D
ie ersten 19 Artikel des
Grundgesetzes beschäfti-
gen sich mit den „Grund-
rechten“, die jedem Bür-
ger des Landes zustehen.
Jeder hat das Recht auf die freie Entfal-
tung seiner Persönlichkeit. Jeder hat
das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Alle Menschen sind vor
dem Gesetz gleich. Niemand darf gegen
sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der
Waffe gezwungen werden. Jeder hat das
Recht, seine Meinung in Wort, Schrift
und Bild frei zu äußern und zu verbrei-
ten und sich aus allgemein zugänglichen
Quellen ungehindert zu unterrichten.
Ehe und Familie stehen unter dem
besonderen Schutz der staatlichen Ord-
nung. Alle Deutschen haben das Recht,
sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis
friedlich und ohne Waffen zu versam-
meln. Die deutsche Staatsangehörigkeit
darf nicht entzogen werden. Kein Deut-
scher darf an das Ausland ausgeliefert
werden. Politisch Verfolgte genießen
Asylrecht. Das Recht auf Arbeit, wie es
gelegentlich eingefordert wird, gehört
nicht zu den Grundrechten. Allerdings
haben alle Deutschen das Recht, „Beruf,
Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei
zu wählen“.
Die Wohnung ist „unverletzlich“,
ebenso das Briefgeheimnis sowie das
Post- und Fernmeldegeheimnis, es
gibt aber kein Grundrecht auf preis-
wertes Wohnen oder eine pünktliche
Postzustellung. Ebenso fehlt ein
Grundrecht auf gutes Wetter im Ur-
laub oder eine weiße Weihnacht. Es
heißt zwar „Alle Deutschen genießen
Freizügigkeit im ganzen Bundesge-
biet“, wie sie aber die Freizügigkeit
ausleben wollen, bleibt ungesagt – zu
Fuß, mit dem Rad, dem Auto, einem
Skateboard oder einem Massenver-
kehrsmittel. Von einem „Recht auf
Mobilität“ ist im Grundgesetz keine
Rede. Dabei ist Fortbewegung sehr
wohl ein Menschenrecht.
Kurz nach dem Krieg war nicht ab-
sehbar, dass Mobilität eines Tages die
Mutter aller Fragen werden würde, in
der Wirtschaft, wo Güter „just in time“
geliefert werden, in der Arbeitswelt und
im Rahmen der „im Rahmen der „im Rahmen der „Work-Life-BalanceWork-Life-Balance“,
wenn ein Arbeitnehmer oder eine Ar-
beitnehmerin auf dem Weg vom Ar-
beitsplatz nach Hause noch ein Yogas-
tudio oder einen Dönerimbiss besuchen
möchte. Und so wurden „autogerechte
Städte“ gebaut. Straßenplaner voll-
endeten das Werk der Fliegerbomben.
Platz gab es genug, man konnte jedes
Ziel mit dem Auto ansteuern. Noch heu-
te findet man mit ein wenig Glück einen
Parkplatz mitten auf dem Ku‘damm; in
Paris, Rom oder London käme so etwas
einem Sechser im Lotto gleich.
Nur – mit jedem Auto, das neu zuge-
lassen wurde, wurde auch das Autofah-
ren mühsamer. Wie in einem Zug, der
von Station zu Station voller wird. Ir-
gendwann ist die Schmerzgrenze er-
reicht, und jeder, der im Gang stehen
muss, wünscht sich, er hätte lieber sein
Auto genommen, Stau hin oder her.
Entspannt und zufrieden sehen nur die
Reisenden in den Werbespots der
Deutschen Bahnaus, die auf das Ver-
sprechen der Bahn, sie würden klima-
neutral und umweltfreundlich beför-
dert, hereingefallen sind. Das Auto hat
sich in einer erstaunlich kurzen Zeit
von einem Kult- in ein Hassobjekt ver-
wandelt. Autos abzufackeln ist zwar
immer noch strafbar, im allgemeinen
Bewusstsein aber kaum schlimmer als
Ladendiebstahl. Die Delikte werden
statistisch erfasst, aber kaum noch ver-
folgt. Es sind zu viele. Autos sind Um-
weltkiller, und wer ein Auto fährt, der
leistet einen Beitrag zur Zerstörung
unseres Planeten.
Olaf Gersemann hat vor Kurzem an
dieser Stelle geschrieben, Mobilität sei
„Menschen derart wichtig, dass sie in
vielen Ländern der Welt nicht besteu-
ert, sondern – ganz im Gegenteil – sub-
ventioniert wird“. Und wo immer Re-
gierungen versuchen würden, Mobili-
tät einzuschränken oder zu verteuern,
gingen die Menschen auf die Straße,
um ihr Recht auf Mobilität zu verteidi-
gen, in Frankreich, Chile, sogar im
wohlstandsgesättigten Kanada. Bei uns
ist es umgekehrt. Preiserhöhungen für
Benzin und Diesel werden ohne Mur-
ren hingenommen. Denn sie dienen ei-
nem guten Zweck, dem Klima- und
Umweltschutz. Deswegen muss nicht
nur das Tanken teurer werden, es soll
auch „die Infrastruktur“ ausgebaut
werden. Dabei weiß jeder, wie lange es
dauert, ein paar Kilometer Autobahn
auszubessern oder eine marode Brücke
zu sanieren. Derweil der Verkehr weit-
räumig umgeleitet wird und noch mehr
Staus produziert. Es ist eine Katze, die
sich beim Spielen in den Schwanz
beißt. Ein weiteres beliebtes Placebo
ist der Ruf nach einem kostenlosen
Personennahverkehr. Die Stadt Augs-
burg brachte sich vor ein paar Wochen
bundesweit ins Gespräch, als sie an-
kündigte, die Bürgerinnen und Bürger
könnten ab sofort Busse und Bahnen in
der City gratis benutzen. Dabei gibt es
keine kommunale Dienstleistung, die
kostenlos wäre. Das Personal will be-
zahlt, das Material gewartet werden.
Die anfallenden Kosten werden entwe-
der aus dem Steueraufkommen begli-
chen oder über eine Nutzungsgebühr,
zum Beispiel einen Fahrschein.
Aber so weit denkt der Kunde nicht,
er freut sich, dass er 1,50 Euro gespart
hat, ohne zu merken, dass ihm das Geld
an anderer Stelle abgesaugt wird. Im
Falle der kostenlosen Beförderung in
der Augsburger City handelte es sich
zudem um ein Sonderangebot von be-
grenzter Reichweite. Es galt nur für ei-
nen kleinen Teil der Innenstadt, in dem
man ohnehin zu Fuß am schnellsten vo-
rankommt. Gleich hinter dem Bahnhof,
wo die Abstände zwischen den Halte-
punkten länger werden, hörte es auf.
Ginge es nach den bayerischen Grü-
nen, sollte „jedes Dorf in Bayern ab 200
Einwohnern zwischen fünf Uhr und
Mitternacht mit öffentlichen Verkehrs-
mitteln erreichbar sein“. Damit Jugend-
liche „auch im kleinsten Rhön- oder
Spessart-Dorf am Nachmittag oder frü-
hen Abend ... zum Fußballtraining oder
zur Musikprobe in den Nachbarort
kommen“ und „Senioren ohne Auto
Arztbesuche oder Einkäufe erledigen
können“. Das sei nicht nur ein Beitrag
zu mehr Klimaschutz, sondern auch ei-
ne ‚Gerechtigkeitsfrage‘“. Denn: „Nicht
jede Familie könne sich einen Zweitwa-
gen leisten“. Der grüne Romantizismus
ist so grenzenlos wie der Glaube an den
lieben Gott, der auch ein Bayer ist. Man
muss sich nur einmal die Karte von Bay-
ern, dem nach Fläche größten Bundes-
land ansehen. Dann ahnt man, was es
kosten würde, jedes Dorf ab 200 Ein-
wohnern so zu vernetzen, dass es zwi-
schen fünf Uhr früh und Mitternacht
mit öffentlichen Verkehrsmitteln er-
reichbar ist.
Billiger und einfacher wäre es, jedem
Jugendlichen ein Moped und jedem Se-
nior einen Elektro-Smart zu schenken,
damit jeder zur Musikprobe fahren oder
einen Arzt besuchen kann, sollte es
noch einen im Nachbarort geben. Was
beim Nahverkehr wichtig ist, aber we-
nig beachtet wird: Die Bahnen und Bus-
se sind am frühen Morgen und am spä-
ten Nachmittag voll, außerhalb der
Rushhour fahren sie meistens leer. Die
Verkehrsbetriebe müssen Kapazitäten
vorhalten. Eine unglaubliche Vergeu-
dung von Ressourcen, als würde man im
eigenen Bad von fünf Uhr morgens bis
Mitternacht das Wasser laufen lassen,
nur weil man zweimal am Tag duschen
möchte. Die Verkehrswende, wie wir sie
derzeit erleben, ist ein Salto rückwärts,
die Wiederentdeckung des Fahrrads als
Massenverkehrsmittel.
Fahrräder entlasten nicht den Ver-
kehr, sie sind ein Verkehrshindernis.
Das kann man unter anderem sehr an-
schaulich in der Greifswalder Straße in
Berlin erleben, die von Berlin-Mitte
über den Prenzlauer Berg in den Nord-
osten nach Weißensee führt. Eine breite
Ausfallstraße, die neu vermessen wur-
de. Stadtauswärts wie stadteinwärts
gibt es eine breite Radspur. Theoretisch
bleiben für Autos je zwei Spuren übrig.
Aber da gibt es noch die vielen Liefer-
wagen, die irgendwo halten müssen, um
zu entladen. Daran haben die Verkehrs-
planer nicht gedacht. Die Lieferwagen
stehen auf der rechten Autospur, mitten
auf der Straße. Für den fließenden Ver-
kehr bleibt eine Spur übrig.
So ist der Stau vorprogrammiert. Et-
was Ähnliches steht der Kantstraße in
Charlottenburg bevor. Auch die soll
„fahrradfreundlich“ umgebaut werden.
Die Radler bekommen eine eigene Spur,
die „durch geeignete bauliche Maßnah-
men von der übrigen Fahrbahntrasse
abgetrennt“ werden soll. Auf diese Wei-
se wird auch das Parken in der Kantstra-
ße unmöglich gemacht. Immerhin, den
Autofahrern bleibt eine durch geeignete
bauliche Maßnahmen, sprich: Betonpol-
ler, abgetrennte Spur übrig.
Wenn es Wahnsinn ist, so hat es doch
System. Festgezurrt wurde es im Berli-
ner Mobilitätsgesetz vom Juli 2018.
„Zweck des Gesetzes“, so heißt es in Pa-
ragraf 1, „ist die Bewahrung und Weiter-
entwicklung eines auf die Mobilitätsbe-
dürfnisse in Stadt und Umland ausge-
richteten und dabei stadt-, umwelt-, so-
zial- sowie klimaverträglich ausgestalte-
ten, sicheren, barrierefreien Verkehrs-
systems als Beitrag zur individuellen
Lebensgestaltung und zur inklusiven
Lebensraumgestaltung sowie als unver-
zichtbarer Bestandteil einer funktionie-
renden zukunftsfähigen Metropolregi-
on.“ Wer es schafft, diesen Satz auswen-
dig zu lernen, wird sofort zum Berliner
Ehrenbürger ernannt.
Mobilität ist ein Menschenrecht. Das
Rad wurde nicht erfunden, um als Hula-
Hoop-Reifen in die Geschichte einzuge-
hen. Was uns heute als moderne Mobili-
tät angeboten wird, ist ein Programm
der Bevormundung und der Umvertei-
lung von Ressourcen zugunsten einer
Ideologie der Selbstbeschneidung.
Aber: Das Rennen ist noch nicht gelau-
fen. In Coronazeiten werden die Karten
neu gemischt. Das eigene Auto, dieser
Faradaykäfig auf Rädern, hält auch Vi-
ren auf Distanz.
Menschenrecht
auf MOBILITÄTOBILITÄTOBILITÄT
Was heute als moderne Mobilität angeboten
wird, ist ein einziges Bevormundungs-
und Umverteilungsprogramm, schreibt
Henryk M. Broder. Doch das Rad wurde
nicht erfunden, um als Hulla-Hoop-Reifen in
die Geschichte einzugehen
MARTIN U. K. LENGEMANN/ WELT
Die vermeintliche
Zukunft der Mobilität
lässt unseren Autor
Henryk M. Broder
innehalten. So kann es
nicht weitergehen
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07.03.20 Samstag,7.März2020DWBE-HP
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