Die Welt - 20.03.2020

(C. Jardin) #1
nicht auf die Idee von Hildegard Bentele
gekommen, den Staat um Instruktionen
anzubetteln. Die staatliche Schule war
kein Garant für gute Bildung, sie war ab-
schreckendes Beispiel.
Es herrschte, wie Goethe in „Dich-
tung und Wahrheit“ festhält, ein tiefes
„Mißtrauen gegen den öffentlichen Un-
terricht“. Den Nachwuchs dorthin zu
schicken bedeutete, „die bisher zu Hau-
se abgesondert, reinlich, edel, obgleich
streng, gehaltenen Kinder unter eine ro-
he Masse von jungen Geschöpfen hin-
unterzustoßen“. Noch in Thomas
Manns „Buddenbrooks“ gibt es einen
kategorialen Gegensatz zwischen dem

Hausunterricht und der Erziehungsan-
stalt. Zu Hause werden Sitten und guter
Geschmack herausgebildet. Dort wird
„Streberei, Kriecherei, Betrügerei“ ge-
züchtet, die Schule sei „zu einer fla-
chen, nivellierenden, abstumpfenden,
poesielosen Drillanstalt geworden“.
Aber niemand soll sich von den Idea-
len täuschen lassen. Hauserziehung be-
sitzt nicht selten die Doppelgesichtig-
keit von Elitismus und Gewalt. Das be-
ginnt im antiken Athen, wo es zwar
Hauslehrer gab, paidagogos (daher
stammt der Pädagoge), aber die waren
in Wahrheit nur Sklaven, welche die
Bürgersöhne auf dem Weg ins Gymnasi-

on begleiteten. Diese vermeintlichen
Pädagogen hatten das Recht zu harter
körperlicher Züchtigung.
Schlimmer noch waren die Meister,
angebliche Ehrenmänner, welche die
Jünglinge wirklich in die Usancen der
Gesellschaft einführten. Kalokagathia
hieß diese Kunst, sie soll aus dem Jüng-
ling einen Mann formen, der in see-
lisch-geistiger Harmonie lebt. Hört sich
gut an, nur war das innewohnende
Tauschgeschäft obszön: Der Knabe lieh
dem Meister seinen jungen Körper, da-
mit er sich an ihm befriedigen konnte.
Von diesem pädagogisch verklärten
Ur-Verbrechen hat sich die Hauserzie-

hung nie ganz erholt. Die Zentrierung
auf den Hausunterricht bot nicht nur
Chancen einer unverkrampften und un-
verschulten Pädagogik, schreibt Ludwig
Fertig in seiner Studie über „Die Hof-
meister“. Sie kannte stets auch medio-
kre Miterzieher, gewalttätige Hausleh-
rer und überforderte Väter, die ihre
Töchter mit dem Kopf auf die Tischplat-
te drücken, wenn sie Mathe nicht fix ge-
nug kapieren. Von daher bieten die Co-
ronaferien gerade allen Grund, genau
hinzuschauen, dass das Lernen zu Hau-
se friedlich bleibt.
AAAlle diese Motive verschwimmen nunlle diese Motive verschwimmen nun
in der modernen Homeschool-Bewe-

D


amit war die Europaabge-
ordnete Hildegard Bente-
le nicht zufrieden. „Als
betroffene Grundschul-
mama habe ich gar keine
Info seitens des Senats/der Schule wie
das Lernen in Ansätzen weitergehen
soll“, klagte die CDU-Politikerin aus
Berlin. Bentele wartete auf Hinweise
oder Arbeitsblätter, um mit ihrem Erst-
klässler coronafreien Hausunterricht
machen zu können. Die Brüsseler Abge-
ordnete war einmal bildungspolitische
Sprecherin, also weiß sie, dass man den
Schulbehörden der Hauptstadt fest auf
die Füße treten muss, wenn man etwas
erreichen will.

VON CHRISTIAN FÜLLER

Was sich seit Anfang der Woche im
Schulwesen zuträgt, ist inzwischen aber
keine Frage einer einzelnen dilettanti-
schen Landesregierung mehr. Und man
muss auch nicht dem Hohen Haus ange-
hören, um die Kultusbürokratie ins
Schwitzen zu bringen. Rund elf Millio-
nen Kinder und Jugendliche werden
nun per Homeschooling unterrichtet.
Seitdem die Kultusminister wegen
des Coronavirus alle 40.000 Schulen in
Deutschland geschlossen haben, ist das
Bildungssystem gleich doppelt unter
Druck geraten: erstens, weil nun deut-
lich wird, dass sie das Fernlernen mit-
tels digitaler Medien allenfalls in Ansät-
zen vorbereitet haben. Zweitens, weil
die Eltern beim Hausunterricht einen
tiefen Einblick bekommen, wie zurück-
geblieben und fragil Schule ist. Gegen
die Schulkrise der kommenden Wochen
waren Pisaschock und G8-Chaos Kin-
kerlitzchen. Die Schule nach der Virus-
quarantäne wird nicht mehr dieselbe
sein wie die ante Corona.
Homeschooler waren schon immer
renitent. Zumal in Deutschland, wo die
Schulpflicht seit 1763 sukzessive alle an-
deren Formen, seien es Freie Schulen
oder Hausunterricht, nach und nach an
den Rand drängte. Wer heute seine Kin-
der dem Staat entzieht, um sie freier –
oder genauer: ideologischer – zu erzie-
hen, ist meistens ein Spinner, Sonder-
ling oder gar ein Sektenanhänger.Wer
sich mit den Schulbehörden anlegt, ra-
dikalisiert sich schnell. Im Falle des
Hausunterrichts, den das Virus nun er-
zwingt, sind gleichfalls Radikalisie-
rungstendenzen zu beobachten – nur
dass es jetzt eben keine marginale
Gruppe von 40 bis 80 Familien mehr ist,
die trotzig zu Hause lernt, sondern es
sind praktisch alle. Eine Revolution fin-
det gerade statt.
Anders als viele meinen, ist der Haus-
unterricht keine Spezialität der USA,
wo nur eine Handvoll Bundesstaaten
das Homeschooling überhaupt regulie-
ren. Dort umweht das Lernen durch die
Eltern der Odem des Widerstands ge-
gen den Staat. Die Schulabstinenz in
Deutschland hingegen begann, als es ein
geordnetes Schulwesen noch gar nicht
recht gab – und hatte elitäre Gründe.
Die Geschichte des Hausunterrichts ist
die von Geistesgrößen wie Goethe, den
Humboldts oder Schopenhauer. Ihre
Hauslehrer gehen bis ins 16. Jahrhun-
dert zurück, und sie hießen Hofmeister,
Präceptor, Informator oder später Can-
didat. Ihrer aller Aufgabe war es, aus
den Kindern der Schönen und Hoch-
wohlgeborenen gebildete und erfolgrei-
che Menschen zu erziehen.
Vom Hausunterricht während der
Coronakrise unterschied sich das schul-
ferne Lernen seit Luthers Bildung für
alle grundsätzlich. Für den Reformator
war die staatlich organisierte Schule –
die ohnehin erst viel später Vollangebot
wurde – allenfalls Ergänzung, die Regel
war der Hausunterricht. Schon der Na-
me ist trügerisch. Es waren im selten-
sten Fall die eigenen Eltern, die den
Nachwuchs bildeten, und sie wären gar

gggung, die vom Coronaschock den letztenung, die vom Coronaschock den letzten
Kick bekommen hat: Entschlossenheit,
AAAufbruch, auch Wutufbruch, auch Wut. Misstrauen
herrscht spätestens seit der Enthauptung
des neunjährigen Gymnasiums. Nun wol-
len die Eltern des 21. Jahrhunderts ver-
hindern, dass ihre Kinder in fünf oder
mehr Wochen unterrichtsfreier Zeit den
Anschluss verlieren. Sie sind verständ-
nislos, dass die Schulminister erst eine
WWWoche lang unentschlossen Gründe oche lang unentschlossen Gründe für
den Schulbesuch stammelten – um dann
doch Hals über Kopf den Unterrichts-
stopp für einen Monat zu verfügen.
Und die Eltern sind genervt, dass der
Staat sein Schulsystem nicht zu moder-
nisieren in der Lage ist. Seit 2016 wird
über einen Digitalpakt mit virtuellen
Klassenzimmern diskutiert, aber wenn
man die digitalen Wolkenkuckuckshei-
me tatsächlich braucht, um coronafrei
zu lernen, kommen die Kinder mit Sta-
peln von Arbeitsblättern nach Hause.
Diese Kopien sind das Symbol der Buch-
und top-down-Schule. Irgendwie wissen
die Eltern: das ist vorbei, wir müssen das
wohl selbst in die Hand nehmen.
So ahnungslos Eltern oft sind, das
Netz hilft ihnen auf die Sprünge. Denn
auf Twitter, Instagram und den aus dem
Boden schießenden Infoseiten wird eine
Kreativität digitaler Bildung frei, die in
schroffem Gegensatz zur Lahmarschig-
keit der Schulbehörden steht. Die El-
tern merken in ihrer Rolle als mehr oder
weniger verzweifelte Hauslehrer plötz-
lich, dass sich ihnen fantastische neue
Lernwelten eröffnen, und zwar unter-
halb des Radars der Lehrer und gegen
die öde Fächer-Hechel-Praxis der Schu-
len. Sie finden heraus, dass es Maker-
spaces mit Robotern und 3-Druckern
längst gibt – nur eben nicht in den Schu-
len, sondern bei Hackathons, Thinka-
thons und Design-Thinkings in überra-
schend fröhlichen Umgebungen.
Auf der Suche nach Themen, Aufga-
ben und Projektideen für den Hausun-
terricht entdecken Eltern, dass das Netz
nicht nur ein liederlicher Raum des
Hasses und der Verblödung ist, sondern
eine von Lehrmaterialien überquillende
Bibliothek: sei es die unendliche Vielfalt
der „Zentrale für Unterricht im Inter-
net“, kurz ZUM, wo seit 1997 (!) Unter-
richtschoreografien und digital abrufba-
re Arbeitsblätter gesammelt werden;
oder seien es die Mathe-Videos des Leh-
rers des Jahres 2019. Sebastian Schmidt
verschmilzt in seinem „flipped class-
room“ das alte Lernen auf eine radikal-
sanfte Art mit digitaler Technologie:
Schmidts Videos laufen vor der Unter-
richtsstunde – und verschaffen ihm so
im Klassenzimmer viel mehr Freiheiten
für individuelle Betreuung.
Dabei praktiziert Schmidt etwas, was
die Schule des 19. Jahrhunderts nicht
kann und partout nicht wollte: er öffnet
seinen Lernprozess radikal - auf YouTu-
be. Er ist transparent und obendrein te-
legen. Sebastian Schmidt liefert, so nah
seine Art des Unterrichtens der alten
Schule noch ist und so gemütlich sein
bayerisch-schwäbisches Idiom daher-
kommt, einen Vorgeschmack auf das
Lernen des 21. Jahrhunderts. Die Eltern
können von zu Hause beobachten, wie
die Mathelektion ihrer Kinder abläuft.
Sie merken dabei unwillkürlich, wie das
Lernen aus den Schulgebäuden und den
Lehrplänen auszieht. Von da zu Ivan Il-
lichs Entschulung der Gesellschaft ist
es nicht mehr weit.
Es brauchte die Verriegelung der
Schulen, um den freundlichen Lehrer
Schmidt und seine vielen digitalen Kol-
legen überall in der Bildungsrepublik
kennenzulernen. In den bevorstehen-
den fünf Wochen Homeschooling wird
die Entdeckungsreise die Eltern so weit
von der alten Schule mit ihren müffeli-
gen Toiletten und ihren oft übellauni-
gen Studienräten führen, dass womög-
lich die Frage lauten wird: Warum über-
haupt zurück in die Schulpflicht?

Die erzwungene Revolution


Bisher war der Hausunterricht ein Instrument der Gebildeten und der Spinner.


Nun stellt Homeschooling im Verein mit digitalem Lernen


das Schulwesen auf den Kopf. Ein Umsturz nimmt seinen Lauf


GETTY IMAGES

/ LAMBERT

9


20.03.20 Freitag,20.März2020DWBE-HP


  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
20.03.2020.03.2020.03.20/1/1/1/1/Kul2/Kul2 PKRUEGE1 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT FREITAG,20.MÄRZ2020 FEUILLETON 9


unter den Menschen oder auf einer
nicht kartografierten Insel, wird daran
unweigerlich zerbrechen, während je-
mand, der einer Überdosis Außenwelt

unweigerlich zerbrechen, während je-
mand, der einer Überdosis Außenwelt

unweigerlich zerbrechen, während je-

respektive Mitmenschen ausgesetzt ist,
dem Schicksal der Verblödung nicht
entrinnen kann, weil ihm irgendwann
nicht mehr auffällt, dass die meisten
Leute landauf, landab einen fürchterli-
chen Stiefel zusammenreden. Man
merkt, es ist wichtig, die richtige Balan-
ce zwischen dem Bedürfnis nach Nähe
und dem Wunsch nach Distanz zu fin-
den. Aber nur weil man das merkt, heißt
das nicht, dass man sie auch findet. Ich
habe sie nie gefunden, und allmählich
zweifle ich, dass so etwas wie Balance
überhaupt existiert.
Diese Aphorismen bewältigt mein
VVVerstand gewissermaßen währenderstand gewissermaßen während

Z


u dengrößten Herausforderun-
gen im Leben zählt die Not-
wendigkeit, den richtigen zeit-
lichen und räumlichen Abstand zu an-
deren Menschen zu finden. Lässt man
sie zu nahe an sich ran, verstellen sie
einem die Aussicht. Zieht man sich zu
weit zurück, findet man sie womög-
lich nie wieder.

VON THOMAS GLAVINIC

Vollständige Isolation würde früher
oder später selbst der ärgste Misan-
throp nicht mehr ertragen, denn ein Ich
ohne Du löst sich auf, mal ganz abgese-
hen davon, dass ein Misanthrop auch
nur ein übersensibler Philanthrop ist.
Jemand, der den Kontakt zur Herde ver-
liert, innerlich oder physisch, ob mitten

des Elchtests, weil ich zum ersten
Mal seit einer Woche auf der Straße
bin und hin und wieder Menschen be-
gegne, wobei sowohl diese als auch
ich darauf achten, Abstand zu halten.
Ich bin es gewöhnt, dass man mir aus-
weicht, ich sehe ja überall aus wie ein
AAAusländer, was schon ein Schicksalusländer, was schon ein Schicksal
fffür sich ist. Aber heute flüchte auchür sich ist. Aber heute flüchte auch
ich schon einmal auf den Radweg, um
nicht in den Windschatten eines vor
mir gehenden Menschen zu geraten,
denn für mich ist jetzt jeder Zweibei-
ner ein potenzieller Vollzombie. Die-
se Umsicht habe ich von Flugzeugen
gelernt, die großen Respekt vor den
Scherwinden haben, die hinter einem
gerade gestarteten Kollegen auftre-
ten können, weswegen es zwischen
zwei Starts einen zeitlichen Sicher-

heitsabstand gibt. Und genau so, wur-
de berichtet, würden seit dieser Wo-
che auch die Kunden in Supermärkte
und Apotheken eingelassen, nämlich
einzeln.
Ob das stimmt, werde ich ein ander-
mal erfahren, denn vor der Apotheke
steht niemand. Ich bleibe trotzdem
draußen, ich mag Apotheken ja schon in
Friedenszeiten nicht, auch ohne ein Kil-
lervirus, das bis zu drei Stunden in der
Luft überlebt. Durch die gläserne Auto-
matiktür winke ich dem Apotheker, bei
dem ich zuvor telefonisch meine übli-
chen Arzneien bestellt habe. Er arbeitet
seit Neuestem hinter einem Schutzglas,
das Kunden daran hindern soll, ihn an-
zuspucken.
Der Apotheker bringt mir die Tüte
mit den Medikamenten heraus. Sollte er

sich über den Einweghandschuh an mei-
ner linken Hand wundern, mit der ich
ihm zuerst das Kuvert mit dem Geld ge-
be und dann die Tüte entgegennehme,
so lässt er sich zumindest nichts davon
anmerken. Ich bedanke mich. Nicht nur
für die Tüte, sondern dafür, dass er tut,
was er tut.
Er sieht müde aus, er wirkt sorgen-
voll, betroffen, traurig, fast erschro-
cken. So geht es derzeit vielen. Es
scheint, als wäre der Spaß vorbei.

TThomas Glavinic ist Schriftsteller
und Hypochonder. Er lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm bei Piper die
„Gebrauchsanweisung zur Selbst-
verteidigung“. Bisher erschienen:
„Der Corona-Roman 1: Die Poesie der
Isolation“ (19. März)

Das Abenteuer des Apothekengangs


Die Welt steht still, wir sitzen verängstigt in unseren Wohnungen. Thomas Glavinic verarbeitet die Krise in einem täglichen Fortsetzungsroman. Exklusiv auf WELT


DER CORONA-ROMAN 2


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2020-03-20-ab-22 0bfb2da9425f8d2729af750ed13eec9d

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws
Free download pdf