieht dabei, dass biologisches wie sozi-
ales Geschlecht ein Spektrum sind. Dass
es verschiedene biologische Marker für Ge-
schlecht gibt, die unterschiedlich kombi-
niert sein können – Chromosomen, Hor-
mone, primäre und sekundäre Ge-
schlechtsmerkmale, und so fort. Biologin-
nen wie Anne Fausto-Sterling weisen dar-
auf seit Jahrzehnten hin; auch das deut-
sche Personenstandsrecht kennt seit gut
einem Jahr die Option „divers“. Criado-Pe-
rez wirft anderen vor, Frauen zu ignorie-
ren; sie ignoriert nicht-binäre und trans
Menschen. Und sie macht ebenjenen Un-
terschied stark, den andere für ohnehin
viel zu prominent halten; den zwischen
Männern und Frauen.
Gerade in der Medizin könne darüber
hinaus das Beharren auf die Verschieden-
heit der Geschlechter andere wichtige Fak-
toren verdecken, warnt der Soziologe Ste-
ven Epstein: sozialer Hintergrund, Fitness
oder Familiengeschichte zum Beispiel.
Und: Nicht immer wurden Therapien
hauptsächlich an weißen Männern getes-
tet; versklavte Menschen etwa mussten
medizinische Experimente über sich erge-
hen lassen, Männer und Frauen.
Das muss weiter diskutiert werden, än-
dert aber nichts daran, dass Criado-Perez
mit ihrem Hauptanliegen Recht hat: Es
muss Schluss sein damit, dass eine Bevöl-
kerungsgruppe auf Kosten anderer zur
Norm erhoben wird. Dieses Buch ist ein
Wendepunkt. agnes striegan

von lothar müller

A


us der Gewohnheit, Geheimnis-
se zu haben, ist die Autorschaft
der englischen Autorin Jane
Fairfield hervorgewachsen.
Und aus der Lektüre von Aben-
teuerbüchern „für Jungens“. Das war ihre
Vorschule. Als sie Joseph Conrad entdeck-
te, wurde er ihre Hochschule, ihr Oxford.
Noch im hohen Alter geht ihr „Der Geheim-
agent“ nach, und manchmal äußert sie
den Gedanken, auf den Conrad sie ge-
bracht hat: dass alle Schriftsteller Geheim-
agenten sind.


Graham Swift, 1949 in London geboren,
hat 2016 mit seinem Buch „Mothering Sun-
day“ („Ein Festtag“), ein Hochplateau sei-
ner Erzählkunst erreicht. Traumwandle-
risch sicher geht er in der Geschichte des
Waisenkindes und Dienstmädchens Jane
Fairfield, das zur erfolgreichen Schriftstel-
lerin wird, an allen Untiefen der Sentimen-
talität vorbei, obwohl ein herzzerreißen-
des Liebesabenteuer im Zentrum steht.
Das hinreißend erzählte Abenteuer, das im
Todesjahr Joseph Conrads, 1924, seinen
Höhepunkt erreicht, ist in ein Porträt der
englischen Provinz nach dem Großen
Krieg eingebettet. Kälteschauer, die aus
der Klassengesellschaft hervorgehen,
durchziehen die Liebesgeschichte zwi-
schen dem Dienstmädchen und dem jun-
gen Herrn aus bestem Hause. Aus Fotogra-
fien auf Schreibtischen und Salonmöbeln
blicken gefallene Söhne auf ihre Eltern. Vie-
les bleibt ungesagt, Lücken aus nicht Er-
zähltem tun sich auf, ob der Tod des Gelieb-
ten ein Unfall oder Selbstmord war, bleibt
ein Rätsel.
Immer schon hat Graham Swift die
Abenteuer, die in so vielen Romanen Jo-
seph Conrads auf hoher See und in den In-
selwelten des Fernen Ostens stattfinden,
in den Alltag der „ordinary people“ in Eng-
land selbst verlegt. Auch darum ging Jane


Fairfield in ihrer Conrad-Lektüre den Weg
von der Erzählung „Youth“, wo Marlow von
seiner Erstbegegnung mit dem Fernen Os-
ten berichtet, zum Roman „Der Geheim-
agent“, in dem die engen Straßen Londons
zum Terrain von Gefahren und Geheimnis-
se werden, die denen auf hoher See nicht
nachstehen. Der neue Roman von Graham
Swift „Here we are“ („Da sind wir“) ist auf
dem Hochplateau von „Mothering Sun-
day“. Er schreitet vom historischen Echo-
raum des Ersten Weltkriegs zum Zweiten
Weltkrieg voran, ruft eine kollektive Erfah-
rung auf, die Evakuierung der Kinder aus
London nach Kriegsbeginn im Jahr 1939.
Eines dieser Kinder ist Ronnie Dean, der
bei einem elternlosen Ehepaar in der Nähe
von Oxford Aufnahme findet. „Evergrene“
heißt das geräumige Haus von Mr. und
Mrs. Lawrence, es ist mit den Höhlen ver-
wandt, in denen manchmal in Märchen die
Kinder für lange Zeit verschwinden. In Mr.
Lawrence steckt der Magier „Lorenzo“, aus
den Jahren, die er in „Evergrene“ ver-
bringt, kehrt Ronnie als junger Zauberer in
die Nachkriegswelt zurück. Mindestens so
lebhaft wie die Erinnerung an seinen Va-
ter, der auf einem Handelsschiff zur See
fuhr, bereits im ersten Kriegsjahr als ver-
misst gemeldet wurde und nun „bei den Fi-
schen schläft“, ist die Erinnerung an den
Papagei, den der Vater früher einmal mit
nach Hause brachte und den die für exoti-
sche Wesen unempfängliche Mutter heim-
lich an einen Tierhändler verkauft hat.
Graham Swift wäre nicht Graham Swift,
wenn er mit dieser Kindheitsgeschichte be-
ginnen würde. Längst ist er ein Virtuose im
aufgeschobenen, fragmentierten Erzählen
nachgetragener Vorgeschichten. So auch
hier. „Here we are“ beginnt, als werde ein
Vorhang weggezogen, mit dem Blick in ei-
ne Seitenkulisse einer Varietéshow im See-
bad Brighton in Sussex. Der Blick fällt auf
Jack, den Conferencier, der gerade sein
Lampenfieber bekämpft, ehe er die Bühne
betritt. Es wird nicht lange dauern, bis die
Erzählerstimme ein Trio auf der Bühne ver-
sammelt hat, Jack Robbins, den Entertai-
ner, Womanizer und Schauspieler, Ronnie
Dean, den Zauberer und Evie White, seine
Assistentin. Und als sei er der Pianist, der

die Show untermalt, lässt der Erzähler,
während er die Plakate für die Sommersai-
son des Jahres 1959 in Brighton ins Auge
fasst, Standardmotive anklingen, die sich
im Lauf der Geschichte unweigerlich zu ei-
ner bekannten Melodie zusammenfügen,
zur Ballade einer Dreiecksgeschichte.
Für das Publikum in Brighton geht aus
ihr das plötzliche Verschwinden des Zaube-
rers hervor, das die Polizei beschäftigt und
die Zeitungen zu mäßig witzigen Über-
schriften inspiriert, in denen ein Zauberer
sich selbst fortzaubert. Für das Lesepubli-
kum von „Here we are“ aber tut sich ein
Spiegelkabinett auf, in dem das Trio in im-

mer neuer Beleuchtung erscheint. Es ist zu
sehen, wie der Zauberer und Evie zum
Paar werden, wie Evie an einer entschei-
denden Weggabelung der Geschichte, als
sei ihr der Weg vorgezeichnet, zu Jack über-
läuft und fortan mit ihm durch Leben geht.
Seine innere Spannung aber gewinnt
dieses Buch dadurch, dass der Zauberer in
diesem Spiegelkabinett nicht verschwin-
den kann. Das Erzählen verwandelt ihn in
einen Wiedergänger, in ein Gespenst, aus
dem der Verschwundene wie eine fortge-
zauberte Taube jederzeit wieder auftau-
chen zu können scheint. Diesen Schwebe-
zustand erreicht die Erzählerstimme da-
durch, dass sie ihre Geschichte schon lan-
ge, ehe sie auf ihr Ende zusteuert, in einen
doppelten Zeitrahmen spannt. Wie Jane
Fairfield in „Mothering Sunday“ geht Evie
White als junge Frau, die ein Liebesaben-
teuer erlebt, und zugleich als alte Frau, die
auf ihre Jugend zurückblickt, durch „Da
sind wir“. Ihren Mann, Jack Robbins, des-
sen Managerin sie war, als er sich vom En-
tertainer zum Erfolgsschauspieler und Pro-
duzenten mauserte, hat sie überlebt. Den
Zauberer nicht.
Jane Fairfield würde sagen, sie hat mit
Jack eine „story“ erlebt, und mit Ronnie
das, was bei Joseph Conrad „Narrative“
oder „Tale“ heißt, durchaus mit Anklän-
gen an die „Fairy Tales“, die Märchen. Ron-
nie ist mit dem Wunderbaren im Bunde,
mit dem exotischen Papagei seiner Kind-
heit, die Geschichte seines Verschwindens
erschöpft sich nicht in der Geschichte ei-
nes Liebesverrats. Er hat seine Assistentin
und Geliebte in dem Moment verloren, in

dem er dabei war, von den Tricks der ge-
wöhnlichen Zauberei ins Reich der höhe-
ren Magie, in die Welt der leibhaftigen Illu-
sionen vorzustoßen. Schon hatte er seinen
Namen geändert, schon war aus Ronnie
„Der große Pablo“ geworden, dass er kurz
vor seinem Verschwinden Regenbogen auf
die Bühne zauberte und statt Tauben ei-
nen Papagei herbeizauberte, war das Si-
gnal zum Aufbruch.

„He was moving from magic towards wi-
zardry“, heißt es im Original. „Ronnie ent-
fernte sich von der Zauberei und wandte
sich der Magie zu“, übersetzt Susanne Hö-
bel, die ihre nicht eben leicht Aufgabe auch
hier überzeugend löst und die „Zauberei“
konsequent den „Tricks“ zuordnet.
Nicht selten sind Zauberer im Film und
in der Literatur dämonische Verführer.

Graham Swifts Zauberer, gesehen durch
die Augen von Evie White, ist eher eine Fi-
gur der Selbstreflexion. Wie der Magier ist
der ingeniöse Erzähler ein Illusionist.
Nicht lediglich in dem Sinn, dass er in seine
Trickkiste greift, sondern in dem tieferlie-
genden, dass er mit den Illusionen im Bun-
de ist. Alle Schriftsteller sind Geheimagen-
ten, sagt Jane Fairfield. Sie sind es, fügt
Graham Swift hinzu, weil alle Menschen
Geheimagenten ihres Lebens sind, weil sie
so vieles nicht erzählen, nicht preisgeben.
Er weiß sich in der Grundmelodie einig
mit dem Song „Both Sides Now“ von Joni
Mitchell, deren Vers „It’s life illusions I re-
call“ er seinem Roman als Motto vorange-
stellt hat. Die Zeile, auf die sich das reimt,
„I really don’t know life at all“, hat er wegge-
lassen. Sie schwingt aber mit. Sie ist das
Credo dieses Erzählers, und dreimal darf
man raten, ob er am Ende das Geheimnis
lüftet, wohin der Große Pablo verschwun-
den ist. „Als sein Atem ihr Ohr streifte,
musste er plötzlich an das Meeresge-
räusch denken, das man angeblich in Mu-
scheln hören konnte. Das würde man nicht
als Trick bezeichnen, dachte er, da wäre Il-
lusion das richtige Wort.“ Ausgerechnet
Jack, an den der Große Pablo Evie verliert,
findet dieses suggestive Bild für den Unter-
schied von Trickzauberei und Magie. Über
Graham Swifts Hochplateau des Erzählens
aber schwebt Pablos Regenbogen.

Graham Swift:Da sind wir. Roman. Aus dem Engli-
schen von Susanne Höbel. Dtv, München 2020. 160
Seiten, 20 Euro.

Caroline Criado-Perez:
Unsichtbare Frauen. Wie
eine von Daten beherrsch-
te Welt die Hälfte der
Bevölkerung ignoriert.
Aus dem Englischen
von Stephanie Singh.
btb Verlag München,


  1. 515 Seiten, 15 Euro.


Graham Swift wurde 1949
in London geboren.
FOTO: IMAGO/LEEMAGE

Ins Unsichtbare gedrängt


Caroline Criado-Perez kritisiert die Ignoranz gegenüber Frauen


Schwebend


Graham Swift erzählt in


„Da sind wir“ virtuos von einer Welt


zwischen Trickzauber und wahrer Magie


Alle Schriftsteller sind


Geheimagenten, weil alle


Menschen es sind


„Here we are“ beginnt in einer Varietéshow im Seebad Brighton in Sussex. FOTO: SSPL/GETTY IMAGES

18 FEUILLETON LITERATUR HF2 Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


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