Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samsta g, 22. Februar 2020 WIRTSCHAFT 23


Schweizer Firmen in China spüren die Auswirkungen


des Coronavirus je länger, je mehr SEITE 25


Zigaretten, Kleider, ja sogar den Wecker des Gastgebers –


in Westafrika dreht sich alles ums Teilen SEITE 26


Der Gipfel der Tränen


Die Staats- und Regierungschefs der EU scheitern vo rerst beim Versuch, die Brexit- Lücke im Budget zu stopfen


CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL


Die Lücke, die der Abgang Grossbri-
tanniens im EU-Portemonnaie hinter-
lässt, bleibt vorderhand offen. Der von
Donnerstagnachmittag bisFreitagabend
dauernde Sondergipfel der EU-Staats-
und -Regierungschefs zum Sieben-
Jahre-Budget ist in Brüssel ohne Eini-
gung zu Ende gegangen. Der von 2021
bis 2027 laufende «mehrjährigeFinanz-
rahmen» (MFR) bestimmt, wohin die
EU künftig wie viel Geld überweist.
«Wir haben sehr hart gearbeitet, um
eineEinigungzuerzielen», sagteCharles
Michel nach demTreffen. Aber:«Wir
brauchenmehrZeit.»MichelistderPrä-
sidentdesEuropäischenRatesundleitet


die Verhandlungen. Die EU-Mitglied-
staaten müssen sich deutlich vor Ende
Jahr auf ein Budget verständigenkön-
nen, wenn etwa alle Gelder für ärmere
Länder rechtzeitig zurVerfügung stehen
sollen.OhneEinigungmussdieEU2021
zudem miteinem «Not-Budget» hantie-
ren, nämlich demjenigen von 2020.
Massgebend, ob es nach diesem ge-
scheiterten Gipfel doch nochrechtzeitig
klappt oder nicht, sind die Mitgliedstaa-
ten. Sie entscheiden einstimmig. Gröss-
tes Problem diesmal: Nach demAustritt
Grossbritanniens fehlen 60 bis75 Mrd. €.


Mehr einnehmen oder sparen?


Angela Merkel, Emmanuel Macron und
Co. stritten darüber, ob die Lücke eher
mit höheren Beiträgen (Deutschlands)
oder durch Einsparungen beiBauern
und ärmerenLändern gestopft werden
soll. Dazu kommt, dass dieKommission
zusätzlicheAufgaben in Angriff nehmen
will, was ebenfalls mehr Geld erfordert.
Zu denken ist an den grünen «Deal», die
Digitalisierung, Grenzschutz, Migration,
Forschung undVerteidigung.
Die Kommission wollte in ihrem im
Mai 2018 vorgestelltenVorschlag die


Lasten einigermassen fair verteilen und
kürztebeidenbeidengrösstenPostenKo-
häsion undLandwirtschaft und forderte
höhere Beiträge der Mitglieder. Finnland
vertiefte im Dezember 2019 in einem ers-
ten Kompromissvorschlag imVergleich
mit derKommission die Einschnitte bei
der Kohäsion und verringerte sie bei der
Landwirtschaft und berücksichtigte auch
die «modernen»Posten weniger stark.
Der auf diesen Sondergipfel von
Michel vorgelegte Kompromiss wie-
derumhielt sichan die finnische Grös-
senordnung, schichtet aber die Gelder
um. Während dieKommission dieKo-
häsionsmittel imVergleich zum Bud-
get von 2014 bis 2020 um 10% kürzen
wollte, schlägt Michel –12% vor. Die
Landwirtschaft soll um14% verringert
werden (Kommission: –15%). Analyti-
kerdesEU-Parlamentsverdächtigenihn

zude m, dass er Geld für Geschenke an
die Mitgliedstaaten in der Endphase der
Verhandlungen zur Seite gestellt habe.

Ein Gipfel nach Drehbuch


Das Drehbuch der Zusammenkunft war
bereits vor deren Beginn geschrieben:Es
ist der «Gipfel derTränen». Die Protago-
nistenstellen nochmals ihrePositionen
da r. SparsameLänder wie die Nieder-
lande beharren auf einem kleinen Bud-
get, Mitgliedstaaten wiePortugal und
Ung arn verlangen möglichst vielKo-
häsionsgelder, Frankreich verteidigt die
Bauern, Deutschland preist Umschich-
tungen zu «moderneren» Budget-Posten
an. Man findet nach tage- und nächte-
langerVerhandlungkeine Lösung und
geht nach Hause. Dort erklärt man,dass
man sich für dieVerteidigung derLan-
desinteressen Nächte um die Ohren ge-
schlagen habe. Erst an einem zweiten
Gipfel, so erklärten das Beamte schon
im Vorfeld des Gipfels, einigt man sich
dann auf den nötigenKompromis s, zu
dem alle etwas beitragen.
Die Staats- und Regierungschefs
haben sich weitgehend an dieses Schema
gehalten. Die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel wurde am Donnerstag-
abend offenbar bereits um 22 Uhr ins
Hotel zurückgefahren, der französische
Präsident Emmanuel Macron soll spät-
aben ds noch ineinerBar gesichtet wor-
den sein. AmFreitag gab es dann Be-
mühungen, eine Einigung zu finden, die
KommissionlegteneueZahlenvor.Doch
letztlichwarniemandsorichtigzufrieden.
Ein wichtiger Streitpunkt ist die Höhe
des Sieben-Jahre-Budgets. Sie definiert,
mit wie viel Geld die verschiedenen
EU-Töpfe gefüllt werdenkönnen. Die
Kommission hat 2018 eine Summe von
1279 Mrd. €vorgeschlagen.Dasentspricht
1,114% des Bruttonationaleinkommens
(BNE) der Mitgliedstaaten. DerFinanz-
rahmen für dieJahre 2014 bis 2020belief
sichimVergleichdazuauf960 Mrd. €.Das
sind 1,160% des BNE der 27 Mitglied-
staaten.In Prozent ausgedrückt,wäre das
ein geringfügig wenigerambi tioniertes
Budget, in nominalen Grössen ist nicht
zuletzt wegen Inflation undWirtschafts-
wachstum eine beachtliche Expansion
vorgesehen.Das EU-Parlament will –
kaumrealistische – 1,3% und die sparsa-
men Länder nicht mehrals 1%.DieKom-
promissvorschläge vonFinnland (1,07%)

und Michel (1,074%) verwarfen Mitglied-
staaten undParlament.
Die Staats- undRegierungschefs ver-
teidigen ihre Interessen entweder allein
oder in Gruppen.WesentlichePositio-
nen vertreten die «sparsamen vier», die
«Freunde derKohäsion» und die «gros-
sen zwei». Der niederländische Minister-
präsident MarkRutte führt die Nieder-
lande, Österreich, Schwedenund Däne-
mark an, die finden, eine kleinere EU
sollte auch ein kleineres Budgethaben.
Sie verteidigen die Untergrenze von 1%,
die bisher den Minimalkonsens darstellt.
Ein wichtigerVertreter der «Kohäsions-
Fans» ist der portugiesische Premier-
minister António Costa.17 Länder, dar-
unter Italien, Polen, Rumänien, Ungarn,
GriechenlandundTschechien,setzensich
fürmindestensgleichbleibendeMittelfür
die Zahlungen an ärmere Mitgliedstaa-
ten ein. Die fünf letztgenanntenLänder
warenimletztenBudgetgleichzeitigauch
die grössten Nettobezüger. An den bei-
den grössten Beitragszahlern schliesslich,
DeutschlandundFrankreich,führtselbst-
redendkeinWeg vorbei. Berlin steht den
Sparsamen nahe, Paris denKohäsions-
ländern.Allerdings wollen beide nicht zu
viel in das Budget einzahlen, auch wenn
nur Deutschland das deutlich formuliert.

Rabatte undRechtsstaatlichkeit


Entsprechend gibt es eineKontroverse
um Rabatte. Nachdem MargaretThat-
cher 1984 den «Britenrabatt» ausgehan-
delthatte,wurdeetwaauchDeutschland
einAbschlaggewährt.Damitsolltekom-
pensiert werden, dass im grossen Kan-
ton weniger Geld als etwa inFrankreich
zu denBauern zurückfliesst. Diese Ab-
schläge will dieKommission abschaffen,
Angela Merkel und andereNettozahler
nicht.Ferner stossen sich einige auch an
derTatsache,dassmitPolen,Ungarnund
Rumänien ausgerechnet Mitgliedstaa-
ten zu den grössten Bezügern gehören,
die bei derRechtsstaatlichkeit Defizite
haben. DieKommission will diesbezüg-
lich erstmals Sanktionen einführen, die
nurmiteinerqualifiziertenMehrheitge-
stoppt werdenkönnen. Michel möchte
dagegen nur, dass eine qualifizierte
Mehrheit die Sanktionen bewilligt.
Michel dürfte demnächst einen
neuen Gipfel einberufen.Nach dem
«Gipfel derTränen» dürfte es der «Gip-
fel derKompromisse» werden.

Der ungarische MinisterpräsidentViktor Orbanwendet sichamzweitenTa g des EU-Gipfels an dieJournalisten in Brüssel. EPA

UPC baut in


der Schweiz jede


zehnte Stelle ab


Der Kabelnetzbetreiber reagiert
auf den Umsatzschwund

STEFAN HÄBERLI

Der Schnittkommt zwar wenig über-
raschend,dochdasmachtihnnichtweni-
gerschmerzhaft.UPCwillinderSchweiz
bis zu 10% der1600 Stellen streichen.
Dies hat die Geschäftsleitung des gröss-
ten Kabelnetzbetreibers des Landes
dieseWoche den Mitarbeitern mitge-
teilt. DerPersonalabbau soll möglichst
du rch Frühpensionierungen, freiwillige
Kündigungen und interneWechsel ab-
gefe dert werden.Das dürfte allerdings
kaum ausreichen, um Entlassungen zu
ve rmeiden.Um ihre Stellen müssen des-
halb Mitarbeiter in diversenFunktionen
und Bereichen an den Standorten in den
KantonenWaadt sowie Zürich zittern.

Niedergang im Kerngeschäft


Aus betriebswirtschaftlicher Sicht
scheint der Stellenabbau bei UPC
Schweiz unvermeidlich. Denn dieToch-
terfirma des britisch-amerikanischen
Konzerns Liberty Global sucht verzwei-
felt Boden unterden Füssen.Darauf
deutet das vor einerWoche veröffent-
lichteJahresergebnis 2018 hin.Der Um-
satz schrumpfte innertJahresfrist um
3,5% auf 1,25 Mrd.Fr. Der freie Cash-
flow – zum Gewinn macht derKonzern
keine Angaben – ist seit 2017 um einen
Drittel auf 344 Mio. Fr. eingebrochen.
Symptomatisch für den Niedergang
des Kabelnetzbetreibers ist derTV-Be-
reich: Im einstigen Kerngeschäft hat
UPC in den vergangenen zehn Jah-
ren rund eine halbe Million oder einen
Drittel derKunden verloren. Im glei-
chen ZeitraumkonnteSwisscom über
eine MillionTV-Abonnenten gewinnen.
Heutesteht der Branchenprimus ge-
nau dort, wo UPC vor einer Dekadege-
standen hat: Er ist mit 1,5 Mio. Kunden
Marktführer imTV-Segment – weit vor
UPC mit noch 1 Mio. Kunden.

«Wachstumsplan» greift kaum


Lange schien dieKonzernzentrale in
London mit diesemAderlassleben zu
können.Denn erstens machte er sich bis
etwa 2016 in der Erfolgsrechnung von
UPC Schweiz nicht bemerkbar. DerVer-
lust vonTV-Kundenkonnte durch einen
Zuwachs bei den Internetanschlüssen
zunächstkompensiert werden. Zwei-
tens wurden die Erlöse auf einer Infra-
struktur erwirtschaftet, die grösstenteils
abgeschrieben war. Mit anderenWorten:
Die SchweizerTochter war für Liberty
Global eine Geldmaschine. Seit 2015 hat
UPC allerdings fast 100000 Internet-
kunden verloren.Das schlug sich auch
im Umsatz nieder, der seit 2016 um gut
8% gesunken ist.
Liberty Global hat sich möglicher-
weise zu spät daran erinnert, was ge-
mäss Lehrbuch denWert eines Unter-
nehmens ausmacht: Nicht allein die flüs-
si gen Mittel, die heute aus ihm gezogen
werdenkönnen; sondern die Summe
aller künftigen Geldflüsse, die es netto
verspricht. Einiges deutet darauf hin,
dass derWert von UPC unter einer zu
kurzfristigen Optik des Besitzers gelit-
ten hat.
Dieser Ansicht waren zumindest
die Sunrise-Aktionäre. Sie lehnten den
Kauf von UPC für 6,3 Mrd.Fr. ab. Das
Management des Kabelnetzbetreibers
versuchte vor anderthalbJahren, das
Steuer mit einem «Wachstumsplan»
herumzureissen. Dennoch hat UPC im
vergangenenJahr erneut 73 600Kun-
den verloren.Da es 2017 noch 121 000
waren, wurde dies von derFirma als Er-
folg gefeiert. Der angekündigte Stellen-
abbau ist laut UPC einTeil des«Wachs-
tumsplans». W enn Sunrise dieFirma
übernommen hätte, wäre dieser wohl
als Folge derFusion «verkauft» worden.

Die EU
ist kein Honigtopf
Kommentar auf Seite 11
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