Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

DEFGH Nr.68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 53


STIL


D


ie Zeiten ändern sich und damit
die Sex-Symbole! Seit Wochen
hängen wir dem Virologen Chris-
tian Drosten an den sinnlichen Lippen
und fragen uns, warum der eigene Gatte
nichts Anständiges gelernt hat und
waschlappenartig über Börsenverluste
jammert. Den Drosten kann man schon
aus dem Labor rauslassen: Seine Ja-
cketts von der Stange sind nicht ganz so
breitschultrig verschnitten, wie man das
von einem Wissenschaftler erwarten
würde; trotzdem verbreitet er beflissen
den Eindruck, dass er nur mal eben
schnell den weißen Kittel gegen die Not-
jacke ausgetauscht hat, die im Labor für
den Fall im Schrank hängt, dass die Re-
gierung ruft. Er flitzt da sogar mit dem
Fahrrad hin, hat er mal erzählt! Ob er bei
diesem Abenteuer einen Helm trägt? Ist
der Fahrradhelm gar die neue Superhel-
denmaske? Und die Haare! Geradezu
lausbübisch wirkt dieser Kurz-vor-raus-
gewachsen-Schnitt, den sonst nur Italie-
ner tragen. Wirklich gerne wüsste man,
ob er sich im normalen Leben verwegen
die Strähnen aus der Stirn streicht und
damit Doktorandinnenherzen zum
Schmelzen bringt. Aber ins Gesicht
fassen ist ja leider grade verboten.
Bleibt also die Frage, warum einer, der
im Moment viel damit beschäftigt ist,
mit Podcast-Timbre seine Meinungen
vom Vortag zu revidieren (und zu erklä-
ren, warum man revidieren muss), der
Posterboy der Stunde ist. Ganz einfach:
Er zeigt uns, dass unsere Aufmerksam-
keitsspanne entgegen allen kulturpessi-
mistischen Theorien doch ein bisschen
länger ist als die eines Goldfischs. Fühlt
sich geradezu sexy an.julia werner


von claudia fromme

A


ls Mensch mit einer gewissen
Distanz zur eigenen Unord-
nung ist man erstaunt, welche
Bekenntnisse man inzwischen
findet, wenn man Hilfe bei der
Raumpflege sucht. Natürlich geht es in
den Annoncen in Zeitungen und im Inter-
net auch um Sauberkeit, aber vor allem le-
sen sie sich wie Bewerbungen fürs mittle-
re Management. François schreibt: „Ich
freu mich immer auf neue Herausforde-
rungen.“ Dior erklärt: „Keine Herausforde-
rung ist zu groß.“ Und Zlatina präzisiert,
halb reimend: „Keine Herausforderung ist
für mich zu groß, jedes Haus glänzt nach
meinem Besuch.“ Verstanden,no non-
sense. Ein Solitär ist da eine Anzeige wie
die von Ernest: „Cleaning is my hobby.“
Nein, Ernest. Darum geht es nicht. Put-
zen und Aufräumen ist kein Hobby, es ist
längst eine Challenge. Sowieso im Früh-
jahr und erst recht in Corona-Zeiten, in de-
nen alle angesichts der Kasernierung mit
Kind, Partner, Hund merken, dass sie zu
Hause mal wieder klar Schiff machen soll-
ten. Fragte man Anfang dieser Woche
Menschen, die mit oder ohne Kinder im
Heimbüro sitzen, was sie am Wochenende
gemacht haben, sagten sie: Aufräumen.
Fragte man sie ein paar Tage später, was
sie gerade machen neben Home-Office
und Home-Schooling: Ausmisten. Selten
sah man vor den Häusern so viele Kisten
mit Dingen zum Verschenken, selten wa-
ren im Papiercontainer so viele zerfledder-
te Comics und alte People-Magazine, vor
Wertstoffhöfen stauen sich die Autos.
Draußen mag die Welt in Unordnung sein,
drinnen sind die Verhältnisse sortiert.
In 41 Millionen Haushalten in Deutsch-
land wird selbst Ordnung gehalten, in den
restlichen 3,3 Millionen machen das Men-
schen wie François, Dior, Zlatina und Er-
nest. Nie waren sie so wertvoll wie heute.
Werden sie noch kommen, in Zeiten der
Isolation? Sie sollten besser fernbleiben.
Gut ergehen wird es ihnen in den meisten
Fällen nicht, wenn sie ihren Putzdienst
aussetzen: 90 Prozent der Haushalte las-
sen schwarz reinemachen, kein Staat
zahlt, wenn die Ordnungshüter ausfallen.
Sollte die viel beschworene Solidarität die-
ser Tage nicht auch bedeuten, diese Frau-
en und Männer trotz vorläufiger Putzpau-
se weiter zu bezahlen und sie alsbald or-
dentlich anzumelden?
Das prekäre Reinemachen trägt nicht
dazu bei, dass Putzen ein sonderlich gutes
Image hat. Historisch betrachtet gilt es oh-
nehin als niedere Tätigkeit – durch die Nä-
he zum Schmutz und zum Boden. „Wer
sich bodennah aufhielt, gar auf den Knien
schrubbte, war auch sozial ganz unten an-
gesiedelt, beispielsweise die Scheuer-
magd“, erklärt Nicole Karafyllis von der
Technischen Universität Braunschweig in
ihrem Buch „Putzen als Passion“. Die Phi-
losophin diagnostiziert, dass der putzen-
de Mensch heute alles dafür tut, sich vom
Boden zu entfernen.
Nicht überwältigend viele Menschen
putzen mit Verve, darum schaffen sie ger-
ne eine gewisse Distanz zwischen sich und
dem Schmutz. Und weil man ihn als Feind,
als Eindringling in den eigenen vier Wän-
den sieht, greift man zu den Waffen. Kara-
fyllis nennt das eine „Militarisierung des
Alltags“. Heute gibt es fast jedes Flüssig-
putzmittel mit Sprühpistolenaufsatz, was
Verbraucher- und Umweltschützer monie-
ren, da der größte Teil des Reinigers so in
der Luft landet. Auch bei den Gerätschaf-
ten wird hochgerüstet. Der futuristisch an-
mutende „Spraymop“ zum Beispiel ist ein
Wischer, auf den ein Tank mit Putzmittel
aufgebracht ist, so muss der Aufnehmer
nicht mehr in den Putzeimer getaucht wer-
den. Für hartnäckige Flecken gibt es Bürs-
tenaufsätze für Bohrmaschinen („Dirt
Brush Power Scrubber“). Gegen das neue
Putzarsenal ist die gute alte Kärcher-
Dampfente ein Kinderspielzeug. Um Che-
mie geht es dabei nicht so sehr, Sprühfla-
schen gibt es auch im Biosupermarkt. Es
geht um die Distanz zum Schmutz, die ein
Putzlappen niemals herstellen kann.
Der Putzende hat sich schon länger
räumlich über den Schmutz erhoben, und
nun zündet er die zweite Stufe: das Reine-
machen als Mentaltraining. Beim Aufräu-
men klappt das schon ganz prima. Dort
hat Marie Kondo mit Zen-inspirierter The-
orie und eisigem Lächeln das Monopol auf
die Wahrheit des Pullifaltens und der Re-
galordnung gepachtet. Die Japanerin hat
eine millionenschwere Firma, sie bietet
Kurse im beglückenden Aufräumen an,
schreibt Bücher und hat eine Fernseh-
show bei Netflix. „Does it spark joy?“, fragt
sie Menschen, die ihren Rat suchen und
Kondo zu sich nach Hause bitten. Bei sol-
chen Gelegenheiten sagt sie ihnen dann,
dass sie alte Kleidung oder Krimskrams in
die Hand nehmen sollen. „Entfacht es
Freude in dir? Nein? Dann weg damit!“

Kann man sich das beim Putzen vorstel-
len? Eine Show, in der jemand ein Haar, ei-
nen Fußnagel vom Badezimmerboden auf-
nimmt, eine Wollmaus unterm Wohnzim-
mersofa und sich fragt: „Does it spark
joy?“ Eher nicht.
Oder doch? Die Antwort kommt auch
aus Japan. Von Shoukei Matsumoto, ei-
nem buddhistischen Mönch, der Philoso-
phie und Wirtschaftswissenschaften stu-
diert hat und in Kyoto im Kloster lebt. Ge-
rade ist in neuer Auflage von ihm erschie-
nen: „Die Kunst des achtsamen Putzens:

Wie wir Haus und Seele reinigen“. Für vie-
le ist Reinemachen ein notwendiges Übel,
das es möglichst schnell hinter sich zu
bringen gilt, um sich schöneren Dingen
des Lebens zuzuwenden. Matsumoto
wirbt dafür, es genau anders zu sehen. Er
empfiehlt, die Herausforderung anzuneh-
men, täglich und bewusst zu putzen und
die Tätigkeit nicht zu delegieren.
Der Kern seiner Überzeugung: „Wir
entfernen den Schmutz, um den Geist von
weltlichen Sorgen zu reinigen.“ Dass Put-
zen auch immer eine Reinigung des Geis-

tes mit sich bringt, ist in Japan eine geläufi-
ge Überzeugung. Einer der wichtigsten Or-
te dafür: das Klosett. „Die Toilette ist ein
heiliger Ort“, schreibt der Mönch. Die
Schutzgottheit Usushima-myôô soll dort
ihre Erleuchtung erlangt haben. Also ge-
hört das Klo zu den Orten, die buddhisti-
sche Mönche am gründlichsten putzen.
Auch außerhalb von geistlichen Orten sei
das wichtig, mahnt Matsumoto sanft. Für
das Wohlbefinden und auch das Ansehen:
Ist die Toilette nicht gepflegt, mache das
ganze Haus einen schlechten Eindruck.
Die fernöstlichen Ideen zum Putzen
und Aufräumen haben Eingang in viele
Denktraditionen gefunden. Schon die Re-
formpädagogin Maria Montessori befand:
„Äußere Ordnung führt zur inneren Ord-
nung.“ Psychologen der Universität Minne-
sota haben herausgefunden, dass eine cha-
otische Umgebung kreative Gedanken för-
dern kann, Kollegen aus Montreal ergänz-
ten aber, dass fokussiertes und stressfrei-
es Arbeiten besser in einem ordentlichen
Umfeld gelingt. Im aufgeräumten Home-
Office kommt hoffentlich auch keiner
mehr auf die Idee, dass es okay ist, im Pyja-
ma Telefonkonferenzen abzuhalten.
Linda Thomas hat mehr als zwanzig
Jahre lang eine ökologische Reinigungsfir-
ma in der Schweiz betrieben und hält welt-
weit Seminare, zuletzt in Taiwan, Namibia
und Südafrika. Gerade ist ihr Erfolgsbuch
„Putzen lieben?!“ auf Chinesisch erschie-
nen. „Entrümpeln, Aufräumen und Put-
zen sind altbewährte Mittel, um auch in-
nerlich wieder ins Lot zu kommen“, sagt
sie am Telefon. Gerade in Zeiten, die
durch Angst geprägt seien, sei Struktur
wichtig. „Angst ist ein Kontrollverlust,
und wenn ich die Wohnung in Ordnung
bringe, habe ich wieder Kontrolle über ei-
nen Teil des Lebens.“ Das stärke die Psy-
che. Dass so viele Menschen nun sehr lan-
ge in ihren Wohnungen und Häusern fest-

sitzen, sieht sie auch positiv. Diesen Le-
bensorten käme nun eine neue Bedeu-
tung zu. „Sie sind viel zu oft verwaist, nun
können wir sie wieder mit Leben füllen.“
Nun ja, notgedrungen.
Es ist schon nicht ganz leicht gerade:
Wir kommen kaum mehr raus, und dann
klopft der Frühling noch mit aller Gewalt
ans Fenster. „Die Sonne macht die Rück-
stände der Vergangenheit sichtbar“, sagt
Linda Thomas. Spinnweben, Staubschich-
ten, schmutzige Fenster würden noch
deutlicher zum Vorschein kommen. Ent-

fernen wir diese nicht, legten sie sich wie
ein Schleier auf unser Befinden, weil wir
sie durch das andere Licht nun ständig se-
hen. Die erste Maßnahme: Glasreiniger
raus, Spiritus geht auch. „Ein Haus wirkt
heller und größer, wenn die Fenster ge-
putzt sind“, sagt die Buchautorin. Sie er-
zählt auch von der Jahrtausende alten Tra-
dition der Chinesen, die zum Frühlingsbe-
ginn ihre Häuser putzen, um sie von den al-
ten Dämonen, die im Staub sitzen, zu be-
freien. Für Linda Thomas ist Ordnung-
schaffen immer auch ein spiritueller Akt.

Und wer keine Lust auf Aufräumen
und Putzen hat? Soll es ja geben. Die Reini-
gungsexpertin empfiehlt, erst einmal ein
neues Vokabular zu finden. „Putzen ist so
mit negativen Gedanken behaftet, sagen
wir lieber:Pflegen.“ Die Schweizerin lehrt
weltweit Schüler in achtsamer Pflege ih-
rer Klassenräume, sie lässt in Seminaren
Führungskräfte die Büros, Gemeinschafts-
räume und Toiletten ihrer Mitarbeiter put-
zen, damit sie ein besseres Gefühl für ihr
Team bekommen.
Dabei gehe es viel um Wahrnehmung.
„Die meisten nehmen ihre Umgebung gar
nicht mehr wahr“, sagt Linda Thomas.
Menschen finden schneller Gefallen an
der Raumpflege, wenn sie ihre Sachen mit
Interesse anschauen. Darum müsse man
sich etwa am Anfang des Aufräumens auf
die Türschwelle eines Raums stellen und
sich alles genau ansehen: die Ecken, den
Boden, den Toaster, den Wasserkocher.
Den meisten falle erst dann auf, was zu
tun ist. „Putzen ist eine Schulung in Wahr-
nehmung.“ Viele hätten sie verloren und
gar keine Beziehung mehr zu den Dingen,
die sie umgeben. Darum seien die Häuser
auch so vollgestopft, es werden oft gedan-
kenlos Dinge angehäuft.
Wichtig sei für alle, die nicht allein
wohnten, gemeinsam zu putzen, mit der
Familie und mit dem Partner. „Wenn wir
versuchen, bewusst und mit Liebe diese
Arbeit zu tun und mit Hingabe einen
Raum zu durchdringen, dann verwandeln
wir das Putzen in ein Pflegen.“ Und nur ein
mit Hingabe gepflegter Raum erstrahle in
seiner ganzen Schönheit.
Vielleicht sollten wir Ernests Bekennt-
nis in seiner Anzeige mit anderen Augen
sehen und von der Sprühpistole wieder
zum einfach Putzlappen wechseln, damit
wir wieder näher dran sind an den Dingen,
die uns umgeben. „Cleaning is my hobby.“
Okay, einen Versuch ist es wert.

Virologin


fürs Herz


Posterboy


der Stunde


LADIES & GENTLEMEN


„Wir entfernen den
Schmutz, um den
Geist von weltlichen
Sorgen zu reinigen“,
sagt der Mönch

Wie man am besten
anfängt? Auf die
Türschwelle stellen und
die Dinge betrachten.
Dann läuft’s von alleine

Die Schränke sind voll mit Mehl,
Hülsenfrüchten, Dosentomaten.
Und nun? Fünf Rezepte  Seite 56

Linsenweisheit


Die innere Ordnung


Früher war Putzen eine niedere Tätigkeit. Heute gibt es Kurse im


achtsamen Säubern und unzählige Anleitungen zur Kulturtradition des Aufräumens.


Über eine häusliche Kunst, die gerade hoch im Kurs steht


In Reih und Glied: Wer einen solchen Schrank aufweisen kann, hat zumindest einen Teil seines Lebens im Griff. FOTO: ALL MAURITIUS IMAGES

FOTOS: IMAGO STOCK (2)

V


or vier Wochen kannten wir noch
keine Virologen und erst recht
keine Virologinnen. Jetzt sind sie
so allgegenwärtig, dass sich schon der
leise Wunsch nach einem Virologen-Kar-
ten-Trumpfspiel bemerkbar macht –
Spiele für Zuhause sind ja gerade
äußerst nachgefragt. Frau Professor
Dr. Brinkmann wäre dabei eine starke
Karte, denn sie kann mit Eigenschaften
punkten, die vielen der anderen
Kollegen abgehen – zum Beispiel sieht
man ihr die lange Zeit in Labors über-
haupt nicht an. Sie wirkt im Gegenteil so
vital, dass man ihre Expertise gleich für
lebensnäher und brauchbarer hält.
Anders gesagt: Die versteht doch noch
die Sorge des kleinen Mannes um die
Endlichkeit der Klopapierrolle. Und
während die graugeforschten männli-
chen Kollegen in Talkshows und Aufsa-
gern gerne so tun, als wäre ihr Herz eine
Petrischale, und ohne Wimpernzucken
die voraussichtlichen Toten in Tausen-
derpotenz vorrechnen, hat Frau Brink-
mann eine merkelhafte Ruhe und
Zugewandtheit bei ihren Erklärungen.
Fast glaubt man, es könnte noch alles
gut werden. Die Frau will man jedenfalls
nicht nur als Virologin, die soll auch
Romane einlesen und den Berliner
Flughafen zu Ende bauen. Die Verbin-
dung von weltrettendem Wissen und
weiblicher Anmut ist sowieso unschlag-
bar, ähm, anders gesagt: Auch der
toxischste Mann würde von ihr wohl
den ein oder anderen Ratschlag
befolgen. Extrapunkte gibt es natürlich
auch für den Namen – als Prof. Brink-
mann hat man in Deutschland schließ-
lich auch dreißig Jahre nach der
„Schwarzwaldklinik“ das absolute Ver-
trauen Volkes.max scharnigg

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