Die Welt - 20.03.2020

(C. Jardin) #1

S


eit einigen Wochen ist Pro-
fessor Christian Drosten
das bekannteste Gesicht der
Berliner Charité. Wegen
Sars CoV2, dem neuartigen
Erreger der Atemwegserkrankung Co-
vid-19, ist der Leiter der Virologie an der
Charité momentan medial allgegenwär-
tig. Die Republik hängt gewissermaßen
an seinen Lippen. Jedes seiner State-
ments erfährt enorme Aufmerksamkeit,
löst Hoffnungen und Befürchtungen
aus. „Da wird einem ein bisschen un-


heimlich“, meint der 48-Jährige zu die-
sem für ihn ungewohnten Hype um sei-
ne Person. Hinzu kommen noch aus al-
len Richtungen massenhaft Hass-Mails,
in denen der Professor mal als Verharm-
loser, mal als Scharfmacher angegangen
wird. Wahrscheinlich sei das normal,
meint er. Eine solche Situation, wie sie
die Pandemie medizinisch, ökonomisch
und gesellschaftlich auslöst, ist für die
meisten Menschen hierzulande völlig
ungewohnt.
Nicht zuletzt hat Drosten mit unpo-
pulären Forderungen, etwa was die Ab-
sage von Großveranstaltungen betrifft,
Deutschland aus der anfänglichen Le-
thargie gegenüber Corona gerissen. Das
gilt für die Bevölkerung, aber mehr
noch die Entscheidungsträger.
Das Institut für Virologie am Campus
Charité Mitte fungiert gegenüber dem
Bundesgesundheitsministerium als
Konsiliarlabor. Christian Drosten und
sein Team helfen dem Robert-Koch-In-
stitut, der selbstständigen Bundesbe-
hörde für Infektionskrankheiten, mit
Spezialdiagnostik. „Auch die öffentli-
chen Gesundheitsdienste sollen wir la-
borseitig unterstützen und beraten“, so
der Arzt und Forscher, der auf einem
Bauernhof im Emsland aufwuchs. Seine
ersten wissenschaftlichen Schritte
machte Drosten am Institut für Trans-
fusionsmedizin der Uni-Klinik Frank-


furt, wo er die Testsysteme für das He-
patitis B- und Hepatitis-C-Virus sowie
für HIV-1 entwickelte. Danach baute er
am Hamburger Bernhard-Nocht-Insti-
tut für Tropenmedizin ein interdiszipli-
näres Diagnostiklabor auf und fand da-
bei den Erreger von Sars.2007 trat er
seinen ersten Lehrstuhl für Virologie
am Universitätsklinikum Bonn an. Seit
2012 arbeitet er mit seiner Gruppe in-
tensiv über die übertragbare Atemwegs-
erkrankung Mers, auch hier ist der Erre-
ger ein Coronavirus. Drostens Team hat
für Sars wie für Mers die ersten Dia-
gnostiktests zur Verfügung gestellt,
ebenso für das Zika-Virus.
Auf den Lehrstuhl für Virologie der
Charité wechselte der mittlerweile
hoch angesehene und mehrfach ausge-
zeichnete Mediziner 2017, fast 25 Mitar-
beiter folgten ihm an die Spree. Die
Charité Universitätsmedizin Berlin ge-
hört mit mehr als 3000 Betten nicht nur
zu den größten Universitätskliniken Eu-
ropas, sie ist auch eine der forschungs-
intensivsten medizinischen Einrichtun-
gen in Deutschland. So spielte die Cha-
rité von Beginn an auch bei der Erfor-
schung und Bekämpfung des Coronavi-
rus eine wichtige Rolle.
Bereits im Januar, als der Erreger vor
allem in der chinesischen Provinz Wu-
han kursierte, entwickelte Drosten mit
seinem Team des Deutschen Zentrums
fffür Infektionsforschung (DZIF) an derür Infektionsforschung (DZIF) an der
Charité ein Nachweisverfahren. Dieser
PCR-Test sucht das Erbmaterial des Vi-
rus und wird, mit Ausnahme von China
und den USA, bei Verdacht auf Covid-19
heute weltweit angewandt. „Viele Fir-
men haben diese Testverfahren jetzt

übernommen“, so Drosten. „Das geht
nun in die nächste Entwicklungsstufe,
sowohl für den Einsatz im großen La-
bor wie auch für den Frontbereich, zum
Beispiel in der Ambulanz mit einer klei-
nen Maschine.“ Für flächendeckende
Tests reichen die Laborkapazitäten
nicht aus. Man müsse die Diagnostik als
WWWerkzeug benutzen, um bestimmteerkzeug benutzen, um bestimmte
Zielgruppen, Risikogruppen und medi-
zinisches Personal besonders in den
Fokus zu nehmen.
Eine Entscheidungshilfe, ob man sich
aktuell überhaupt auf SARS-CoV-2 tes-
ten lassen soll, erhält die Berliner Be-
völkerung jetzt über die so genannte
CovApp, welche die Charité mit der ge-
meinnützigen Potsdamer Organisation
Data4Life entwickelt hat. Die App ist
mit einem Fragebogen verbunden. Die
Antworten aus diesem Fragebogen kön-
nen mittels QR-Code anonym an die
Charité übermittelt werden.
Die Gründung der Charité (Franzö-
sisch für „Nächstenliebe“) geht auf eine
Katastrophe zurück. In Osteuropa wü-
tete zwischen 1708 und 1714 die Große
Pest, etwa eine Million Menschen verlo-
ren ihr Leben. Als Reaktion auf den
Schwarzen Tod ordnete Preußens König
die Einrichtung von Lazarett-Häusern
außerhalb der Stadtmauern an. Berlin
blieb am Ende von der Epidemie ver-

schont. Anfang 1727 ließ der Soldaten-
könig Friedrich Wilhelm I. das Lazarett
in ein Bürgerhospital umwandeln, die
Basis für den heutigen, riesigen Klinik-
komplex.
Ob die damalige Bedrohung durch
die Pest mit der gegenwärtigen Lage
vergleichbar ist? Christian Drosten
weicht ein wenig aus. „Wir haben durch
diese Pandemie im Moment eine Situa-
tion, die es lange Zeit nicht mehr gab.
Kein Gesundheitsminister der Bundes-
republik musste bisher so eine Situati-
on stemmen.“ Auch der Politik werde
mehr und mehr klar, dass die Universi-
tätsmedizin die wirkliche Stütze für die
Medizin sei, nicht nur in Berlin: „Am
Ende sind die Uni-Kliniken die Macher!
Sie sind die Berater in die Umgebung.
Alle peripheren Krankenhäuser haben
Chefärzte, die früher an der Uni-Klinik
waren und dort kollegial vernetzt sind.
Die entscheidenden Informationen und
Materialien kommen von der Uni-Kli-
nik, dasselbe gilt für den Laborbe-
reich.“
Viele klangvolle Namen in der Ge-
schichte der ältesten Klinik Berlins ste-
hen für Pionierleistungen der medizini-
schen Wissenschaft. Mehr als die Hälfte
der deutschen Nobelpreisträger für Me-
dizin und Physiologie stammt aus der
Charité. Darunter Robert Koch, Na-

mensgeber des Robert-Koch-Instituts,
der die Bakteriologie und Mikrobiologie
begründete. Oder Paul Ehrlich, dem die
Welt die moderne Chemotherapie ver-
dankt.
Forschungserfolge mit globaler Wir-
kung sind gerade jetzt erneut gefordert.
Besonders wichtig seien klinische An-
wendungsbeobachtungen, so Drosten.
Das gelte für bereits vorhandene Medi-
kamente, die vielleicht auch bei Co-
vid-19 helfen können. Und es gelte für
Maßnahmen, „etwa die Freitestung me-
dizinischer Mitarbeiter, wo man Daten
sammeln und auswerten muss, wie viele
Mitarbeiter sich infizieren“.
Auch wenn die Charité durch For-
schung und Anwendung Grundlagen
liefert: Impfstoffe werden, anders als
manchmal dargestellt, grundsätzlich
nicht an der Uni-Klinik entwickelt, son-
dern von der Industrie oder von For-
schungsverbünden. Drosten: „Wir sind
an mehreren Forschungsverbünden be-
teiligt, die Impfstoff-Entwicklung zum
Ziel haben.“ Etwa beim DZIF, dem
Deutschen Zentrum für Infektionsfor-
schung.
Durch eine Pandemie, so sollte man
meinen, müsste eigentlich die interna-
tionale Zusammenarbeit in der For-
schung forciert werden. „Da gibt es vie-
le Vorhaben und Absichtserklärungen“,
sagt Drosten. „In Wirklichkeit werden
wir alle durch diese Pandemie gerade
vollkommen überwältigt.“ Da sei es
schwierig, mit Arbeitsgruppen, die man
gar nicht kenne, ganz neue Kooperatio-
nen ins Leben zu rufen. „Unsere For-
schungsaufgaben laufen in etablierten,
sehr eingespielten Kooperationsbezie-
hungen, mit Laboren in Deutschland
und Europa. Wir sind schon an ver-
schiedensten Entwicklungs- und For-
schungsvorhaben beteiligt, nicht nur zu
Impfstoffen, sondern auch dort, wo es
um Medikamente, neue Wirkprinzipien,
um Diagnostik geht.“
Aber die Charité ist eben auch ein
Krankenhaus, und nach wie vor nimmt
Christian Drosten seine Aufgaben in der
Patientenversorgung wahr. Auch in die-
ser Ausnahmesituation versucht er, eine
Art von Kernarbeitszeit zu bewahren.
„ Ich bin ja an der Spitze eines großen
Instituts mit mehr als 70 Mitarbeitern.
Wir sind ein so gut eingespieltes Team,
dass es nicht unbedingt darauf an-
kommt, ob der Chef immer da ist. Häu-
fig muss ich nur erreichbar sein.“

FREITAG,20.MÄRZ2020 SPEZIALCHARITÉ – MEDIZIN DER ZUKUNFT


Wie Familien mit der


Diagnose umgehen Seite 5


In der Kinderonkologie


Wie Patienten von der Außen-


welt abgeschottet werden Seite 3


Auf der Isolierstation


Die Charité ist die gemeinsame
medizinische Fakultät von Freier
Universität Berlin und Humboldt-
Universität zu Berlin. Weltweit wird
das Universitätsklinikum als Aus-
bildungsstätte geschätzt. Als Uni-
versität zählt die 1710 als Pesthaus
gegründete Charité zu den ins-
gesamt elf Exzellenzuniversitäten in
Deutschland. Sie verteilt sich auf
vier Campus: den Campus Benjamin
Franklin ,den Lehrbetrieb in Berlin-
Buch, den Campus Charité Mitte
sowie das einst als städtisches
Krankenhaus entwickelte Virchow-
Klinikum in Wedding. Zur Charité
gehören rund 100 Kliniken und In-
stitute, die in 17 „CharitéCentren“
gebündelt sind. Mit 14.576 Beschäf-
tigten, einschließlich Tochterunter-
nehmen sind es 18.010 Beschäftigte,

erwirtschaftet Berlins ältesten
Krankenhausjährlich 1,8 Milliarden
Euro und ist damit einer der größten
Arbeitgeber der Hauptstadt.
Mit 692.920 ambulanten und
1 52.693 stationären Fällen im Jahr
behandelt die Charité mehr Patien-
ten als jedes andere deutsche Uni-
versitätsklinikum. Durch zahlreiche
Sonderforschungsbereiche der
Deutschen Forschungsgemein-
schaft zählt die Charité zur Spitze
der wissenschaftlich-medizinischen
Einrichtungen in Deutschland. Rund
4 255 Wissenschaftler und Ärzte
arbeiten in mehr als 1000 Projekten
und Kooperationen an zukunfts-
weisenden Entwicklungen auf dem
Gebiet der Medizin – interdisziplinär,
mit nationalen und internationalen
Verbundpartnern.

Charité – Universitätsmedizin Berlin

EDITORIAL

FFForschen, orschen,


lllehren, heilen,ehren, heilen,


pppflegenflegen


VON DIETER STOLTE

Uni-Kliniken übernehmen


in Krisenzeiten eine


Vorreiterrolle in


Forschung, Aufklärung


und Politikberatung


VON UWE SAUERWEIN

GETTY IMAGES

/DOWELL

Er erklärt den Deutschen das
Coronavirus: Christian Drosten

PA/DPA/BERND VON JUTRCZENKA

Die Viren-


VERSTEHER


aus Berlin


Telemedizin
Mithilfe von Kameras können Kranke
auch zu Hause betreut werden – genau-
so wie in der Klinik Seite 2

Interview
Professor Heyo K. Kroemer, Vorstands-
vorsitzender der Charité, über die Zu-
kunft des Klinikums Seiten 2/3

Künstliche Intelligenz
Wissenschaftler Robert Gütig denkt
über neuronale Netze nach und könnte
die Medizin revolutionieren Seite 3

Digitales Pilotprojekt
Ein Netzwerk des urologischen Tumor-
zentrums soll die Behandlung von
Prostatakrebs verbessern Seite 4

Gegen Mukoviszidose
Studie zeigt, wie die Lebensqualität von
Patienten mit der Stoffwechselerkran-
kung verbessert werden kann Seite 4

Tiefe Hirnstimulation
Der neurochirurgische Eingriff bei
Parkinson wird durch individuelle
Anpassung immer effektiver Seite 6

Simulationsplattform
Forscher finden neue Möglichkeiten für
die Behandlung von Alzheimer, Schlag-
anfall und Epilepsie Seite 6

Anspruchsvolle Aufgaben
In Studium und Qualifizierung sollen
Pflegende mit wissenschaftlichem Ar-
beiten vertraut gemacht werden Seite 8

INHALT


D


ie Medizin verändert sich wie
alle Lebensbereiche unter dem
Einfluss von Digitalisierung,
künstlicher Intelligenz, Robotik und
einer rasanten Zunahme des Wissens
über den Menschen. All diese Entwick-
lungen fließen in zukünftige Unter-
suchungs- und Behandlungsmethoden
ein, die Ärzte für völlig neue Therapien
nutzen und damit Heilungschancen für
Patienten steigern können.
In der Welt von morgen wird unsere
Gesundheit aber nicht nur von tech-
nischen Innovationen abhängen. Gera-
de der aktuelle Fall der Corona-Pande-
mie, die praktisch die gesamte Mensch-
heit in Atem hält, zeigt, wie wichtig es
sein wird, zukünftig auf die Gefahren
der Globalisierung zu reagieren.
Dabei geht es nicht nur um den
Schutz des mobilen Menschen, der es
gewohnt ist, rund um den Globus un-
terwegs zu sein. Es geht auch darum,
die Menschen in den ärmeren Welt-
regionen am medizinischen Fortschritt
teilhaben zu lassen. Gesundheit darf
nicht eine Frage der finanziellen und
materiellen Möglichkeiten sein.
Mit all diesen Fragen beschäftigen
sich die Forscherinnen und Forscher
an der Charité. Sie ist hierzulande die
bedeutendste Universitätsklinik und
als Heil-, Lehr- und Forschungsstätte
gleichermaßen weit über die Grenzen
Deutschlands hinaus bekannt. Sie be-
legt in den Schwerpunkten ihrer For-
schungsbereiche internationale Spit-
zenpositionen und will diese weiter
ausbauen. Im derzeitigen Kampf gegen
das Coronavirus ist sie mit ihren füh-
renden Köpfen an vorderster Front
dabei. Hier bewährt sich auch die
schon lange gepflegte Zusammenarbeit
mit den Kolleginnen und Kollegen auf
nationaler und internationaler Ebene.
Mit ihrem dicht gewebten Netzwerk
wollen die Mediziner ihr Wissen mit
anderen teilen und von anderen lernen.
Doch im Mittelpunkt aller Bemü-
hungen steht der Mensch. Er ist nicht
der Zweck der medizinischen Wissen-
schaft, sondern sein Wohlergehen ist
vielmehr deren Ziel. Und so stützt sich
die Arbeit an der Charité neben For-
schung und Lehre ebenso auf die Säu-
len Pflege und Heilung.
Professor Dieter Stolte ist Vorstands-
mitglied der Axel-Springer-Stiftung

„Wir werden alle
durch diese Pandemie
gerade vollkommen
überwältigt“:
Christian Drosten
über das Coronavirus

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