Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
von hannah beitzer
und kristiana ludwig

Berlin –Seit dem Tag des Schlaganfalls
hat sich vieles geändert im Leben von Ma-
rie Stolze. Vor allem ist es die Nähe zu ihrer
Mutter. So klar auch die Gedanken sind, so
wenig kann ihre Mutter noch ihren Körper
benutzen. Morgens muss Stolze sie aus
dem Bett hieven. Ohne diese tägliche Umar-
mung müsste sie liegen bleiben, würde
endgültig zum bettlägerigen Pflegefall,
mit gerade einmal 66 Jahren. Doch in einer
Zeit, in der das Coronavirus gerade ältere
Menschen bedroht, in der die Bundesregie-
rung rät, sich voneinander fern zu halten,
bekommt diese Nähe einen bitteren Beige-
schmack. „Ich bin halt so hin und her geris-
sen“, sagt Marie Stolze, die eigentlich an-
ders heißt, und meint sich selbst, aber
auch alle anderen. „Wegen der Kontakte“


wäre es gerade besser, niemand würde ih-
re Mutter im gemeinsamen Haus im Harz
besuchen, nicht die Ergotherapeuten,
nicht die Enkelkinder. Doch wenn sie jetzt
auf ihre Übungen verzichtet, hat das gravie-
rende Folgen für den Körper – und „soziale
Isolation“, wie Stolze es nennt, schmerzt
die Seele. Ihr Schutz vor Corona? Sie desin-
fiziere sich die Hände, sagt sie.
Am Donnerstag hatte sich Bundesge-
sundheitsminister Jens Spahn (CDU) an
die Pflegekräfte des Landes gewandt. „Sie
sind diejenigen, auf die wir uns alle verlas-
sen“, sagte er, um dann eine Liste von büro-
kratischen Neuregelungen vorzutragen:
weniger Papierkram in den Heimen, Extra-
geld für Pflegedienste im Coronastress.
Doch der überwiegende Teil der Pflegebe-
dürftigen in Deutschland lebt nicht im Al-
tenheim, sondern zuhause. Es sind die Fa-
milien, meist die Ehefrauen und Töchter,
die sich um die alten Menschen kümmern



  • und außerdem Hunderttausende Betreu-
    erinnen, die Tag und Nacht in den Haushal-
    ten leben, viele von ihnen aus Polen. Sie al-
    le stellt die Coronakrise jetzt vor besonders
    große Probleme.
    Der Ambulante Hauspflege Dienst im
    niedersächsischen Jesteburg kümmert


sich normalerweise um 850 Menschen,
doch im Moment haben einige Mitarbeiter
neue Aufgaben. Sie nähen Mundschutz-
masken aus Baumwolle, sagt Inhaber Ole
Bernatzki, weil medizinisches Material
überall knapp ist. Sie kümmern sich um
die Kinder, die nicht in die staatliche Notbe-
treuung dürfen, oder telefonieren Behör-
den ab. Während Bernatzki einerseits viel
mehr Pflegerinnen braucht, damit sie sich
bei den Touren von Haus zu Haus abwech-
seln können, um sich nicht gegenseitig an-
zustecken, bestellen andererseits viele Fa-

milien jetzt den Pflegedienst ab: „Warum
schützen Sie sich nicht?“, fragen sie Ber-
natzkis Mitarbeiter. Er kann ihre Sorgen
verstehen. Doch wenn sich die Angehöri-
gen nun nach ihrem Supermarkteinkauf
oder dem Abendessen mit den Kindern
selbst um die Alten kümmern, glaubt er,
sei die Ansteckungsgefahr nicht geringer.
Besonders schwierig sei die Situation
jetzt aber für die Menschen, die keine Fami-
lie haben, die sich um sie sorgt. Bernatzki
betreibt auch eine Tagespflegeeinrich-
tung, die wegen Corona schließen musste.

Viele der Menschen, um die sich dieses
Haus sonst kümmert, „kommen ohne
Frühstück“, sagt er. Sie können sich einen
Betreuer, der sie ähnlich wie die Einrich-
tung tagsüber zuhause versorgt, gar nicht
leisten. „Wir stellen uns auf viel ehrenamt-
liche Arbeit ein“, sagt Bernatzki. So geht es
auch Andreas Kern, der ebenfalls seine Ta-
gespflege in Herzberg schließen musste.
„Da haben sich Dramen abgespielt, es flos-
sen Tränen, bei den Kunden, den Mitarbei-
tern und ehrlich gesagt auch bei mir“, sagt
er. Einige der älteren Menschen müssten

nun ins Heim. Auch bei seinen Pflegern,
die alte Menschen zuhause betreuen, wür-
den Desinfektionsmittel, Handschuhe,
Mundschutz knapp: „Die letzte Lieferung
hat mir irgendjemand komplett aus der
Einrichtung geklaut“, sagt er. „Das, was
wir hier erleben, hätte ich mir nie vorstel-
len können“.
Beim Geschäftsführer von Promedi-
ca24, Peter Blassnigg, steht unterdessen
das Telefon nicht mehr still. Blassniggs Un-
ternehmen vermittelt polnische Betreue-
rinnen an hilfsbedürftige Menschen in

Deutschland. In Stettin bekommen „die
Damen“, wie Blassnigg sie nennt, zunächst
einen Crashkurs Seniorenrettung, bei dem
sie lebensgroßen Puppen im Rhythmus
des Bee Gees-Hits „Stayin’ Alive“ auf die
Plastikbrust drücken müssen. Dann brin-
gen sie die firmeneigenen Minibusse über
die Grenze. Seit einer Woche, sagt Blass-
nigg, stehe man nun an der polnischen
Grenze im Stau.
Justyna Oblacewicz, die beim Deut-
schen Gewerkschaftsbund die überwie-
gend polnischen Frauen berät, die in der so-
genannten 24-Stunden-Pflege arbeiten,
geht davon aus, dass sich im Augenblick
600 000 von ihnen um alte Menschen küm-
mern. Ihr Geschäft beruht auf einem stän-
digen Wechsel zwischen ihrem Einsatzort
und ihrer Heimat. Doch viele derjenigen,
die zurzeit noch in Polen sind, seien durch
die Grenzschließung und das Virus „sehr
verunsichert“, sagt Oblacewicz: „Viele von
ihnen sind deshalb zurückhaltend, jetzt
nach Deutschland aufzubrechen. Sie blei-
ben lieber bei ihrer Familie in Polen. Das
ganze System der 24-Stunden-Betreuung
läuft deshalb Gefahr, dass es nicht mehr
funktioniert und die Betreuung nicht ge-
währleistet werden kann.“
Familien, die eine Großmutter oder ei-
nen Großvater in der Obhut einer polni-
schen Helferin haben, wenden sich dann
zusätzlich an die Pflegedienste. Dabei
spricht Gesundheitsminister Spahn schon
jetzt von einem „doppelten Stress“, dem
die zumeist weiblichen Pflegerinnen ausge-
setzt sind: Durch die bundesweite Schlie-
ßung der Kindergärten und Schulen müs-
sen sie jetzt neben dem Beruf auch noch
die Betreuung der eigenen Kinder organi-
sieren. Die Notbetreuung durch den Staat,
das haben Ärzte und Pfleger in dieser Wo-
che festgestellt, greift oft nicht. Schließlich
gilt sie nur dann, wenn beide Eltern im Ge-
sundheitswesen arbeiten. Doch diese Kom-
bination ist eher die Ausnahme als die Re-
gel, und wer pflegt, trägt meist den kleine-
ren Teil zum Familieneinkommen bei. Das
heißt, die meisten Pflegerinnen können es
sich nicht leisten, die Kinder einfach dem
Partner zu überlassen, so wie es die Landes-
regierungen vorschlagen.
Die Krise legt nun offen, wie die Versor-
gung vieler Menschen schon lange auf den
Schultern von Betreuerinnen liegt, die un-
ter prekären Arbeitsbedingungen in den
Haushalten leben. Auch die Pfleger „tra-
gen nun die Last für die Versäumnisse der
vergangenen Jahre“, sagt die Sozialwissen-
schaftlerin Gabriele Winker: „Aus Solidari-
tät mit den erkrankten Menschen sind sie
jetzt schon am Rand ihrer Kräfte tätig.“ Sie
hofft, dass künftig „viel mehr Menschen
als bisher bewusst ist, was für ein gutes Le-
ben wirklich nötig ist: Gesundheit, Pflege,
Bildung und Erziehung, das sind entschei-
dende ökonomische Bereiche“, sagt sie.

München –Die Pforten von Sankt Markus
in München stehen weit offen. Im Kirchen-
raum sind alle Stühle weggeräumt, statt-
dessen liegen in großem Abstand Sitzsä-
cke herum, dazwischen stehen Liegestüh-
le. Am Altar brennt eine Kerze, an einer Ge-
betswand sind Zettel angepinnt: „Beschüt-
ze meine Familie“. Was aussieht, als hätte
eine Kirchengemeinde vorbildlich schnell
auf die „Abstand-Halten“-Regel reagiert,
ist in Wahrheit eine lange geplante Kunst-
aktion. Und dennoch passt sie nun genau
in die Zeit: Gottesdienste sind nicht mehr
erlaubt, aber täglich empfangen Pfarrer
dort Menschen für eine Stunde zum Seel-
sorge-Gespräch. In sehr weitem Abstand,
von Sitzsack zu Sitzsack.
Die Corona-Pandemie hat in Deutsch-
land und der Welt auch das kirchliche Le-
ben lahmgelegt. Ausgerechnet kurz vor Os-
tern, dem höchsten christlichen Fest. Der
Vatikan feiert hinter verschlossenen Tü-
ren, ohne Gläubige. Das ist ein histori-
scher Einschnitt, der undenkbar schien.
Noch nicht mal in Kriegszeiten oder wäh-
rend mittelalterlicher Epidemien verzich-
tete man im Zentrum der katholischen
Welt auf öffentliche Feiern mit Gläubigen.
Das Bild von Papst Franziskus, der dieser
Tage über die menschenleere Via del Cor-
so spaziert, um in der Kirche San Marcello
al Corso vor dem Pestkreuz zu beten, ging
um die Welt.
Ein einsamer Papst, ein leerer Peters-
platz, leere Kirchen, Ostern alleine auf
dem Sofa? Für viele Christen ist das eine
schmerzhafte Vorstellung, schließlich ge-
hört Gemeinschaft unverbrüchlich zum
christlichen Glauben. Kirchen sollen die
Menschen an wichtigen Stationen ihres Le-
bens begleiten, in Angst und Not. Und
nun, ausgerechnet in Zeiten tiefer Verunsi-
cherung – geht nichts mehr. Was tun? Die

gute Nachricht ist: Die Kirchen werden kre-
ativ. Pfarrer Christoph Wichmann aus der
Gemeinde Sankt Pankratius in Oberhau-
sen hatte zum Beispiel die Idee, jeden Tag
um 19 Uhr eine Kerze ins Fenster zu stellen
und das Vaterunser zu beten und forderte
seine Gemeinde auf, dasselbe zu tun. Viele
Bistümer haben die Idee inzwischen aufge-
griffen. Verbundenheit über die Ferne.
Zudem entdecken Bischöfe, Pfarrer
und Pastorinnen nun im großen Stil das In-
ternet. Aus wie vielen leeren Kirchen nun
sonntäglich Gottesdienste per Livestream
übertragen werden, ist kaum noch zu zäh-
len. Bischöfe veröffentlichen Gebetsimpul-
se online oder wenden sich in Videobot-
schaften an die Gläubigen. Manchmal wir-
ken diese Versuche, in Kontakt zu treten,
ein wenig hilflos. So hat die EKD zum öf-
fentlichen Absingen von „Der Mond ist

aufgegangen“ aufgerufen, von deutschen
Balkonen um Punkt 19 Uhr. Herausgekom-
men sind ein paar unterbelichtete Videos
mit einsam über Blumenrabatte schallen-
de Stimmchen. Der EKD-Ratsvorsitzende
Heinrich Bedford-Strohm hatte eigens sei-
ne Violine ausgepackt – aber italienische
Andrà-Tutto-Bene-Atmosphäre wollte da
nicht so recht aufkommen.
Dabei haben sowohl die evangelische
als auch die katholische Kirche durchaus
ihre Online-Experten. Pfarrerin Theresa
Brückner, die nach einem Kontakt mit ei-
ner Person aus einem Risikogebiet derzeit
selbst in Corona-Quarantäne sitzt, hat so-
gar eine offizielle Pfarrstelle für „Kirche
im digitalen Raum“ inne, im Kirchenkreis
Berlin Tempelhof-Schöneberg. Für ihre
13000 Instagram-Follower vertont sie der-
zeit zu Hause Abendgesänge, liest aus der
Bibel vor, betet. „Christsein und Glauben
feiern geht auch online und digital“, sagt
Brückner. „Ich lebe und erlebe diese Mög-
lichkeiten schon ganz lange, und das wird
jetzt umso mehr gebraucht.“
Der YouTuber und Kirchenmusiker
Ludwig Jetschke, der die christliche On-
line-Community „Lingualpfeife“ und ei-
nen Youtube-Kanal mit fast 17 000 Abon-
nenten betreibt, wird gerade bestürmt
von Anfragen aus Gemeinden, wie man
das mit Livestreams und Youtube-Videos
so hinbekomme. Katholik Jetschke wun-
dert sich. „Jahrelang wurden wir, die wir
Kirche ins Internet tragen wollen, gerade
auch von den offiziellen kirchlichen Stel-
len eher belächelt“, sagt er. „Doch mit dem
fleißig Drauflos-Streamen ist es nicht ge-
tan. Wir müssen uns fragen, wie können
wir im Internet wirklich Gemeinschaft le-
ben?“ Die Gläubigen müssten auch zu
Wort kommen, etwa mit einer Kommen-
tarfunktion in Livestreams.

Doch was ist mit den in der Corona-Kri-
se besonders gefährdeten älteren Men-
schen, denen Instagram und YouTube
fremd sind, die vielleicht nicht mal einen
Internetanschluss haben? Neben einem
ausgeweiteten Angebot an Fernsehgottes-
diensten und Kirchenradio müssen Pfar-
rer auch da kreativ werden. In vielen Diöze-
sen, etwa in München, werden nun Briefe
und Gebetstexte gedruckt und in die Brief-
kästen geworfen. „Wir empfehlen unse-
ren Pfarrern, sich auch selbst telefonisch
bei den Gemeindemitgliedern zu melden,
die sie ja vielleicht kennen durch die regel-
mäßige Krankenkommunion“, sagt Chris-
toph Kappes vom Erzbistum München
und Freising. Auch eine Anleitung, wie
man zu Hause Gottesdienst feiern kann,
soll verteilt werden. Und am Sonntag um
10 Uhr sollen überall die Glocken läuten –
auch wenn die Kirchen leer bleiben.
Alles was sonst den Lauf des Kirchenle-
bens bestimmt – Trauungen, Taufen, Erst-
kommunion, Konfirmation – sind erstmal
verschoben. Beerdigt werden darf noch,
aber nur im engsten Familienkreis und
am offenen Grab. Pfarrer Olaf Stegmann
von der evangelischen Kirche St. Markus
in München hält auch persönliche Seelsor-
ge-Gespräche weiterhin für wichtig. „Im
Moment sind die Medien voller Mahnun-
gen zum Abstandhalten. Ich denke aber,
wir werden über die lange Zeit, die uns
noch bevorsteht, auch Angebote für unse-
re psychosozialen Bedürfnisse brauchen.
Neben dem Körper muss auch die Seele ge-
schützt werden.“ Dann verweist er auf den
Bibelspruch, der mit Kreide auf den Bo-
den des fast leeren Kirchenraums von
Sankt Markus geschrieben ist: „Gott hat
uns nicht gegeben einen Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der
Besonnenheit.“ annette zoch

Berlin– Wolfgang Schäuble gehört dem
Bundestag seit 48 Jahren an, aber so eine
Situation hat auch er noch nicht erlebt.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Par-
laments muss man sich Sorgen um dessen
Arbeitsfähigkeit machen. Was soll passie-
ren, wenn zu viele Abgeordnete an Corona
erkranken, zur Sicherheit in Quarantäne
gehen oder wegen der Ansteckungsgefah-
ren nicht mehr nach Berlin fahren? In ei-
nem Brief an alle Abgeordneten hat der
Bundestagspräsident deutlich macht, um
was es geht: Neben „den notwendigen
Maßnahmen zum Gesundheitsschutz“ sei
es jetzt „oberstes Gebot, die Handlungsfä-
higkeit des Verfassungsorgans zu erhal-
ten“. Außerdem stellte Schäuble klar, dass
der Bundestag dabei „grundsätzlich in ei-
gener Verantwortung und Zuständigkeit“
entscheiden werde. Die Legislative will
sich nichts von der Exekutive vorschrei-
ben lassen. Aber was macht der Bundes-
tag jetzt?
Für den Verteidigungsfall erlaubt das
Grundgesetz die Bildung eines Notparla-
ments. Dieser „Gemeinsame Ausschuss“
hätte 48 Mitglieder und bestünde nach Ar-
tikel 53a des Grundgesetzes zu zwei Drit-
teln aus Abgeordneten des Bundestages
und zu einem Drittel aus Mitgliedern des
Bundesrates. Für den Fall einer Pandemie
gibt es im Grundgesetz jedoch keine ver-
gleichbare Regelung.
Schäuble hat seine Verwaltung deshalb
bereits einen „Aktenvermerk“ mit einem
Vorschlag schreiben lassen. Er liegt der
Süddeutschen Zeitungvor. Darin heißt es,
der Bundestag könne „die ihm durch das
Grundgesetz übertragenen Kompeten-
zen“ nicht durch eine einfache Änderung
seiner Geschäftsordnung auf ein Notparla-
ment übertragen. Durch eine „weitgehend
wörtliche Übernahme bestehender Vor-
schriften zum Verteidigungsfall“ in einem
neuen Grundgesetzartikel ließe sich das


Problem aber lösen. In dem Aktenver-
merk gibt es bereits einen Vorschlag für ei-
nen neuen Artikel 53b.
Darin heißt es unter anderem: „Der
Bundestag bestellt einen Notausschuss.
Die Mitglieder werden vom Bundestag ent-
sprechend dem Stärkeverhältnis der Frak-
tionen bestimmt.“ Im Notfall habe „der
Notausschuss die Stellung des Bundesta-
ges und nimmt dessen Rechte wahr“. Ein
Notfall liege vor, „wenn aufgrund einer
Seuchengefahr, eines Unglücks- oder Ka-
tastrophenfalls oder einer drohenden Ge-
fahr für den Bestand oder die freiheitliche
demokratische Grundordnung des Bun-
des dem rechtzeitigen Zusammentritt des
Bundestages unüberwindliche Hindernis-
se entgegenstehen oder dieser nicht be-
schlussfähig ist“. Doch Schäubles Vorstoß
hat – zumindest derzeit – keine Chance
auf Realisierung.

In den Bundestagsfraktionen heißt es,
zum einen bedürfe es dafür einer Grundge-
setzänderung. Dafür müssten mindestens
zwei Drittel der 709 Abgeordneten stim-
men, aber deren mangelnde Anwesenheit
wegen der Corona-Krise sei doch gerade
das Problem. Außerdem gebe es andere
Möglichkeiten, das Problem ohne einen
derart schwerwiegenden Eingriff in die
Verfassung zu lösen.
Die Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rer der Bundestagsfraktionen haben in
den vergangenen Tagen mehrmals in Tele-
fonschaltkonferenzen mit Schäuble über
solche kleineren Lösungen beraten. Und
eigentlich war man sich in dieser „Schäub-
le-Runde“ schon einig. Sie vereinbarte,
dass die kommende Sitzungswoche des

Bundestags deutlich verkürzt werden soll.
Fast alle Punkte – unter anderem die ei-
gentlich vorgesehene Befragung der Bun-
deskanzlerin durch die Abgeordneten –
wurden von der Tagesordnung genom-
men. Stattdessen soll es mit Ausnahme ei-
ner Abstimmung über das Irak-Mandat
der Bundeswehr nur um Gesetze im Zu-
sammenhang mit der Corona-Krise ge-
hen, samt einer großen Aussprache zu die-
sem Thema. Vor allem aber verständigte
sich die Runde darauf, dass an der Bundes-
tagssitzung nach Möglichkeit nur die Fach-
politiker für die aufgerufenen Themen teil-
nehmen. Das wären insgesamt etwa 250
Abgeordnete. Durch die deutliche Verkür-
zung der Sitzung und die geringere Abge-
ordnetenzahl wäre das Infektionsrisiko
im Plenarsaal erheblich reduziert.
Aber was ist nun mit der Beschlussfä-
higkeit des Bundestags? Hier profitiert
das Parlament von einer besonderen und
schon lange geltenden Regelung. Eigent-
lich ist der Bundestag nur dann beschluss-
fähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mit-
glieder im Sitzungssaal anwesend ist.
Doch solange das niemand formell anzwei-
felt, gilt das Parlament auch bei schlechte-
rer Besetzung als beschlussfähig. Die Par-
lamentarischen Geschäftsführer verein-
barten deshalb eine Pairing-Regelung: Al-
le Fraktionen entsenden gleichmäßig we-
niger Abgeordnete in den Plenarsaal, um
auch bei geringerer Besetzung die Mehr-
heitsverhältnisse zu wahren.
Dabei gibt es jedoch zwei Probleme:
Zum einen kann keine Fraktion einem Ab-
geordneten vorschreiben, eine Sitzung zu
besuchen oder dieser fernzubleiben. Zum
anderen könnte zum Beispiel die AfD-
Fraktion die Beschlussfähigkeit anzwei-
feln und damit für einen Abbruch der Sit-
zung sorgen. Die AfD hat das in den vergan-
genen Jahren mehrmals getan. Doch diese
Risiken hielten die Parlamentarischen Ge-
schäftsführer zumindest für die kommen-
de Sitzungswoche für nicht so groß.
So war es zumindest bis Donnerstag.
Am Freitag gab es dann aber eine entschei-
dende Änderung. Es wurde klar, dass die
große Koalition in der kommenden Woche
auch die im Grundgesetz vorgesehene Not-
fallregelung zur Lockerung der Schulden-
bremse in Kraft setzen will. Dafür ist je-
doch die Kanzlermehrheit nötig, es müs-
sen also mindestens 355 der 709 Abgeord-
neten zustimmen. Union und SPD wollen
diese Mehrheit aus eigener Kraft aufbrin-
gen. Deshalb werden jetzt deutlich mehr
Abgeordnete nach Berlin kommen müs-
sen als ursprünglich vorgesehen. Um die
Ansteckungsgefahr trotzdem klein zu hal-
ten, soll über die Lockerung der Schulden-
bremse aber auf besondere Art abge-
stimmt werden. Während der Debatte sol-
len nur wenige Abgeordnete im Plenarsaal
sein – alle anderen in ihren Büros. Abge-
stimmt wird danach in Urnen außerhalb
des Saals. robert roßmann

Wenn die alten Menschen
zu Hause oder im Heim
von dem Virus betroffen wären,
dann hätte die Notfallversorgung
im Krankenhaus erst ein
richtig großes Problem.“

EUGEN BRYSCH
STIFTUNG PATIENTENSCHUTZ

Notbetreuung


Die meisten Pflegebedürftigen leben nicht im Heim, sondern werden zu Hause versorgt, von Angehörigen
oder von ausländischen Helfern und Helferinnen. Was aber ist, wenn die nicht mehr ins Land kommen?

Andacht in der Community


Wie es gelingt, christliche Gemeinschaft trotz geschlossener Kirchen zu leben


Parlament der leeren Sitze


Wegen der Corona-Krise ringt der Bundestag um seine Arbeitsfähigkeit


„Liebe und Besonnenheit“: Kunstinstallation in der Münchner Sankt-Markus Kir-
che, die durch die Corona-Krise besondere Bedeutung erlangt hat. FOTO: ANNETTE ZOCH

6 POLITIK HF2 Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


Wer kümmert sich um Alte, die ganz allein sind? „Wir stellen uns auf viel ehrenamtliche Arbeit ein“, sagt der Chef eines Hauspflegedienstes.FOTO: UTE GRABOWSKY/IMAGO

Leere unter der Kuppel: Besucher dürfen nicht mehr ins Berliner Reichstagsgebäu-
de, der Bundestag will aber noch tagen. FOTO: CLEMENS BILAN/EPA


Bischöfe stellen Gebetsimpulse
online und wenden sich an die
Gläubigen mit Videobotschaften

Lösungen dringend gesucht:
Was passiert, wenn zu wenige
Abgeordnete anwesend sind?
Free download pdf