FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 24.FEBRUAR2020·NR.46·SEITE 9
D
ie Bürger, so sagteesAndre-
as Voßkuhle, der Präsident
des Bundesverfassungsge-
richts, gesternauf der Bühne des
Deutschen TheatersinBerlin, „ha-
ben einen Anspruch“ darauf, dassdie
Richter ausKarlsruhe sichöffentlich
für ihreUrteile rechtfertigen, indem
sie sichFragender Bürgerstellen.
Diese bringen in solcheForendes öf-
fentlichenAustauschs auchFragen
mit, auf die sie selbstdie Antworten
finden müssen:„Was sind das für Leu-
te?Machendiedasvernünftig?“Voß-
kuhle sprachhier natürlichnicht von
einem Anspruchimjuristischen Sin-
ne, der eingeklagtwerden könnte.
Aber seineKollegen und er sind sei-
ner Ansicht nachgut beraten,wenn
sie die mündlicheRechenschaftsle-
gung als zusätzliche Amtspflicht auf-
fassen, die nicht eigenskodifiziert
werden muss. So bereutVoßkuhle
nicht, dasseramTag vordem sieb-
zigstenGeburtstagdes Grundgeset-
zes in einFernsehstudio ging,wo er
leibhaftigenRepräsentantenvondrei
MillionenZuschauernanden Fern-
sehgerätenRede und Antwortstand.
Erst kur zvor der Sendung sei ihm be-
wusstgeworden, aufwelches Risiko
er sic hmit der Live-Übertragung ein-
ließ. „Mankann im öffentlichen Pro-
zess auchunter gehen“–denn auch
den Begriff des Prozessesverwende-
te Voßkuhle hier im nichtjuristischen
Sinne, und das Scherbengericht der
ohneVerzug ur teilenden Öffentlich-
keit läs st keine Rechtsmittel zu. In sei-
ner Abwägung mussden Ausschlag
gegeben haben, dassauchein Rich-
ter, der einmalkeine Antwortweiß
oder eine ungeschickteAntwortgibt,
nicht notwendig seineAutoritätver-
spielt.Jenachdem, wie er sichaus
der Affäre zieht,können die Bürger
auchzudem Schlusskommen, dass
Verfassungsrichter Leutesind, die
wissen, dasssie noch nicht ausge-
lernt haben, so dassman ihnen einen
vernünftigen Umgang mit eigenen
Fehlernzutrauen kann. DieTalk-
show, in der Gregor Gysi einem Pro-
minentenFragen zu dessen Lebens-
lauf stellt, wirdnicht imFernsehen
ausgestrahlt.Trotzdem befand sich
Voßkuhle gesternwieder in einer
Live-Situation, undkurz vorEnde
der Veranstaltung ereignete sich, was
voreinem Jahr in der ARD-Sendung
ausgebliebenwar: Der Präsident ging
zwar nicht unter,gerie taber wegen
einer unüberlegten Antwortins
Schwimmen.AufGysis Frageanden
nachzwölf Jahren demnächstaus-
scheidenden ersten Juristendes Staa-
tes, wann es wohl den ersten Ostdeut-
schen unter den sechzehn Mitglie-
dernder beidenKarlsruher Senatege-
ben werde, sagteerzunächst, es han-
dele sichnicht um ein „Repräsentati-
onsamt“ in dem Sinne, dassdie Zu-
sammensetzung des Gerichts die Be-
völkerung repräsentativ abbilden
müsste. Undzur Verdeutlichung setz-
te er hinzu: „Sie brauchen jemanden,
der es dann auchkann.“ Dieser Satz
löste Unmut unter denZuschauern
im Theater aus, die sicherlichinihrer
großen Mehrheit aus demselbenTeil
Deutschlandsstammten wie Gysi. In-
dem der Gastsogleichnachdem
Grund derUnruhe fragte,taterdas
Richtige. AlsVoßkuhle zum Richter
gewählt wurde,warer45Jahrealt.
Ein heutiger Richterkandidat im sel-
ben Alterwäre 1975geboren, hätte
also ein Jurastudium an einer ostdeut-
schenUniversitätschon ganz unbe-
einflusst vonDoktrinen der DDR ab-
solvierenkönnen. DassVoßkuhle die-
se Vergleichsrechnung unterlassen
hatte, durftedas Publikum ihm nach-
sehen. Er hattesichverhalten, wie es
vonInhabernseines Amtes erwartet
wird: hattevon seinerPerson abgese-
hen und dabei dieRegelbefolgt, dass
ein Richter nichtrechnet. pba.
Unruhe im Saal
VonPatric kBahners
D
er Deutsche Bundestagver-
abschiedete am 16. Januar
2020 ein Gesetz zurRege-
lung der Organspende. Die
erweiter te Zustimmungslösung fand
eine deutliche Mehrheitgegenüber der
Widerspruchslösung. Inregelmäßigen
Abständen sollen die Menschen in unse-
remLand künftiggefragtwerden, ob
sie nachihrem TodOrgane spenden
wollen. Im Fall der Widerspruchslö-
sung wäre jederVerstorbene,wenn er
nicht zu LebzeitenWiderspruchdage-
geneingelegt hätte, Organspenderge-
worden. So istesin17europäischen
Ländern,etwa in Ös terreichund Spa-
nien. In diesen Ländernherrschtdeut-
lichweniger Mangel an Spenderorga-
nen als bei uns. Essterben in Deutsch-
landtägli ch Menschen,weil keineSpen-
deror gane zurVerfügungstehen.
Die Abgeordne te Annalena Baer-
bock, die den Entwurffür die erweiterte
Zustimmungslösung eingebracht hatte,
sprac hdavon, dassesdarum gehe:
„Wem gehörtder Mensch?“. Ein ande-
rerAbgeordneter sagte,der Menschge-
hörenicht dem Staat, sondern sich
selbst.Man kann solcheÄußerungen als
politische Rhetoriknehmen, solltesie je-
denfallsnicht wörtlichverstehen.Wenn
es nämlichsowäre, dassder Mensch
sichselbstgehört, müssteeserlaubt
sein,seine eigenen Organe, also Nieren
oder einenTeil seiner Leber,zuverkau-
fen. Dies istaber gerade nicht erlaubt.
Das Transplantationsgesetz (TPG)
verbietetausdrücklichden Organhan-
del in sehrweitgehenderForm.Offen-
bar gehörtder Menschalso dochnicht
sichselbst, jedenfalls nicht im Sinne ei-
nes freiverfügbaren Eigentumsverhält-
nisses zum eigenenKörper.Auchist
eine derartigePosition mit sonstigen
Regelungen desTransplantationsgeset-
zes nichtkompatibel.Zentrale Organe
(Nieren, Leber,Herz...)sind diesem
Gesetz zufolgenachder Or ganentnah-
me vermittlungspflichtig, mit derKon-
sequenz, dassder Einzelne nicht ein-
mal bestimmenkann, dassetwaseine
nierenkrankeTochter nachdem Ge-
samthirntod seine Niereerhalten soll.
Nach der Konzeption desTransplantati-
onsgesetzes istfür die Allokation der
vermittlungspflichtigen, das heißt sozia-
lisiertenOrgane derStaat zuständig be-
ziehungsweise diejenigen Institutio-
nen,denen er dieVerteilungrechtmäßi-
gerweise überträgt.
Der Menschgehörtsichselbst? Im
Falle einerwörtlichenAuslegung die-
ses pointiertenAusspruchs müssteman
voneinem Eigentumsmissverständnis
sprechen. Sieht manvoneinem solchen
Missverständnis ab, bleibt das Prinzip
der Selbstbestimmung als Kernan-
spruchder er weiter tenZustimmungslö-
sun gübrig. DieFrageist aber,inwel-
chem Verhältnis der Beschlusszudie-
sem Prinzipsteht.
Die Möglichkeit, dassder Bundestag
mit seiner Entscheidung das Prinzip
der Selbstbestimmung bestätigt hat,
scheidetaus. Die GeltungvonPrinzi-
pien kann nicht durch Mehrheiten be-
stätigt oderverworfenwerden. Siegel-
tenbei, aber nicht durch Abstimmun-
gen. Außerdem gilt das Prinzip derAu-
tonomie auchimFallder Widerspruchs-
lösung.
Eine zweiteOption wäre,dassdie er-
weiter te Zu stimmungslösungvomPrin-
zip derAutonomie abgeleitet wurde.
Auch dies kann aber nicht sein,weil
dasselbe auchfür dieWiderspruchslö-
sung behauptetwerdenkönnte. Mit der
Widerspruchslösung erhält jeder Bür-
gerdie Möglichkeit, bezüglichder Fra-
ge,oberSpender sein möchteoder
nicht, sichselbstzubestimmen. Er
kann der Organentnahme widerspre-
chen, dann isterkein Organspender.
Die Widerspruchslösung, wie siege-
plant worden ist,wareine doppelteWi-
derspruchslösung. Das heißt, auchdie
Angehörigenhätten die Möglichkeit ge-
habt,etwa weil sie dieAuffassung des
potentiellen Organspenderskannten,
der Organentnahme–soweit er forder-
lich–zu widersprechen. Die Entschei-
dungsfreiheit der Bürgerwar durchaus
rechtli ch abgesichert. Länder,welche
die Widerspruchslösung alsgesetzliche
Grundlagehaben,weisen ausnahmslos
ein deutlichhöheres Organaufkommen
aus, wie auchimmer dieKausalitäten
im Einzelnenverlaufen mögen.WieEr-
gebnisse aus der „Behavioral Lawand
Economics“-Forschung zeigen,konsti-
tuieren dierechtlichen Rahmenbedin-
gungen dieAblehnung einer Organ-
spende beziehungsweise die Bereit-
schaf tzur Or ganspende erheblich.
Basierend auf den empirischen Er-
kenntnissen der Verhaltensökonomie,
mussgesagtwerden, dasssichMen-
schengerade nicht anhandstabiler und
klarer Präferenzen entscheiden. Ihre
Entscheidungenwerden durch Willens-
schwächen und Schwächen in derKo-
gnition beeinflusst.Ein Anstoßinih-
remEntscheidungsverhalten (und das
istdie Widerspruchslösung)kann die
Bereitschaftzur Organspende positiv
beeinflussen. Ein Anstoßstellt auch
nicht dieAutonomie inFrage. DieWi-
derspruchslösung wirdals Regulierung
verstanden,inwelcher derStaat der Or-
ganspende positiv gegenübersteht,
nicht so dieZustimmungslösung. Die
Widerspruchslösung istaucheine Lö-
sung, die das Gesprächmit den Angehö-
rigennachdemGesamthirntoddeut-
licherleichtert.
Eine dritteMöglichkeitwäre,dass
der Bundestagbeschloss, dassnur die
erweiter te Zustimmungslösung mit
dem Prinzip derAutonomievereinbar
ist, dieWiderspruchslösung aber nicht.
Diese Möglichkeit scheidetaber auch
aus, weil es nicht in derKompetenz des
Parlaments liegt, eine bestimmteVersi-
on der Organspende als autonom, eine
andereals nichtautonom zu definieren.
Außerdem istesso, dass–andersals
die Anhänger derZustimmungslösung
glauben machenwollen –die er weiter-
te Zu stimmungslösungkeinesfallsga-
rantiert, dassder potentielle Organ-
spender zu Lebzeiten diekonkreteBe-
reitschaftzur Organspende determi-
niert. Nurin14Prozent derFälle, bei
denen dieFrageansteht, bestimmt der
Organspendeausweis die Entscheidung
für odergegendie Or ganspende. In den
restlichenFällen treffendie Angehöri-
gendie Entscheidung.
Noch abwegiger wäre es, wenn die er-
weiter te Zu stimmungslösung nachder
Abstimmung als eine neue Artvon Au-
tonomie-Pflicht verstanden würde.
Denn damit würde unter der Hand aus
einemmoralischen Prinzip eineRechts-
pflicht.Dem Bürgerwürde ein–auch
verfassungsrechtlich nicht unproblema-
tisc her –Entscheidungszwang aufer-
legt.
Die Behauptung, dieWiderspruchslö-
sung verstoße gegendie Verfassung, ist
ebenfallswenig überzeugend.Aufeine
inhaltliche Begründungkann an dieser
Stelle aus Platzgründen nicht eingegan-
genwerden. Das Bundesverfassungsge-
richthat in einerKammerentscheidung
jedenfalls festgestellt:„Es verstößt
nichtgegenGrundrechte, dasszur Ab-
wehr einer postmortalen Organentnah-
me ein Widersprucherklärtwerden
muss“ (BVerfG, NJW 1999, 3403).
Für dieWiderspruchslösung spricht
zentralfolgendeÜberlegung: In einem
System, in demverfassungsrechtlichga-
rantiertwird, dassjedem Bürger, wenn
er erkrankt istund dieÜbertragung ei-
nes Organs medizinischindiziertist,
ein derivativesTeilhaberecht am Organ-
aufkommen zusteht, sollteauchjeder
zunächsteinmal als potentieller Organ-
spendergelten. Dies ergibt sichnicht
nuraus dem Gesellschaftenzusammen-
haltenden Grundsatz „do ut des“, son-
dernauchaus der goldenenRegel. Dies
istder richtigeKernder Clublösung, in
der nachVorstellung ihrer Anhänger
nur derjenigeein Or ganerhalten soll,
der auchzur Spende bereit ist.
In einer liberalen undvonGrund-
rechtengeprägten Gesellschaftist es
gleichwohl angemessen, jeden in sei-
nen Grundrechten zu akzeptieren und
ihn, wenn er der Organspende wider-
spricht,vonder Verpflichtung zur Or-
ganspende zu entbinden. Jeder Bürger,
der nicht spenden will, mussdies auch
nicht .Gleichwohl sollteerdas derivati-
ve Teilhabrecht am Organaufkommen
zu Lebzeiten behalten, wenn er im
Krankheitsfall ein Organbenötigt.Inei-
ner Gesellschaft, die Organe alsver-
mittlungspflichtig erklärt, mussder
Staat seinerVerpflichtung, diekörperli-
cheUnversehrtheit zu schützen, nach-
kommen.
Die Widerspruchslösung, die vom
Bundestagabgelehnt wurde, hättezu ei-
nem erhöhten Organaufkommen ge-
führtund wäre in der Lagegewesen,
das Allgemeinwohl zufördern. Mehr
Schwerkranken hättegeholfenwerden
können. Ob dies mit der erweiter tenZu-
stimmungslösunggelingt, darfbezwei-
felt werden.
Ulrich Schroth lehrtStrafrecht an der
Ludwig-Maximilians-Universität München,
WilhelmVossenkuhl istdortals Philosoph
emeritiert.
Als derTrojanische Krieg nachzehn Jah-
renendlichaus ist,kommt Agamemnon,
der Anführer dergriechischenTruppen,
zurückins heimische Argos. SeineFrau
Klytaimestra, die sichinzwischenAga-
menonsVerwandten Aigisthos als Liebha-
ber genommen hat, ermordetihren Mann
und die trojanische SeherinKassandra.
Die Mörderin und ihr Liebhaberwerden
daraufvonAgamemnons Sohn Orestes
umgebracht, und derflieht vorden ihn ja-
gendenRachegöttinnen, den Erinnyen,
nachAthen,wo ihn ein Gerichtsverfah-
renfreispricht.
So der Mythos, der einerFolgevon drei
Stückendes griechischenDichters Aischy-
los zugrunde liegt, der „Orestie“.Und
weil die Rezeption desStoffs in den zwei-
einhalb Jahrtausenden seithergewaltig
ist, weil er sichunter literarischen,kunst-
wissenschaftlichen, archäologischen und
natürlichgesellschaftswissenschaftlichen
Aspekten diskutieren lässt,erwartetden
Zuschauer in der neuen Inszenierung am
FrankfurterSchauspielhaus erst einmal
ein Potpourri aus eingespielten Häpp-
chen wie aus einem wildgewordenen Au-
dioguide mit unterstützenden Projektio-
nen auf den Bühnenvorhang: Der My-
thos, Schliemann,Tiepolo, der Orestes-
Sarkophag,Franz Mehrings Puppenspiel
zum Thema und die Spielregeln von
„Mensch, ärgere dichnicht“,Stichwort:
„Schlagzwang“.Unddann, recht unver-
mittelt, dieWorte: „Sie habengewählt.
Nummer 8,Rache.“
Washab ic hgewählt?, so fragt man
sichals Zuschauer,nichts habe ichge-
wählt, aber dieFragenachder Wahl und
der Racheist nun mal die zentrale in der
„Orestie“, die inPeterSteins legendärer
Inszenierung neunStunden Bühnenzeit
verlangten und hier auf dreieinhalbStun-
den geschrumpftsind.
Vomallerer sten Moment an, in dem
nachall denAudio-Einspielernendlich
Schauspieler den Mund auftun dürfen,
stellt sichjedenfalls die auf der Theater-
bühne traditionell so beliebteFrage, ob al-
les eigentlichsokommen muss, wie es im
Dramentextvorgesehen ist, ob also die
Gewinner undVerlierer ,die Totenund
die Davongekommenen schonfeststehen
oder ob es da noch Spielraum gibt.
Acht Schauspielerstehen uniformge-
kleidetauf der Bühne, am Anfang wie
eine schwache Erinnerung an den Chor
der griechischenTragödie, der bei Aischy-
los zwei Drittel desTextes spricht und
hier gestrichen is t. Außerdem liegen oder
sitzen Puppen auf der Bühne, kleiner als
die Schauspieler,aber über ihrestarren
Gesichtszügeals deren Doppelgänger aus-
gewiesen, und dieses Spannungsverhält-
nis aus Menschund Puppe erweistsich
wenigstens für den ersten Teil als durch-
aus fruchtbringend–wer sichtbarvonan-
deren herumgetragen,geführt,gestoßen
wird, der wird sichins Räderwerk der
Handlung einfügen und darin unterge-
hen, aber die anderen? Die Menschen,
die die Puppen bewegen?
Einer der acht Schauspieler,Christian
Pütthoff, er gibt an diesemAbend die Die-
ner-und Botenrollen,rennt auf der ab-
schüssigen Bühne einem Wägelchen mit
Putzmitteln hinterher undverlangt laut-
stark„eine Änderung“,wohl desStückes,
der Abfolgevon Racheund Gegenrache,
des Schicksals, der Geschichte. Ergeht
vonPuppe zu Puppe und spricht einzeln
ihreFunktion im Bau dieser Handlung an
–da, Elektraund Orestesimhinter sten
Bereichder Bühne, die hätten es dochän-
dernkönnen, „das istdochdie nächste Ge-
neration“, und seineAufgeregtheitkon-
trastiertschön mit denreglosen Mienen
der Puppen.
Seiner eigentlichenAufgabe, die Büh-
ne putzendvonden vielen Blutflecken zu
befreien,kommt er nur sehr unvollkom-
men nach, es hatkeinen Sinn, denn nach
dem alten Blut wirdwieder neueskom-
men, fallsesd ennnicht dochdie herbeige-
flehte„Änderung“ gibt.
All dies macht klar,dassman es bei der
vonJan-Christoph Gockel(Regie) und
MarionTiedtke(Dramaturgie) eingerich-
tete n„Orestie“ mit einemStückzutun
hat, dessen Chronologie aufgelöstund zy-
klischverstanden ist: Das Blut istschon
vorden Morden anAgamemnon undKas-
sandra, Klytaimestra und Aigisthos da.
Genau das istjader Kern der Blutrache,
oder,wie es imStückheißt:„Die Totentö-
tendie Lebenden“, aber dieFrage, die Ai-
schylos genausostellt wie seine moder-
nen Interpreten, is teben, ob das unaus-
weichlich so sein muss.
So wie dieverschleppte Trojanerprin-
zessinKassandraebenfalls allesvorher
weiß, sogar ihren eigenengewaltsamen
Tod, wasihr hier allerdings nicht kraftih-
rerSehergabe of fenbar wird, also alsgött-
liche Gnade oder Fluch, sondernals Ein-
flüsterung seitens der Klytaimestra-Pup-
pe. Sieben der Schauspieler führen das
kleine Double desAgamemnon instödli-
cheBadehaus,während derreale König
vonArgos die Puppe, die seinegeopfer te
Tochter Iphigenie darstellt, in den Armen
hält, also seinem eigenen Gang insVer-
derben zusieht und den Grund dafürvor-
weist. „Für Blutrache drückenSie die 5“,
wirdeingespielt.Was in diesem ersten
Teil konsequent und wuchtig auf der–bis
auf den Sarkophag amvorderen Rand –
leergeräumten Bühne daherkommt, zerfa-
sertdann im zweitenTeil und soll das
wohl auch: Jetzt sind dieKostüme schrill,
besondersdie desRächersOrestes, das
Bühnenbild istein bisschen aufgegebener
Rummelplatz undetwasheruntergekom-
menes Büro, in das seit Jahren niemand
mehrgeko mmen ist, undweil es diegan-
ze Zeit glitzerndeFetzen regnet, istauch
die Schneekugel nichtweit.
Orestes, gespielt vonSamuel Simon
mit großemKörpereinsatz,wälzt sic hmit
der wiedergefundenen SchwesterElektra
herum, holt sichKraft in derUnterwelt
bei seinemgemordetenVater ,und als er
dann endlichAigisthos und Klytaimestra
in den Hades–hier eine ArtU-Bahn-
Bank mit namentlichzugewiesenen Sitz-
plätzen–beförderthat, drängen dieTo-
tennicht nur aus einem anderenZugang
wieder ans Licht, sie halten auchihreGe-
sichter an die unvermeidlicheKamerafür
die Projektion an den durchlässigen Büh-
nenvorhang, denn, so heißt es imStück,
das Schlimmste am Totsein istdas Verges-
senwerden. Dafür istdie ewigeU-Bahn-
fahrtein hübsches Bild.
Dassden Urhebernfür diegrässlichen
Erinn yenallerdings nur eine Geiermario-
nett eeingefallen ist, nimmt demStückei-
niges anWucht, und auchdie schließliche
Wendung dieser Gestalten, die sichin
Schutzgottheiten, in Eumenidenverwan-
deln, bleibt daher aus.
An dieStelle deskaum zu überschät-
zendenFortschritts, den dasKassieren
der Blutrache zugunsteneines Gerichts-
verfahrens unter Beteiligung der Bevölke-
rung bedeutet,steht hier am Ende ein
matterRückblickaus demAbstand von
Jahrmillionen auf eine erloschene Erde
und eine untergegangene Menschheit,
der aus einer höherenWarteeine wenig
avancierte Kultur zugesprochen wird.
Man hätteineiner Zeit, in der sichder
Rechtsstaat, das demokratische Bürger-
tum, die Zivilgesellschaftsoherausgefor-
dertsieht, kaum ein aktuelleresStückfin-
den können als dieses antike, das nach
dem Unterschied vonGerechtigkeit und
Rachefragt und danach, wie diejenigen,
die in diesem Prozessals Erinnyenunter-
liegen, trotzdem und wohl gegenalle
Wahrscheinlichkeit als Eumeniden einge-
bundenwerden können. So dargeboten
wirkt die „Orestie“ wie eineverpasste
Chance. TILMANSPRECKELSEN
Rachesuchen istwie Aaserspähen: DerVogelhängt anFäden und will Blut sehen. FotoThomasAurin
Abgelehnt, doch
schaddrum
Wiedie britischeZeitung „The Guar-
dian“ meldet, hat einekurz vorder
Veröffentlichungstehende Untersu-
chung der BrownUniversity um den
Datenanalytiker Thomas Marlowim
amerikanischen Providence ergeben,
dassbis zu einViertelaller Tweets
zum Thema „menschengemachter
Klimawandel“ oder zu politischen
Entscheidungen, die auf Akzeptanz
oder LeugnungvonAussagen zur Sa-
chebasieren,vonsogenannten Bots,
also vonComputerprogrammen, er-
zeugtwerden, die bekanntlich nicht
denkenkönnen und daher auchnicht
wissen,wassie tun. F.A.Z.
Den Chor hatman dafür gestrichen
UnterPuppenzwang: Die „Orestie“vonAischylos im SchauspielFrankfurt
DasParla ment hatdie
Organspendeunlängst
im Sinneder
erweiter ten
Zustimmungslösung
geregelt.Aberwas
wurdedamit eigentlich
genau entschieden?
Eine Stellungnahme
post festum.
VonUlric hSchrot hund
WilhelmVossenkuhl
Automati sch
KlimadebatteimNetz